Fontane Effi Briest „Ein zu weites Feld“

Kultur

Theodor Fontane (1819-1898) gehört nicht nur zu den herausragenden Erzählern der deutschen und der Weltliteratur; sein „poetischer Realismus“ und seine differenzierte Beobachtungsgabe führten ihn über die detaillierte, oft kritische Beschreibung von Personen, ihrem Verhalten, ihrer Ausdrucksweise, ihrer Umgebung usw. zu einer tiefgehenden, oftmals radikalen Kritik gesellschaftlicher Konventionen.

Figurenübersicht zu Fontanes «Effi Briest».
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Figurenübersicht zu Fontanes «Effi Briest». Foto: Patrick (PD)

27. Juli 2019
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Dabei spielt die in seinen Romanen immer wieder deutlich bemerkbare Liebe zu seiner Heimat (Neuruppin), der Mark Brandenburg, und ihren Menschen eine besondere Bedeutung. Denn sie „verhinderte“ sozusagen, dass sich in Fontanes Kritik der sozialen Konventionen Feindseligkeit einschlich. Fontane bleibt trotz allem seinen Protagonisten gegenüber immer verbindlich.

Dies mag ein Grund für Rainer Werner Fassbinder gewesen sein, sich 1974 Fontanes Roman „Effi Briest“ anzunehmen. Fassbinder wollte nicht einfach einen Roman adaptieren, eine Geschichte erzählen, sondern versuchen, sie so zu erzählen, dass Fontanes Sicht der damaligen Zeit – wir befinden uns im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Mark Brandenburg – möglichst weitgehend zum Ausdruck kommt.

Der in Schwarz-Weiss gedrehte Film erzählt die Geschichte der 17jährigen Effi Briest (Hanna Schygulla), die in Hohen-Cremmen bei ihren Eltern (Lilo Pempeit, Herbert Steinmetz) aufwächst und mit dem Landrat des Kreises Kessin südöstlich von Rostock, dem mehr als 20 Jahre älteren Baron Geert von Instetten (Wolfgang Schenck), verheiratet werden soll. Die junge Effi, eine lebenslustige Frau, die etwas vom Leben erwartet, willigt in die Ehe mit Instetten ein, weil der Baron gut und nachsichtig sei, auch wenn er als Mann von Prinzipien keine Leidenschaft entfalte und eher kühl, zugeknöpft und allzu ernst sei.

Das Paar zieht nach Kessin, und Effi betritt eine Welt der Langeweile, der Distanz und der Fremdheit. Johanna (Irm Hermann), der Hausangestellte des Barons, ist die Distanz zu Effi besonders deutlich anzumerken. Aber auch die Bekannten des Barons wertet Effi eher als mittelmässige Menschen ohne jegliche Besonderheiten, die bei ihr keine Neugier wecken können. Selbst der Sängerin Marietta (Barbara Valentin) muss Effi konstatieren, dass sie beim Singen so gefasst und sicher wirke.

Nur Roswitha (Ursula Strätz), eine Dienstmagd, die Effi kennenlernt und als Kindermädchen einstellt, da sie inzwischen schwanger ist, scheint mehr von der Welt zu kennen und ihr Leben hier und da zu geniessen, etwa durch eine Liaison mit dem verheirateten Kutscher des Barons, und den Konventionen, wann es geht, ein Schnippchen zu schlagen. Roswitha war vor langer Zeit von ihrem Vater gezüchtigt worden, weil sie ein uneheliches Kind erwartete.

Effie hingegen wird in der Einsamkeit des Lebens in Kessin von Ängsten und Alpträumen geplagt; selbst ein längst verstorbener Chinese wird für Effi zu einem Spuk, der sie nicht mehr los lässt. Sie hört Geräusche. ... Bis ...

„Dass Instetten sich seinen Spuk parat hielt,
um ein nicht ganz gewöhnliches Haus
zu bewohnen, das mochte hingehen, das
stimmte zu seinem Hange, sich von der
grossen Menge zu unterscheiden; aber das
andere, dass er den Spuk als Erziehungsmittel
brauchte, das war doch arg und beinahe
beleidigend. Und ‚Erziehungsmittel',
darüber war sie sich klar, sagte nur die
kleinere Hälfte; was Crampas gemeint
hatte, war viel, viel mehr, war eine Art
Angstapparat aus Kalkül. Es fehlte jede
Herzensgüte darin und grenzte schon fast
an Grausamkeit.“
(Fontane: Effi Briest, 17. Kapitel)

... bis Effi eines Tages den jungen Major Crampas (Ulli Lommel), einen alten Bekannten des Barons kennenlernt, der sich ad hoc in die junge Frau verliebt. Der Baron, ein viel beschäftigter Mann, bittet Crampas während seiner längeren Abwesenheiten auf Effi aufzupassen. Und Effi und Crampas verbringen Stunden um Stunden bei gemeinsamen Spaziergängen. Nicht nur das: Als der Major Effis Hand leidenschaftlich küsst, fällt sie in eine angenehme und doch wieder mit Angst verbundene Ohnmacht. Der Major meint bei einem der vielen Gespräch, der Baron setze den Spuk, der Effi immer wieder erfasst, als Erziehungsmittel ein – so, dass die Angst Effi in die Schranken der Konvention verweisen solle.

Ein Jahr sind Effi und der Baron nun verheiratet, als er zum Ministerialrat ernannt wird. Effi schöpft Hoffnung, weil diese Ernennung mit einem Umzug nach Berlin verknüpft ist. Sie nimmt Abschied von Crampas, aber auch von dem Apotheker Gieshübler (Hark Bohm) aus ihrer Heimatstadt Hohen-Cremmen, der ihr immer ein guter Gesprächspartner war.

Effi hat noch immer Angst – aber sie empfindet keine Scham wegen ihrer Schuld angesichts der heimlichen Treffen mit Crampas.

Als der Baron im sechsten Jahr beider Ehe die Briefe, die der Major Effi damals geschrieben hatte, entdeckt, will Instetten Crampas zum Duell fordern – obwohl sein Freund Wüllersdorf ihm zunächst davon abrät ...

„Ich finde es furchtbar, dass Sie recht
haben, aber Sie haben recht. Ich quäle
Sie nicht länger mit meinem ‚Muss es
sein?'. Die Welt ist einmal, wie sie ist,
und die Dinge verlaufen nicht, wie wir
wollen, sondern wie die andern wollen.
Das mit dem ‚Gottesgericht', wie manche
hochtrabend versichern, ist freilich ein
Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser
Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber
wir müssen uns ihm unterwerfen,
solange der Götze gilt.“
(Fontane: Effi Briest, 27. Kapitel,
Wüllersdorf zu Instetten)

Der Baron verstösst Effi, nachdem er Crampas getötet hat. Und auch Effis Eltern wollen ihre Tochter nicht mehr sehen. Effi akzeptiert ihr Schicksal, zieht mit Roswitha – der einzige Mensch, der zu ihr hält – mit dem bisschen Geld, das der Baron ihr gibt, in eine kleine Wohnung. Nur eines will sie: ihre inzwischen zehnjährige Tochter Annie sehen. Effi, die Crampas nicht einmal geliebt hat, akzeptiert ihre von den Konventionen her „abgeleitete“ Schuld. Als Annie sie besucht und Effi sehen muss, wie der Baron das Kind schon in seinem Sinne abgerichtet hat, wird sie krank. Und ein Jahr später – von den Eltern wieder aufgenommen – stirbt sie, nicht ohne Instetten verziehen, ja sein Verhalten gerechtfertigt zu haben – an Schwindsucht. Als ihre Mutter Vater Briest fragt, wer an alldem die Schuld trage, antwortet der alte Mann: „Das ist ein zu weites Feld.“

„Ich habe geglaubt, dass er ein edles
Herz habe, und habe mich immer klein
neben ihm gefühlt; aber jetzt weiss ich,
dass er es ist, er ist klein. Und weil er
klein ist, ist er grausam. Alles, was klein
ist, ist grausam.“
(Fontane: Effi Briest, 33. Kapitel,
Effi über Instetten)

Eine zumeist fast statische Kamera erfasst die Personen als Momentaufnahmen der Konvention. Das Starre im Festgehaltenen wiederholt sich in den Spiegelungen, die Fassbinder allerorten im Film einsetzt. Die Personen „begegnen“ sich über die Spiegelbilder des Gegenüber, was zugleich eine gewisse Distanz zum Ausdruck bringt. Sie manifestiert sie Personifizierungen der Konvention; sie sind nicht (mehr) sie selbst. Schliesslich lösen sich etliche Szenen in weissen Ausblendungen auf – so, als ob die unterschwelligen Konflikte, Ängste, aber eben auch das „Unter-Drücken“ des potentiell Normabweichenden (Effie) durch eine Schneeschicht verborgen werden soll, um die Konvention aufrechtzuerhalten.

Der Erzähler (Fassbinder selbst) und die ab und an eingeblendeten Zwischentexte aus dem Roman heben konzentrierte Aussagen Fontanes hervor. So entsteht ein nahe an Fontanes Text orientiertes Bild einer vielschichtigen und zugleich (er-)drückenden Atmosphäre, in der Effi als Mensch gezeigt wird, der seine Bedürfnisse nach und nach der Konvention opfert. Die Internalisierung der ungeschriebenen Gesetze der bürgerlichen Konvenienz-Ehe, der familiären Tradition, auch im Sinne der Tradierung des sozialen Kodexes, korrelieren mit den zunehmenden Ängsten Effis – nur zeitweise durchbrochen etwa durch die Begegnung mit Crampas oder Roswitha – bis hin zu Krankheit und Tod.

Das „zu weite Feld“, die Unfähigkeit, manchmal auch Unwilligkeit des die Normen internalisierenden Subjekts, die Falschheit, das Neurotische, das wie ein Alp Bedrückende der eigenen Existenz als historisch bedingt zu erkennen (Voraussetzung, um es zu überwinden), bebildert sich sozusagen in der für die Protagonisten nicht sichtbaren Differenz zwischen ihren Konventionen und der sie umgebenden natürlichen Umgebung. Die Bilder sprechen Bände: Wie von Gott gegeben erscheinen die Natur der Mark Brandenburg und die Natur der Menschen und ihres Verhaltens als homogene Einheit, so, als ob sich aus der aussermenschlichen, von Gott gegebenen Natur ergäbe, was sich im Menschen tut und zu tun hat. Dieser Schein wird allerdings immer wieder durchbrochen durch die Ängste und Alpträume Effis und ihren inneren Widerwillen. Wie etwas unsichtbar Quälendes durchschneiden Schuld und Sühne in fast lautloser Weise das konventionsgetränkte Geschehen – und selbst der Baron kann seine Selbstzweifel nur schwer verbergen.

Effi, deren Lebenslust permanent im Korsett der herrschenden Moral auf das Normierte zurecht gestutzt wird, kann den Teufelskreis nicht durchbrechen. Ihr angepasster Verstand und ihre normierte Vernunft obsiegen über ihre zunächst fast ungebändigte Gefühlswelt. Ihr Herz besiegt das Kleinliche, das Kleine, das mit Grausamkeit gepaart ist, wie sie sagt, aber ihr Verstand unterliegt der genormten Vernunft. Dass diese Vernunft ein Fremdkörper, etwas Auferlegtes, Anerzogenes und dann Verinnerlichtes ist, entspricht der äusseren Entfremdung: Sie geht in die Fremde (Kessin), erlebt Fremdes, Äusserliches, Distanzierendes – und doch ist dieses Fremde nur eine Vervollkommnung des Eigenen (ihrer Heimat), weil es dort schon im Keim vorhanden war und zur Blüte gekommen ist, ohne dass es ihr wirklich bewusst gewesen wäre. Ihre Erkrankung ist „nur“ die äussere Reaktion, ihr Tod „nur“ die kapitulierende Rebellion gegen eine kalte, gefühllose Umgebung, der ihr Herz im Innersten widersteht. „Ein zu weites Feld“, um es zu durchschauen, geschweige den zu durchbrechen.

Dass Fassbinder hier nicht „reine Zeitgeschichte“ betreibt, versteht sich im Kontext seiner Filme in deren Gesamtschau von selbst. Denn die Mechanismen, die Fontane im Roman und Fassbinder im Film beschreiben, lassen sich im Fortgang der bürgerlichen Gesellschaft bis in die Gegenwart immer wieder beobachten – wenn auch unter jeweils anderen Voraussetzungen. Fontane beschreibt den Untergang einer (preussischen, vom Adel bestimmten) Welt im Übergang zur Welt einer aufkommenden städtischen Mittelklasse; sein Blick ist nicht der eines Beobachters, der wild auf die im Roman gezeichneten Untergehenden verbal einschlägt, sondern der eines literarischen Analytikers, der im herannahenden, vermuteten, prognostizierten Neuen schon den Keim für neue Konflikte, die nur die alten im neuen Gewand zu sein scheinen, vermutet. Instetten ist in dieser Sicht Protagonist einer untergehenden Welt, aber weder Fontane, noch Fassbinder positionieren ihn als Feindbild einer Geschichte, in der Effi andererseits eine Art Heldin wäre. Ganz ähnlich wie in „Martha“ (1973/74) sind auch die vermeintlichen Heldinnen in ihrem begrenzten Horizont befangen und gefangen und tradieren durch ihre Unterwerfung die Mechanismen der Konvention „auf höherer Ebene“– nur eben, wenn man es in längeren Zeiträumen denkt, durch eine Art Metamorphose der Konvention unter anderen sozialen Bedingungen.

In „Martha“ setzen sich tief verwurzelte und tradierte psychologische Mechanismen, die in der Aussenwelt keine Entsprechung mehr zu finden scheinen, an die Stelle der sichtbaren und ganz offen propagierten Konventionen zur Zeit Effis. Während Martha (Margit Carstensen) durch subtile psychologische Mechanismen ihres Peinigers Helmut Salomon (Karlheinz Böhm) zur Kapitulation als Frau und damit als Mensch getrieben wird, benötigt der Baron lediglich den Spuk und die Angst und den Verweis auf das vermeintlich „Natürliche“ und „Gottgegebene“.

Gerade hier stellen Fontane wie Fassbinder die schwierige Frage nach den Möglichkeiten des Individuums, diese Befangenheit zu durchbrechen. Diese Frage, die verschieden formuliert werden kann, manifestiert sich beispielsweise darin, in welchem Verhältnis Anpassung und Widerstand in einem Menschen zueinander stehen und wo jeweils eins von beiden seine „Berechtigung“ haben könnte.

Die Frage bleibt offen: „ein zu weites Feld“?

Ulrich Behrens

Fontane Effi Briest

Deutschland

1974

-

140 min.

Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder

Darsteller: Hanna Schygulla, Wolfgang Schenck, Karlheinz Böhm

Produktion: Rainer Werner Fassbinder

Musik: Camille Saint-Saëns

Kamera: Dietrich Lohmann, Jürgen Jürges

Schnitt: Thea Eymèsz