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Exil Der Verlust von Sicherheit

Kultur

Atmosphärisch bis zum Bersten aufgeladen und spürbar unnachgiebig: „Exil“ ist eine cineastische Herausforderung, die gekonnt zweideutig Misstrauen und Identitätsverlust unter dem Hintergrund der Integration porträtiert.

Der deutsche Schauspieler Mišel Matičević spielt in dem Film Exil die Rolle des Pharmaingenieur Xhafer.
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Der deutsche Schauspieler Mišel Matičević spielt in dem Film Exil die Rolle des Pharmaingenieur Xhafer. Foto: ©JCS (CC BY-SA 3.0 cropped)

14. März 2020
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Das Wechselspiel zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung avanciert nicht zuletzt der fantastischen schauspielerischen Leistungen wegen zu einer beeindruckenden Tour de Force des deutschen Films.

Für Xhafer (Mišel Matičević) ist die Lage eindeutig, nicht erst als er eine tote Ratte an der Tür zu seinem Haus vorfindet. Auf der Arbeit hat sich das Kollegium gegen ihn verschworen, sein Mobbingverdacht bestätigt sich immer wieder. Als Drahtzieher des Ganzen hat der aus dem Kosovo stammende Pharmaingenieur seinen Kollegen Urs (Rainer Bock) im Verdacht. Während seine Frau Nora (Sandra Hüller) noch versucht zu beschwichtigen und deeskalativ auf ihn einzuwirken, isoliert sich Xhafer zusehends und gerät in die Fänge einer Spirale aus Misstrauen und Entfremdung, die sich am Ende sogar auf das einst stabile Familienleben auswirken.

Dass Integration, das Gefühl von Heimat sowie Zugehörigkeit und in dem Zuge auch Identität ein breit gefächertes Spektrum an Geschichten und Schicksalen erzählen kann, zeigt sich an den vielen Filmen, die im letzten Jahr die deutschen Kinos erreichten. Synonymes, Nur eine Frau oder auch Green Book – Eine besondere Freundschaft sind nur einige Beispiele, die alle auf ganz unterschiedliche, aber beeindruckende Weise in das Gefühlschaos und die (ungewollte) Zerrissenheit ihrer Protagonisten eintauchen. Exil von Visar Morina, das sich nach dem Debüt in Sundance in der Panoramasektion der diesjährigen Berlinale wiederfindet, reiht sich da nahtlos an.

Visar Morina selbst ist dabei allerdings kein Festivalneuling. Schliesslich konkurrierte einer seiner Kurzfilme bereits im Wettbewerb von Locarno und sein Spielfilmdebüt Babai wurde 2016 auf dem Filmfest in München gleich mit mehreren wichtigen Preisen ausgezeichnet. Obwohl der Debütfilm gleichermassen von Fremdartigkeit und Zugehörigkeit erzählte, so fokussierte sich Morina doch viel mehr auf das bröckelnde Vertrauen zwischen Vater und Sohn. Umso interessanter, dass auch der neue Film des Regisseurs im Grunde von Vertrauensverlust erzählt und sogar zu einer weitreichenden Identitätskrise führt.

Der Verlust von Sicherheit

Ähnlich wie Babai spielt dabei das Ausländerdasein jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Zwar trägt diese massgeblich dazu bei, Momente aufgrund ihrer Zweideutigkeit eskalieren und im „rechten“ Licht erscheinen zu lassen, als Zuschauer wird man aber auch mit der Frage konfrontiert, ob nicht dabei die eigene Persönlichkeit vielmehr ins Gewicht fällt als die Herkunft. Der Regisseur spielt dabei gekonnt mit Situationen, die nicht nur für Xhafer schwer zu deuten sind, auch der Zuschauer wird oft im Dunkeln gelassen. Wenn E-Mails vermeintlich nicht mehr ankommen, der Kollege die Arbeit sabotiert oder Äusserungen fallen, die unterschwellig rassistischen Charakter inne zu haben scheinen, dann darf das Publikum ebenso seine Zweifel haben. Zweifel, die bald anfangen, alles andere zu überdecken: Was mit Mobbingvorwürfen beginnt, entwickelt sich für den Protagonisten zusehends zu einer ernsthaften Bedrohung, die sich subtil und quälend auch in das Privatleben frisst.

Atmosphärisch gelingt dem Regisseur mit seinem zweiten Film wahrlich ein Meisterwerk. Bereits zu Beginn prangert in grossen Lettern „Exil“ über der vorstädtischen sommerlichen Idylle und lässt die Stimmung, kaum dass der Film begonnen hat, kippen. Die Kamera folgt dabei Mišel Matičević (Wir waren Könige), der in der Hauptrolle brilliert, dicht auf den Fersen und lässt jegliche Anspannung und Wut zum Greifen nah erscheinen – was ein Einfühlen und Mitfühlen für seine Figur ziemlich leicht macht. Fast schon zu leicht, möchte man meinen. Doch da ist eben auch Sandra Hüller (Toni Erdmann, In den Gängen), die hier gleichsam eine herausragende Leistung abliefert. Mit ihr bringt Morina das aufgebaute Gefühlsgerüst nach und nach so gleich wieder zum Einsturz. Ihre Rolle als Ehefrau fungiert gewissermassen als Wegbegleiter und Spiegel, um das Publikum durch das Geschehen zu führen und ihm andere Perspektiven aufzuzeigen.

Anstrengend, schweisstreibend, sehenswert

Aber nicht nur die vielen kleinen Details in der Charaktergestaltung machen die angespannte Stimmung aus. Auch das triste, spartanische Büro und die erdrückende trüb-gelbe Farbgebung, die immer weiter einer alles verschlingenden Schwärze weicht, tragen massgeblich zu der dicht gewebten, manchmal bis an die Unerträglichkeit getriebenen Atmosphäre bei. Ohne beispielsweise auch nur einmal einen konkreten Bezug zur Jahreszeit herzustellen, fühlt man sich an einen langen, zu warmen und stressigen Sommer erinnert. Und wenn es da nur die Ventilatoren sind, die im Hintergrund unermüdlich versuchen, nicht nur die Schweissperlen, sondern auch die aufsteigende Reizbarkeit der Beteiligten von den Gesichtern zu pusten. Die einschneidenden Ereignisse kleben an den Figuren, wie der Schweiss auf der Haut und das getrocknete Salz in der Kleidung.

Der Regisseur versteht es dabei, sehr geschickt mit ambivalenten und subtilen Bildern umzugehen. Absichtlich verschwimmen dabei die Grenzen zwischen wahr oder imaginär. Exil liegt am Ende schwermütig auf der Seele, wie ein viel zu heisser Sommer, den man schweigsam in angespannter enger Fahrstuhlatmosphäre durchlebt hat. Zwei Stunden, in denen Gefühle mit viel Bedacht seziert werden und sich somit jeder Moment unmittelbar auf das Publikum auswirkt. Ähnlich kraftvoll wie Systemsprenger wird man den Kinosaal mitgenommen, vielleicht sogar erschöpft verlassen. Exil bewegt und sei jedem dringlich ans Herz gelegt, der die Herausforderung eines schonungslosen Identitätsdramas sucht.

Madeleine Eger
film-rezensionen.de

Exil

Belgien, Deutschland, Kosovo

2020

-

121 min.

Regie: Visar Morina

Drehbuch: Visar Morina

Darsteller: Mišel Matičević, Sandra Hüller, Rainer Bock

Produktion: Maren Ade, Jonas Dornbach, Janine Jackowski

Musik: Benedikt Schiefer

Kamera: Matteo Cocco

Schnitt: Laura Lauzemis, Hansjörg Weissbrich, Visar Morina

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 3.0) Lizenz.

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