Igby Wege und Sackgassen
Kultur
Noch ein Regiedebut eines Schauspielers. Nach George Clooneys „Confessions of a Dangerous Mind“ inszenierte Burr Steers, der u.a. in „The Last Days of Disco“ und „Pulp Fiction“ spielte, die Geschichte des 17-jährigen Igby, der seinen Namen dem seines Teddybären verdankt.
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12. April 2023
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Korrektur
Igby ist eine jener Erwachsen-Werden-Geschichten, die es schon oft im Kino zu sehen gab, und doch andersartig. „Igby“ ist eher eine Zustandsbeschreibung, denn ein handlungsorientiertes Drama, geprägt von Wortwitz, Psychologie und skurrilen Momenten und Figuren, ein Drama, das eine Art Kreis schliesst, an dessen Ausgangs- und Endpunkt Igby, nachdem er die Niederungen eines bedeutungslosen Lebens hinter sich gelassen hat, auf die Suche geht – fernab der Versuche seiner Mutter oder anderer, ihn in ein Format einzupassen.
Die letzte Möglichkeit, Igby ein solches Format zu verpassen, sieht seine Mutter in einer Militärschule, in die sie den „Zögling“ einweisen lässt. Igbys Vater (Bill Pullman) kann sie davon nicht abhalten, denn Jason Slocumb befindet sich seit Jahren in einer psychiatrischen Klinik. In seinem Schreibtisch hatte Igby als Kind (Rory Culkin) Unmengen fein säuberlich gestapelter Zigaretten gefunden. Jason verzweifelte an seinem Leben, seiner Arbeit und nicht zuletzt an der Beziehung zu Mimi, die allen als eine Art Übermutter und herrschsüchtige Frau erschien. Nur Bruder Oliver fügte sich in das Bild von Mimi und absolviert den für reiche Familien vorgesehenen Werdegang.
Igby flüchtet von der Militärschule – nach New York. Auch sein Patenonkel D. H. (Jeff Goldblum) hat letztlich keine Chance, Igby zu kontrollieren. Der macht seine ersten sexuellen Erfahrungen – er wird verführt von D. H.'s derzeitiger jungen Geliebten Rachel (Amanda Peet), die einen „Freund“ hat, den Künstler Russel (Jared Harris) und in einem von D. H. bezahlten Loft wohnt. Von D. H. bezieht Igby deswegen Prügel. Doch er lernt noch ein anderes Mädchen kennen, die Studentin Sookie (Claire Danes), die so lange mit ihm schläft, bis sie einen gleichaltrigen und ihr ebenbürtigen jungen Mann findet: Igbys Bruder Oliver.
Mimi verfolgt Igby, versucht, ihn vor Erreichen der Volljährigkeit auf das „richtige Gleis“ zu führen – vergeblich, zumal Mimi todkrank ist. Igby pendelt und schwebt, sucht und verliert. Wohin wird er gehen?
Wer ist das – dieser Igby? Ein ins Leben geworfener Mensch, der nie Zeit dafür bekam, weder als Kind, noch jetzt als Heranwachsender, sich um sich selbst zu kümmern und auf die Erwachsenen dabei zählen zu können. Seine Mutter verträgt das Leben ebenso wenig wie sein Vater. Während Mimi ihre inneren Konflikte in Pillen ertränkt, landet der Papa in der Psychiatrie mit dem Stempel „Schizophrenie“. Und Bruder Oliver geht skrupellos und ohne nach rechts oder links zu schauen die Karriereleiter schnurstracks nach oben. Er studiert Wirtschaftswissenschaften, ein Fach, für das Igby das Wort „Neofaschismus“ bereit hält. Oliver sei ein Nachwuchs-Republikaner, und so ganz Unrecht hat Igby damit nicht. Umgekehrt hält sein Bruder Igby für eine Wanze, einen Fehlgriff, das schwarze Schaf in der Familie, das allen nur schadet.
Igby stört das alles herzlich wenig. Er hasst seine Mutter, verachtet seinen Bruder und bemitleidet seinen hilflosen Vater. In New York trifft er auf ähnlich schräge Vögel wie in seiner Familie: seinen Patenonkel D. H., einen erfolgreichen Businessman, der seine Frau Bunny (Celia Weston) nach Strich und Faden betrügt, dessen derzeitige junge Geliebte Rachel, die mit sich selbst nicht zurecht kommt, und schliesslich Sookie, der Igby leid tut, die ihn davon überzeugen will, er müsse langsam festen Boden unter den Füssen bekommen, der Igby als Liebhaber aber letztlich zu jung ist.
Igby verweigert den klassenmässig vorgesehenen und ideologisch entsprechend legitimierten Weg. Er bricht aus, bricht ein und befreit sich, macht sich Luft, kommentiert messerscharf das Verhalten der anderen und weiss trotzdem, dass er selbst sich in einer misslichen Situation befindet.
Steers dekonstruiert diese Art Familie nach Strich und Faden. Liebe als zentrales Moment dieser Familie(nideologie) fehlt fast völlig bei den Slocumbs. Alles ist berechnet, kalkuliert auf einen schrägen Kompromiss zwischen den Versuchen, die jeweilige Labilität zu kompensieren – durch Drogen bei Mimi oder unhinterfragte Karrieresucht bei Oliver –, und den ungeschriebenen Gesetzen des sozialen Aufstiegs in der entsprechenden Klasse. Igby versucht dem zu entkommen; er sucht Liebe, Zuneigung, aber er muss letztendlich feststellen, dass er zunächst einmal sich selbst verorten muss. Am Schluss begibt er sich wieder auf eine Flucht, diesmal allerdings flüchtet er vor allem für sich und nicht vor anderen.
Schon zu Anfang des Films wird deutlich, was Igby nicht will. Oliver und Mimi haben sich darauf verständigt, dass er seiner Mutter Gift verabreicht, um ihr die Qualen des Todeskampfs zu ersparen. Beide tun so, als handle es sich hier um einen alltäglichen, emotionslosen Vorgang, um eine geschäftliche Entscheidung. Igby dagegen wird im Moment des Todes seiner Mutter bewusst, was er in seinem bisherigen Leben vermisst hat.
Ein Regiedebut, das es in sich hat. Steers Film lässt sich sehen. Er zeigt einzelne Bruchstücke eines Lebens – das von Igby und seiner Familie – und setzt sie gekonnt zu einem Gesamtbild zusammen, das genug Stoff für weitere Diskussionen lässt. Der Abgesang auf das karriereorientierte, das Individuum erstickende Familienleitbild ist präzise gesetzt. Die Besetzung des Films ist grossartig, vor allem Kieran Culkin, aber auch Susan Sarandon und Claire Danes spielen überzeugend.
Igby
USA
2002
-97 min.
Regie: Burr Steers
Drehbuch: Burr Steers
Darsteller: Kieran Culkin, Claire Danes, Jeff Goldblum
Produktion: Lisa Tornell, Trish Hofmann, Marco Weber
Musik: Uwe Fahrenkrog-Petersen
Kamera: Wedigo von Schultzendorff
Schnitt: William M. Anderson