Engel der Verlorenen Einer gegen den Dschungel

Kultur

Akira Kurosawa arbeitete in diesem Film zum ersten Mal mit einem Schauspieler zusammen – mit Toshirô Mifune –, der neben Takashi Shimura und anderen zu seinen „Stammschauspielern” werden sollte.

Filmdreh mit Akira Kurosawa, September 1945.
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Filmdreh mit Akira Kurosawa, September 1945. Foto: Unknown author (PD)

8. Februar 2023
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7 min.
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Es ist eine schmutzige Gegend. Alles scheint sich um einen mittelgrossen Tümpel zu gruppieren, einen verdreckten Tümpel, der den ganz Müll der Stadt aufgesogen zu haben scheint. Kinder spielen darin, ein Arzt warnt sie wegen der Ansteckungsgefahr (Typhus), verjagt sie. Irgendwo in Tokio. Irgendwann nach dem grossen Krieg. Und Krieg ist immer noch; ein anderer Krieg, sozusagen ein „ziviler Krieg“. Armut, Prostitution und die Herrschaft der Yakuza scheinen die einzigen Dinge, die hier zählen. Die Strassenverkäufer und Ladenbesitzer machen eine sehr tiefe Verbeugung, wenn ein Yakuza, der das Viertel kontrolliert, vorbeikommt und hier ein Stück Obst, dort eine Blume mitnimmt – natürlich ohne bezahlen zu müssen. Matsunaga (Toshirô Mifune), ein junger Kerl, kontrolliert dieses Viertel.

Inmitten dieses Orts der gefallenen Engel, des Verbrechens und der Korruption, ganz nahe an dem Tümpel hat Dr. Sanada (Takashi Shimura) seine Praxis. Und Dr. Sanada ist der Engel dieser Verlorenen; der Engel der gefallenen Engel. Sanada ist ein fähiger Arzt, einer der hätte Karriere machen können. Aber in seinen jungen Jahren hatte er sich anders entschieden. Im Gegensatz zu seinem früheren Freund Takahama (Eitarô Shindô), der das nahe gelegene Krankenhaus leitet, wollte Sanada von Anfang an das tun, was ein Arzt eben zu tun hat heilen. Nicht das Geld, das er hätte verdienen können, nicht der Ruhm, der anderen zuteil wurde, interessierte ihn. Er wollte immer nur heilen, nicht nur den Körper, sondern auch die Seele – und das dort, wo es am dringendsten nötig war und ist, bei den Ärmsten, den Verlorenen.

Akira Kurosawa arbeitete in diesem Film zum ersten Mal mit einem Schauspieler zusammen – mit Toshirô Mifune –, der neben Takashi Shimura und anderen zu seinen „Stammschauspielern” werden sollte. Und „Engel der Verlorenen” ist in gewisser Weise auch noch in anderer Hinsicht eine Art Premiere: Zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit werden in dem Film die tiefgreifende Zivilisationskritik und der unverbrüchliche und unbestechliche Humanismus des Regisseurs zur tragenden Säule der Erzählung über einen Arzt, dessen permanente Suche nach einem Ausweg und dessen Scheitern.

Eines Tages erscheint der junge Yakuza Matsunaga in der Praxis Dr. Sanadas, der ihm eine Kugel aus der Hand zieht und den Verdacht hat, dass Matsunaga an TBC leidet. Doch Matsunaga will das nicht wahr haben. Er reagiert aggressiv auf die vorsichtige Diagnose des Arztes und verschwindet wieder. Sanada ist erbost über die Unvernunft des jungen Mannes und sucht ihn wenig später auf. Doch wiederum bekommt er als Antwort nur Schläge von Matsunaga. Kurze Zeit später erfährt Sanada durch Zufall von seinem Kollegen Takahama, dass Matsunaga im Krankenhaus war und dort eine Röntgenaufnahme erstellt wurde. Tatsächlich fand man ein Loch in seiner Lunge, und Takahama schickte ihn mit dem Bild zu Sanada. Matsunaga allerdings verschweigt dem Arzt die Diagnose Takahamas.

Erst einige Zeit später taucht Matsunaga – völlig betrunken und voller Angst, die er hinter seiner Aggressivität zu verbergen sucht – des nachts bei Sanada auf, der ihn aufnimmt, um ihn vor weiteren Dummheiten, vor allem vor dem Genuss von Alkohol zu schützen.

Wenig später allerdings wird der Vorgänger Matsunagas als „Bezirksleiter” der Yakuza, ein gewisser Okada (Reisaburo Yamamoto), aus dem Gefängnis entlassen. Und der stellt nicht nur eine Gefahr für Matsunaga dar, der befürchtet, Okada könne versuchen, ihn beim Boss der Yakuza (Masao Shimizu) auszustechen. Auch für die junge Krankenschwester Miyo (Noriko Sengoko) ist Okada ein Risiko. Denn sie ist seine frühere Frau und hat Angst, Okada wolle sie zurück haben.

Für Dr. Sanada eine schwierige Situation – zumal sich die TBC Matsunagas verschlimmert. Ein Blutsturz folgt dem anderen. Matsunaga ist geschwächt. Und der Boss der Yakuza hat angesichts der Schwächung Matsunagas durch die Krankheit bereits beschlossen, Okada in seine alte Position zu hieven. Matsunagas Geliebte verlässt ihn, um Okadas Geliebte zu werden. Es kommt zu einer Katastrophe ...

Kurosawa konzentriert sich vollständig auf seine drei Hauptpersonen – Sanada, Matsunaga und Miyo –, drei sehr unterschiedliche Charaktere, in denen sich nicht nur das Milieu, in dem die Geschichte spielt, spiegelt, sondern auch die unterschiedlichen Wege aufzeigen, wie die Akteure sich in diesem Milieu bewegen und mit welchen Konsequenzen sie auf Ereignisse reagieren.

Sanada ist dem Alkohol verfallen, desillusioniert, ein Mann, dessen jugendlicher Idealismus längst auf der Strecke geblieben ist, ein Held, der seinen Heldenmut verloren hat, der versucht zu retten, was überhaupt noch zu retten ist. Als er auf den jungen Matsunaga trifft, erinnert er sich an die Zeit, als er so jung war wie der, und er hat nichts anderes mehr im Kopf, als zu versuchen, diesen jungen Verirrten zu retten. Sanada lässt nicht locker. Sein Eigensinn, seine Wahrheitsliebe und sein Hass auf die elenden Verhältnisse vor Ort treiben den alten Arzt – von Takashi Shimura, dem grossen japanischen Schauspieler einmal mehr eindringlich gespielt – sozusagen zu einem letzten Versuch, wenigstens einen Menschen zu retten. Natürlich hat er auch andere gerettet, etwa ein junges Mädchen, das ebenfalls an TBC leidet, das aber die Vernunft besitzt, den Anweisungen Sanadas zu folgen, um die Krankheit zu besiegen. Bei Matsunaga will Sanada mehr retten: dessen Seele.

Matsunaga verkörpert einen jungen Mann, dem jeglicher Idealismus fremd ist, der in ein bisschen Macht und Ansehen, in Geld und einer Frau, die nur wegen seines bisschen Macht überhaupt bei ihm ist, das Höchste im Leben entdeckt zu haben glaubt – und der dennoch hinter alldem nur seine tiefsitzende Angst und seine Verzweiflung zu verbergen versucht. Matsunaga glaubt, Konflikte nur mit Gewalt lösen zu können – und dies wird ihm schliesslich zum Verhängnis. Selbst in der Krankheit, die ihn töten könnte, erkennt er keine Chance, über sein Leben nachzudenken. Nur ganz kurz erkennt er in Sanada einen Mann, der ihm fast zum Vater geworden ist.

Miyo als Dritte im Bunde hat vor allem Angst – Angst vor Okada. Sie hat durch ihre Arbeit als Krankenschwester Geld zusammengespart, um sobald wie möglich in ihre Heimat zurückzukehren. Sie ist Sanada dankbar, der sie aus dem Sumpf der Yakuza herausgeholt hat. Und sie beschwört Matsunaga, mit ihr zu gehen, um zu gesunden und ein anderes Leben zu führen. Vergeblich. Miyo allerdings hat erkannt, dass sie in der Grossstadt gnadenlos untergehen würde, wenn sie bliebe. Ihr Wille, in ihre Heimat zurückzukehren, ist keine Flucht. Es ist eine Art Selbstrettung, ein Bekenntnis zum Leben.

Kurosawa gelingt es, durch diese Personenkonstellation nicht nur das Milieu des Yakuza-Viertels eindrucksvoll zu illustrieren. „Yoidore tenshi” ist ein beeindruckender Film über die Stadt als soziales Netzwerk und als Moloch, in dem Humanität und Vernunft, aber auch der gesunde Idealismus zunehmend verloren gehen. Matsunaga hat die Regeln der Grossstadt bereits derart verinnerlicht, dass es für ihn keinen Ausweg aus diesem Dilemma mehr gibt. Er ist Opfer dieser Regeln und Täter aufgrund dieser Regeln zugleich. Es fällt schwer, Matsunaga nicht zugleich zu verachten und Mitgefühl für ihn zu hegen. In ihm kulminiert das Unmenschliche der Stadt, dieses unüberschaubaren Dschungels, dieses Dickichts, in dem nur noch Macht und Geld die Verhaltensweisen zu bestimmen scheinen. Selbst wenn man von der Herrschaft der Yakuza abstrahiert, bebildert Kurosawa die Mechanismen der Grossstadt – ganz ähnlich wie etwa Scorsese in „Taxi Driver” – als etwas Unfassbares, Unbegreifliches, Unkontrollierbares, in dem eben nur noch brutale Machtmechanismen und Geld Ordnung in die Dinge bringen.

Zugleich ist „Yoidore tenshi” aber auch dem Genre des Westerns sehr ähnlich. Kurosawa scheint der am meisten „westliche” aller japanischen Regisseure, allerdings mit dem Zusatz, dass er – ähnlich wie Fred Zinneman in „High Noon” – keiner Glorifizierung einer wie immer gearteten Gemeinschaft das Wort redet, sondern deren Verhaltensweisen gnadenlos offenlegt.

Ulrich Behrens

Engel der Verlorenen

Japan

1948

-

98 min.

Regie: Akira Kurosawa

Drehbuch: Keinosuke Uegusa, Akira Kurosawa

Darsteller: Takashi Shimura, Toshirō Mifune, Reisaburō Yamamoto

Musik: Fumio Hayasaka

Kamera: Takeo Ito