Die Spitzenklöpplerin Abseits ...

Kultur

„Die Spitzenklöpplerin“ von Claude Goretta ist eine tragische Liebesgeschichte und zweifelsohne einer jener leider fast vergessenen Meisterwerke der Filmgeschichte, die es wert wären, wieder öfter gezeigt zu werden.

Isabelle Huppert in Cannes, 2009.
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Isabelle Huppert in Cannes, 2009. Foto: nicolas genin (CC BY-SA 2.0 cropped)

20. Mai 2019
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Paris. Ein Friseursalon. Lauter nette Damen unter der Haube, die viel reden und wenig sagen. Daneben Marylène (Florence Giorgetti), eine der Friseusen, und Beatrice (Isabelle Huppert), die es lernen will, wie man die Damen unter der Haube zufriedenstellt. Beatrice, die alle Pomme nennen, ist klein, ein bisschen, aber wirklich nur ein zartes bisschen pummelig, so, dass man es kaum wahrnimmt.

Pomme ist gerade einmal 18 Jahre alt. Ihre eigene Frisur ist nicht gerade der letzte Schrei. Das Haar fällt ihr in die Stirn – gerade noch kann man ihre Augen sehen. Ihre Sommersprossen überdecken das ganze Gesicht. Pomme ist das, was man einen unscheinbaren Menschen nennen könnte. Sie ist ruhig, spricht von sich aus kaum etwas, es sei denn sie wird angesprochen. Pomme hat eigentlich nur Kontakt zu ihrer Mutter (Annemarie Düringer) und zu Marylène – eine lockere Freundschaft könnte man das nennen.

Als sich Marylènes Freund am Telefon von einer Sekunde auf die andere von ihr trennt, ist sie enttäuscht, wütend, zutiefst verletzt. Sie muss raus aus Paris, aber nicht allein. Pomme und Marylène fahren ein paar Tage in die Ferien – nach Cabourg in der Normandie, einem jener Feriendomizile, die im Hochsommer völlig überlaufen sind, ein Ort, in dem noch ein bisschen erhalten ist von der Atmosphäre des 19. Jahrhunderts: ein Strandhotel aus dieser Zeit zeugt davon ebenso wie das Casino. Marcel Proust hat hier gewohnt. Blumenparks, ein Golfplatz und eine einladende Strandpromenade locken die Gäste ins Freie.

Das Meer bietet sich in mattgrüner Farbe dar, als die beiden Frauen in Cabourg ankommen. Der Himmel ist grau. Es ist regnerisch. Nur die Autos, eine Disco und einige wenige andere Neubauten zeugen davon, dass man sich inzwischen im 20. Jahrhundert befindet – und die vielen Familien, die Kinder, die am nächsten Tag, an dem die Sonne wieder scheint, den Strand bevölkern.

Claude Goretta und Jean Boffety verstehen es, diese Atmosphäre in eindrucksvollen Bildern einzufangen, vor allem aber, die Geschichte von Pomme in diese Bilder in einer Weise einzubetten, wie es besser kaum geht. Pomme, die stille Pomme, die nie etwas fordert, nie von sich aus Ansprüche stellt, die zufrieden und unzufrieden zugleich erscheint, die sich vielleicht langweilt, vielleicht auch nicht, geht durch Cabourg, isst Eis im Café, wird von niemandem beachtet, geht an den Strand und kehrt gleich wieder um, weil zu viele Menschen dort ihrem Badevergnügen nachgehen. Still isst sie ihr Eis in einem dieser Cafés, und still setzt sich ein junger Mann neben sie und bestellt eine Cola. Es ist François (Yves Beneyton), ein Philosophiestudent aus Paris, der versucht, mit Pomme ein Gespräch anzufangen. Er erzählt ihr, dass er schon sehr oft in Cabourg ein paar Tage Urlaub verbracht habe. Er scheint gelangweilt, vielleicht ein wenig bedrückt. Pomme spricht kaum ein Wort. Man verabschiedet sich.

Kurze Zeit später sieht François Pomme auf der Strandpromenade wieder, stoppt sie. Die beiden gehen am Strand spazieren. Es ist vor allem François, der redet. Man sitzt in Pommes Hotelzimmer, François ist kein Draufgänger, keiner, der nach einem kurzen Abenteuer sucht. Er ist vorsichtig, ja behutsam, versucht immer wieder, mit Pomme zu sprechen. Aber meist spricht er nur über sich selbst. Eine vorsichtige Annäherung, kaum merklich bei Pomme, nur in ihren Augen sichtbar, beginnt. Alles scheint den gewohnten Gang zweier Verliebter zu gehen. Die beiden schlafen miteinander, François besucht Pommes Mutter, Pomme wird François Eltern vorgestellt, die Mutter ist distanziert, der Vater scheint die junge Frau zu mögen. Schliesslich ziehen die beiden in Paris zusammen. Ein Liebespaar?!

Und dann, nach einigen flüchtigen Anzeichen, nach einigen Wochen, trennt sich François von Pomme. „Ich werde nie dahinter kommen, was du denkst“, sagt François. „Ich habe wirklich geglaubt, du würdest dich ändern“, meint er. „Ich weiss nicht, ob du glücklich bist oder nicht“, konstatiert er. Pomme schweigt. Pomme geht. Es scheint, dass die sozialen Differenzen zwischen den beiden zu gross wären, als dass aus ihnen ein Paar werden könnte.

Doch dieser Schein von der Unverträglichkeit zwischen Friseuse und Philosoph trügt. Claude Goretta zeigt etwas anderes. Er ergreift Partei – für Menschen wie Beatrice, die ihre Gefühle zumeist nicht verbalisieren können, die nichts zu fordern, die keine Ansprüche zu haben, die fast völlig in sich gekehrt scheinen und in denen nichts Verborgenes auf Entdeckung zu warten scheint. Als sich François von ihr trennt, muss Pomme kotzen; sie malt sich im Friseursalon an, bricht auf der Strasse zusammen. Die Ohnmacht aber ist bei Pomme nicht nur eine äussere Reaktion – sie ist innere „Einstellung“. Pomme kann nicht einmal ihre Verzweiflung äussern. Sie kehrt auch sie nach innen und landet für Monate in der Psychiatrie.

Diese tragische Liebesgeschichte ist nicht nur für Pomme tragisch, auch für François. Er erkennt, dass er nichts erkannt hat. Er bekommt eine Ahnung davon, dass der Vorwurf Mariannes, einer Studienkollegin, richtig ist, dass er nicht einmal versucht hat, Pomme zu verstehen.

Isabelle Hupperts Pomme sitzt in der letzten Einstellung des Films vor einem Plakat mit dem Bild einer griechischen Insel. Sie hat ihre Hände in den Schoss gelegt. Die Kamera fährt auf sie zu, und dann schaut Pomme etliche Sekunden direkt in die Kamera. Es ist dieser Blick, den glaube ich – schon damals – nur die Huppert zustande bringt, dieser Blick, der mehr sagt, als jedes Wort es auszudrücken vermag, der die Geschichte der Pomme wie in einem Konzentrat auf den Punkt bringt.

Es ist kein hilfloser Blick, keiner, der um Hilfe schreit, und doch ist es der Blick einer Ertrinkenden, einer, die ertrinken würde, ohne um Hilfe zu schreien, einer, die in ihrem jungen Leben niemanden kennt, der sie auch nur zu verstehen versucht hat. Die Reaktion Pommes auf diese Erfahrung erschliesst sich logisch. Phantasie ersetzt eine Realität, in der sie niemand wirklich: sieht! Sie erzählt, fast ein wenig apathisch, François, der sie nach Monaten in der Psychiatrie besucht, sie sei inzwischen auf einer griechischen Insel gewesen. Das Plakat wird zu ihrer Realität.

Goretta zeigt aber in dem Schicksal von Pomme auch eine Art „Zug der Zeit“. François gehört zu einer Gruppe von Studierenden, die – damals en vogue – viel von Marxismus reden, aber selbst wenig verstehen. Der „blanke“ Verstand bemächtigt sich der Realität, wo die Fähigkeit, sich einem aussergewöhnlichen, das bedeutet: der nackten Gewohnheit, der gesetzten Normalität sich entziehenden, ausser ihr stehenden Menschen emotional zu widmen (im wahrsten Sinn des Wortes) gefragt wäre, ja bitter nötig wäre. Einzig Marianne scheint erkannt zu haben, dass man mit Menschen wie Pomme anders umgehen muss. Denn in dieser Pomme, dieser von Isabelle Huppert so grandios gespielten jungen Frau, steckt mehr Leben, mehr als in manch anderem.

Diese gesetzte Normalität desintegriert Menschen wie Pomme. Die Psychiatrie ist die äussere Bestätigung dieser Desintegration. Die nackte Gewohnheit erlaubt nur Menschen, die über ihre Gefühle sprechen können, die sagen, was sie wollen, die selbstbewusst sein sollen, die fordern, die Ansprüche stellen, die sich wehren, die desto besser sind, je mehr sozialen Kontakt sie haben – und so weiter und so fort. Pomme kann diese Normalität nicht erfüllen. Sie ist anders und sie will anders entdeckt werden, ohne es formulieren zu können. Sie muss anders gesehen werden, der Blick muss sich verändern, der Blick in ihr Inneres, der Blick auf sie. François ist der erste Mensch, von dem Pomme annimmt, er ergründe sie; er ist der erste Mann in Pommes Leben, ihr erster Liebhaber. Umso tiefer fällt sie, als sich alles als Trug, als Unfähigkeit herausstellt.

„La Dentellière“ ist einer jener leider fast vergessenen Meisterwerke der Filmgeschichte, die es wert wären, wieder öfter gezeigt zu werden.

Ulrich Behrens

Die Spitzenklöpplerin

Frankreich, Schweiz

1977

-

107 min.

Regie: Claude Goretta

Drehbuch: Claude Goretta, Pascal Lainé

Darsteller: Isabelle Huppert, Florence Giorgetti, Yves Beneyton

Produktion: Yves Gasser, Lise Fayolle, Klaus Hellwig

Musik: Pierre Jansen

Kamera: Jean Boffety

Schnitt: Joëlle van Effenterre