Gosford Park Ein beeindruckendes Sittengemälde

Kultur

Altmeister Robert Altman ist immer wieder für eine Überraschung gut. Mit „Gosford Park“ legte er einen Film vor, den ich – um es vorwegzunehmen – für eine seiner gelungensten Werke halte, auch wenn er nicht jedermanns Geschmack sein dürfte.

Die britisch-französische Schauspielerin Kristin Scott Thomas (hier bei der Pressekonferenz an der Berlinale 2017) spielt in dem Film von Robert Altman die Rolle von Sylvia McCordle.
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Die britisch-französische Schauspielerin Kristin Scott Thomas (hier bei der Pressekonferenz an der Berlinale 2017) spielt in dem Film von Robert Altman die Rolle von Sylvia McCordle. Foto: Maximilian Bühn (CC BY-SA 4.0 cropped)

27. November 2020
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„Gosford Park“ fand u.a. folgende Attribute: „Gosford Park“ „das wohl klassenkämpferischste Werk seiner Karriere“ („Die Zeit“), für den „Schnitt“ ist der Film „hochintelligent und strunzlangweilig“, für „filmtext.com“ ist der Streifen „leicht ermüdend, aber auch erleichternd“ und die taz erinnert der Film gar an „Das Haus am Eaton Place“. Der „Tagesspiegel“ sieht in „Gosford Park“ ein geradezu „logistisches Meisterstück“, in dem sich „die Lebensfäden des über 30-köpfigen Ensembles (verknüpfen)“, „elegant driftet die Kamera an Gesprächen und Personenkonstellationen vorbei, keiner bleibt zu lange im Bild, um das Interesse zu stark auch sich zu fokussieren“.

Im November 1932 findet in einer Grafschaft in England, in Gosford Park, eine Jagdparty statt, zu der Sir William McCordle (Michael Gambon) und seine wesentlich jüngere Frau Lady Sylvia (Kristin Scott Thomas) eingeladen haben. Nach und nach trudeln die Gäste ein: Sir Williams vornehme und vornehm tuende Schwester Constance, Countess of Trentham (Maggie Smith in einer exzellenten Rolle), immer für Zynismus und Niedertracht zu haben und vor allem darauf bedacht, dass die lebenslange finanzielle Zuwendung durch Sir William auch weiterhin gezahlt wird, samt Kammerzofe Mary (Kelly Macdonald); Sylvias jüngere Schwester Louisa (Geraldine Somerville), die mit ihrer Schwester Karten gespielt hatte, um zu entscheiden, wer von beiden Sir William heiraten dürfe, und ihr Mann Raymond (Charles Dance), zusammen Lady und Lord Stockbridge; die junge Lady Lavinia (Natasha Wightman) und ihr Mann, der ruinierte Ex-Lieutenant Anthony Meredith (Tom Hollander).

Hinzu stossen weiterhin aus dem Bekanntenkreis von Sir William das zerstrittene Ehepaar Mabel und Freddie Nesbitt (Claudie Blakley und James Wilby) sowie der in Hollywood berühmt gewordene Schauspieler Ivor Novello (Jeremy Northam), der den schwulen Filmproduzenten Morris Weissman (Bob Balaban) mitgebracht hat. Der wiederum hat auch seinen „Kammerdiener“ bei sich, den bisexuellen Henry Denton (Ryan Phillippe), der in Wirklichkeit Schauspieler ist. Schliesslich trifft verspätet noch der junge Lord Rupert Standish (Laurence Fox) ein, der hinter Sir Williams und Lady Sylvias Tochter Isobel (Camilla Rutherford) her ist und seinen Freund Jeremy Blond (Trent Ford) im Schlepptau mitgebracht hat.

Alle Herrschaften haben natürlich ihr entsprechendes Personal mitgebracht, und im Haus der McCordles wimmelt es nur so von Köchinnen, Dienern, Zofen und Zimmermädchen. Die angereisten Domestiken werden von der Haushälterin Mrs. Wilson (Helen Mirren) auf ihre Zimmer verteilt und eingewiesen. Mrs. Wilson regiert die Zimmermädchen, während Mrs. Croft (Eileen Atkins) die Küche unter sich hat und Butler Jennings (Alan Bates) über allem Personal thront. Kammerzofe Mary findet ihr Quartier bei dem Hausmädchen Elsie (Emily Watson), die ein offiziell heimliches, inoffiziell aber jedem bekanntes Verhältnis zum Hausherrn Sir William hat, der schon in früheren Jahren, als er noch seine Fabrik leitete, als Schürzenjäger bekannt war und etliche Mitglieder seines weiblichen Personals geschwängert hatte.

Zum angereisten Personal gehört auch Robert Parks (Clive Owen), der die Aufmerksamkeit von Mrs. Wilson auf sich zieht, über seine Vergangenheit aber – im Unterschied zum restlichen Personal – nichts erzählt.

Nachdem sich so alle eingefunden haben, das abendliche Diner beendet ist, Lady Sylvia den vermeintlichen Diener Henry Denton unmissverständlich des nachts auf ihr Zimmer bestellt hat, Mary beim Waschen einer Bluse in der Waschküche Sir William auf einer der Köchinnen liegend beobachtet, Produzent Weissman seine schier endlosen Telefonate mit Hollywood beendet hat und einige der adligen und unadligen Herrschaften ihre Streitigkeiten vorübergehend erledigt haben, trifft man sich am nächsten Morgen zur Jagd. Doch schon am Abend kündigt sich das Unheil an: Als Lady Sylvia vor versammelten Gästen eine abfällige Bemerkung über Sir William macht, rutscht Hausmädchen Elsie ein Widerspruch gegen Lady Sylvia heraus. Ihre Kündigung ist nur eine Frage von Stunden.

Sir William zieht sich – mehr erbost über seine Frau als Elsie – in seine Bibliothek zurück. Wenig später ist er tot, ermordet. Inspektor Thompson (Stephen Fry) nimmt die Ermittlungen auf und muss feststellen, dass Sir William nicht durch das Küchenmesser ermordet wurde, das in seiner Brust steckt, sondern vorher vergiftet worden war. Die Zahl der möglichen Täter ist gross, denn viele der Anwesenden haben ein Motiv ...

Eine komplizierte Geschichte, die Robert Altman uns auftischt. Die erste halbe Stunde des Films werden die Personen von „Gosford Park“ vorgestellt, in einer sicherlich Aufmerksamkeit erfordernden, aber umso exzellenteren Art und Weise. Altman führt uns langsam, aber konsequent und stilsicher durch ein Labyrinth von Personen, die scheinbar nur durch ihre verwandtschaftlichen oder Abhängigkeitsverhältnisse miteinander verknüpft sind.

In einem Bilderrausch wimmeln die Figuren durch das Haus im „Gosford Park“ und es ist mehr als erstaunlich, wie Altman es gelingt, den Charakter, die Probleme, die Konflikte all dieser Personen – trotz teilweise kurzer, geradezu „abgekürzter“ Dialoge, zu demonstrieren. Allein dies ist schon eine dramaturgische Meisterleistung. Die Atmosphäre erinnert an die klassische britische Kriminalkomödie à la Agatha Christie.

Doch Altman definiert das Genre anders und neuartig. Das Konglomerat aus Selbstbezogenheit, Snobismus, Exzentrizität, Klassendünkel, Ausbeutung, Unterwürfigkeit, verbunden mit Hass, Wut, Feigheit, Geldgier, Sehnsüchten, Liebe erweist sich – wenn man die Lösung des „Falls“ zum Schluss kennt – als Trugbild, als falscher Schein, oder besser unvollkommener Eindruck der wirklichen Verhältnisse und ihrer Geschichte.

Die Figuren sind mehr, als sie scheinen. Ihre Beziehungen gehen wesentlich tiefer, als es aussieht. Selbst Inspektor Thompson, der wie ein Monsieur Hulot daherkommt, ist mehr als unser erster Eindruck: nämlich weniger. Auch Thompson lebt im Dünkel seiner Position, legt mehr Wert darauf, dass jeder seinen Namen kennt, während sein „Diener“ Constable Dexter (Ron Webster) Thompsons Aufmerksamkeit vergeblich auf wirkliche Spuren (Scherben einer Tasse am Tatort, Fingerabdrücke, Fussspuren) lenken will.

Altman beweist seinen scharfen Verstand, seinen tiefen Blick und sein geschultes Ohr nicht nur im Hinblick auf den Snobismus der Adelsklasse, sondern auch für die komplexen Verstrickungen einer Gesellschaft, in der sich unter der Oberfläche Dinge auftun, die dieses soziale Geflecht einerseits wesentlich komplizierter erscheinen lassen, aber andererseits auch in gewissen Sinne einfacher: Die Charaktere – so sehr sie auch von Klassenzugehörigkeit geprägt sind oder scheinen – erweisen sich upstairs wie downstairs als sehr ähnlich, vergleichbar, nur, dass die geadelten Teile des sozialen Zusammenhangs (immerhin) durch Macht und Geld zumindest versuchen, die Konflikte im Griff zu halten bzw. die Verfehlungen der Vergangenheit nicht hochkommen zu lassen – allerdings vergeblich.

Macht, Geld, Sex – das scheint das einzige, was in dieser Gesellschaft zählt. Doch die Brüchigkeit dieser sozialen Konstruktion wird in „Gosford Park“ ebenso deutlich. Als Constance ihre ganze Verachtung gegenüber dem Schauspieler Novello, dessen letzter Film ein Reinfall war, mit offensichtlich vorgetäuschter Sympathie in die Worte fasst: „It must be rather disappointing when something flops like that“, fühlt der sich zwar leicht auf den Schlips getreten, doch seinem Gesicht wiederum ist deutlich zu entnehmen: Was willst Du von mir? Du kannst mich nicht? Wer bist Du schon? „Gosford Park“ zeugt auch vom Untergang des Empire.

Altman beobachtet, scharf und ungeschminkt, und wenn es einen Helden in diesem Film gibt – bei allen (durchaus auch mit einem ordentlichen Schuss Ironie und Witz versehenen) Intrigen, verdrängten, unterdrückten Geheimnissen, bei allem Leid – dann ist es sicherlich eine Heldin: die junge Kammerzofe Mary Maceachran, die – noch nicht lange in den Diensten Constance Trenthams – den Mord aufklären kann. Warum ausgerechnet sie? Sie ist die einzige Unschuldige in dem Gewirr, die Eva vor dem Biss in den Apfel, wenn man so will, und darüber hinaus hochintelligent.

Sie ist die Unschuldige, die die Schuld erkennt, ohne selbst schuldig zu werden. Ich wage zu behaupten, dass Mary das Auge Altmans ist, das uns durch das Labyrinth führt. Mary ist nicht die Unschuld vom Lande. Sie ist diejenige, die den Kontext im Hause durchschauen kann, weil sie hinschauen und kombinieren kann, nicht so sehr in einem kriminalistischen Sinn, sondern weit mehr in einem sozialen Sinn. Sie ist Teil des Netzes, aber sie kann über dieses Netz hinaus blicken und ist vor allem ehrlich – sich selbst und anderen gegenüber. Der Kriminalist, Inspektor Thompson, versagt, Mary nicht.

Altmans Sittengemälde ist böse, bissig, aber nicht bösartig. Er verurteilt nicht. „Gosford Park“ ist kein Lehrstück im Sinne einer Moralfibel. Altman zeigt Rache, eine Rache, die Genugtuung ist, aber auch ein Verbrechen bestraft, das durch die Mechanismen der Gesellschaft ansonsten nie bestraft würde. Altman begreift Macht nicht so sehr als Mittel einer herrschenden Klasse, sondern – im Foucaltschen Sinne – eher als das Zentrum, um das sich eine Gesellschaft gruppiert.

Foucaults Erwägungen gründen sich auf ein Verständnis von Macht, das es ablehnt, Macht als etwas zu begreifen, was jemandem „gehört“, etwa einer herrschenden Klasse. Macht sei eher als Gesamtwirkung der strategischen Positionen einer solchen Klasse zu verstehen, „welche durch die Position der Beherrschten offenbart und gelegentlich erneuert wird“ (1).

So versteht Foucault auch Widerstand nicht als etwas ausserhalb der Macht liegendes, nicht zu ihr gehöriges Gegenüber, sondern als die andere Seite der Machtbeziehungen (2). Macht ist für ihn keine Institution, sondern der Name, „den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (3). „Andererseits richtet sich diese Macht nicht einfach als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ›sie nicht haben‹; sie sind ja von der Macht eingesetzt, die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch; sie stützt sich auf sie, ebenso wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, dass sie von der Macht durchdrungen sind (4).

Genau hier liegt die „Lösung“ des „Kriminalfalls“ in „Gosford Park“. Mary ist das junge Pendant zu Mrs. Wilson, die an einer Stelle des Films sagt, dass eine gute Bedienstete immer im voraus weiss, was zu tun ist, bevor es die Herrschaften selbst überhaupt wissen. Dieser Satz erweist sich als tragischer, als er zunächst klingt.

Altman tischt uns ein – übrigens von durchweg exzellenten Schauspielern durchsetztes – Drama auf, das sensibel und scharf den Blick in einen sozialen Kontext wirft, wie es kaum besser möglich erscheint. Die Kamera von Andrew Dunn nimmt den Zuschauer regelrecht mit auf diese dramatische Reise durch die Zimmer eines Hauses, in der sich eine ungeahnte Tragik offenbart.

Ulrich Behrens

Fussnoten:

(1) Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 38.

(2) Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1992 (6. Aufl.), S. 116 ff.

(3) Ebd. S. 114.

(4) Foucault (s. Anm. 1), S. 38.

Gosford Park

USA

2001

-

137 min.

Regie: Robert Altman

Drehbuch: Julian Fellowes

Darsteller: Maggie Smith, Kristin Scott Thomas, Michael Gambon

Produktion: Robert Altman, Bob Balaban, David Levy

Musik: Patrick Doyle

Kamera: Andrew Dunn

Schnitt: Tim Squyres