Fellinis Satyricon Traumhafte Dekadenz ...

Kultur

Man fühlt sich versetzt in einen Traum, einen Alptraum zumeist, gespielt gleichsam sowohl auf der antiken Bühne eines Amphitheaters, wie auch in Unterwelt, wenn die beiden Studenten Encolpio und Ascilto durch die Gelage und Obszönitäten, frivolen und ekelhaften Schauplätze Roms zur Zeit Neros wandern.

Federico Fellini.
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Federico Fellini. Foto: Count Federico Wardal (CC BY-SA 2.0 cropped)

7. August 2018
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Man wandert mit, wie in einer Galerie von Gemälden, einzelnen Szenen, und manches Mal hatte ich den Eindruck, dass Fellinis Inszenierung, die auf den erhaltenen Fragmenten des satirischen Romans „Satyricon“ des Gaius Petronius (gestorben um 66 n. Chr.) beruht, dem Leidensweg Christi nachempfunden ist, wie er etwa in den so genannten Stationswegen dargestellt wird. Am Ende dieses Leidenwegs aber steht keine Erlösung, keine Wiederauferstehung, keine heilige Dreieinigkeit oder ähnliches.

Die beiden Jünglinge durchwandern ein finsteres Tal, wetteifern um den jungen Sklaven Gitone (Max Born) – Pädophilie spielt eine zentrale Rolle in dieser Zeit –, lernen die verschiedenen Seiten der römischen Gesellschaft kennen, nehmen am Gastmahl des herrschsüchtigen Trimalcione (Mario Romagnoli), der sich mit dem Dichter Eumolpo (Salvo Randone) streitet, und dessen Frau Fortunato (Magali Noël) teil, werden von einem Tyrannen namens Lica (Alain Cuny) gefangen genommen, der später geköpft wird, werden Zeuge des Selbstmordes eines Patrizierehepaares, das vorher seine Sklaven in die Freiheit entlassen hatte. Wie Theseus muss Encolpios gegen den Minotaurus (George Eastman) kämpfen, der sich dann jedoch als Schauspieler entpuppt. Gewalt, Tyrannei, Laster – was anderes scheint es in dieser phantastischen Welt nicht zu geben ...

Fellini zeichnet ein Sittengemälde, das sich von der Vorlage des Petronius sicherlich an vielen Stellen entfernt hat. Man begegnet skurrilen, abscheulichen, manchmal märchenhaften Gestalten, fetten Frauen und noch fetteren männlichen Kolossen, Hermaphroditen, sich Gelagen hingebenden Patriziern, nimmt an fremden Gebräuchen teil, deren Sinn einem unverständlich bleibt. Fellini, der andererseits dem fragmentarischen Charakter der Vorlage des Petronius treu geblieben ist, erzählt nicht, er zeigt, lässt Einblicke zu in unwirkliche Landschaften, eine verborgene Unterwelt, in der schöne Knaben, die den Herrschenden in Rom als sexuelles Futter dienen, ebenso zu sehen sind wie Zwerge und Krüppel, erfolglose Schriftsteller und skrupellose Tyrannen.

Diese Bilderfolge, gepaart mit geheimnisvollen Zeichen und Symbolen, Gebärden und abrupten Szenenwechseln, deutet jedoch nicht so sehr auf deren Ursprünge bei Petronius, der seine Zeit satirisch begleitete und die Emporkömmlinge im Rom Neros einer beissenden und spottenden Kritik unterzog (weswegen er von einem Günstling Neros beschuldigt und dann in den Selbstmord getrieben wurde). „Satyricon“ ähnelt in vielem eher Fellinis „Das süsse Leben“ (1960), in dem er die Dekadenz der römischen Schickeria zeigte. 1969 gedreht, sind die Bezüge in „Satyricon“ zur Gegenwart um 1969 – wenn auch stark verfremdet – doch überdeutlich. Allein der (klassische) Titel „Satyricon“ verweist schon auf zweierlei: zum einen auf die Satyre, Sagengestalten, Wald- und Hügelgeister, halb Mensch, halb Tier, berüchtigt wegen ihrer Bosheit und Lüsternheit, wilde, übermütige Wesen im Gefolge des Dionysos; zum anderen auf Satire.

Von vielen als Zeit des Aufbruchs, gar einer revolutionären neuen Aufklärung und grenzenloser Freiheit verstanden, setzt Fellini – hier, wenn auch in anderen Zusammenhängen und mit anderen Mitteln, Pier Paolo Pasolini ähnlich – der Zügellosigkeit und falsch verstandenen Freiheit visuell umgesetzte Grenzen. Das Betrachten der Bilder und Szenen, Zeichen und Symbole versetzte mich in einen grotesken, ja bizarren Zustand, von Ekel, Neugier, Hinschauen-Wollen und Wegsehen-Müssen zugleich geprägt.

Das Verhalten der Figuren ist nur oberflächlich geprägt von einer grenzenlosen Freiheit, im Grunde von, ja man kann sagen: absoluter Bedeutungslosigkeit. Lust verkommt zum Spielball der Macht, zum Selbstzweck. Die Süsse des süssen Lebens schmeckt modrig. Der Leichengeruch ist permanent. Das Dekadente ist das Obszöne, und dies wiederum verleitet gleichermassen zum Voyeurismus und zur Abscheu. Dadurch vermeidet Fellini, dass der Betrachter den Standpunkt des Urteilens und Verurteilens, der Verachtung und der Arroganz einnehmen kann; man fühlt sich, jedenfalls ab und an, ertappt.

Die letztlich erschreckende Leere des Geschehens ist im Film nicht von dieser Welt, in bezug auf die ausgehenden 60er Jahre aber ein bildreicher und symbolischer Kommentar, sei es zur „freien Liebe“, sei es zur „antiautoritären Erziehung“, sei es zum sich in manchen (politischen) Kreisen der damaligen Zeit breit machenden Standpunkt der Allgemeinsetzung der eigenen Massstäbe, die allesamt an einem Punkt in ihr Gegenteil umschlagen (müssen): in Zwang, Herrschaft, Bevormundung.

Es ist das Traumhafte dieses Films, das die Figuren zu Fleisch und Blut werden lässt. Es waren Fellinis eigene Träume und seine Relation zur Vorlage des Petronius, die diese Bilder generierten, angezogen von der Dekadenz und den Exzessen, die zugleich Neugier und Angst erzeugen und den Zusammenbruch, den sozialen Kollaps dieser Welten vorausnehmen.

Ulrich Behrens

Fellinis Satyricon

Italien

1954

-

129 min.

Regie: Federico Fellini

Drehbuch: Federico Fellini nach einem Roman von Titus Petronius

Darsteller: Martin Potter, Hiram Keller, Max Born

Produktion: Alberto Grimaldi

Musik: Tod Dockstader, Ilhan Mimaroglu, Nino Rota, Andrew Rudin

Kamera: Giuseppe Rotunno

Schnitt: Ruggero Mastroianni