Die stillen Trabanten Poetischer Glanz

Kultur

„Die stillen Trabanten“ erzählen einerseits realistisch von den Lebensverhältnissen am Rand der Gesellschaft und zugleich poetisch von neun einsamen Seelen, deren Trabantenflugbahnen sich für einen kurzen Moment berühren und die dabei aufglühen.

Regisseur Thomas Stuber (Mitte) am Filset von «Herbert», März 2014.
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Regisseur Thomas Stuber (Mitte) am Filset von «Herbert», März 2014. Foto: CennoxX (CC-BY-SA 4.0 cropped)

1. August 2023
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Schriftsteller Clemens Meyer und Regisseur Thomas Stuber bringen in ihrer dritten Zusammenarbeit erneut die vermeintlich kleinen Leute ganz gross heraus.

„Die im Dunkeln sieht man nicht“, beklagte schon Bertold Brecht in der Dreigroschenoper. Autor Clemens Meyer und Regisseur Thomas Stuber nehmen sich das Zitat zu Herzen. Schon zum dritten Mal rücken sie Geschichten kleiner Leute ins Rampenlicht. Nach dem schwerkranken Boxer Herbert (2015) und den herzerwärmenden Gabelstaplerfahrern aus In den Gängen (2018) holen sie nun die fleissigen Geister der Nacht aus ihrem Schattendasein. In drei Episoden und einem Prolog erzählen sie von neun Menschen, von denen sechs paarweise zueinander finden.

Imbissbudenbesitzer Jens (Albrecht Schuch) trifft sich zum Rauchen mit der verschleierten Aischa (Lilith Stangenberg). Bahnputzfrau Christa (Martina Gedeck) lernt in der Bahnhofskneipe die Frisörin Birgitt (Nastassja Kinski) kennen. Und Wachmann Erik (Charly Hübner) verliebt sich in die junge Emigrantin Marika (Irina Starshenbaum) aus der Ukraine. Alle sechs kreisen durch die Leipziger Nacht wie verlorene Seelen um ein flackerndes Licht aus Sehnsucht, Verständnis und Hoffnung.

Stilles Einverständnis

Ein Wohnblock: Im dunklen Treppenhaus steht die strenggläubige Aischa am Fenster, schaut hinunter auf die Lichter des Leipziger Hauptbahnhofs. Im Mund hat sie eine Zigarette, die aber nicht brennt. Sie nimmt das verbotene Genussmittel in die Hand, wirkt unruhig und verwirrt. Soll sie oder soll sie nicht? Dann Grossaufnahme: Wie aus dem Nichts taucht Jens auf. „Brauchst du Feuer“, fragt er. Jens schaut genau hin, wie Aischa den Rauch einsaugt. Seine Augen leuchten. Dann sagt er seinen Namen und sie nennt ihren. Das ist vorerst alles, die Montage schneidet zur nächsten Geschichte.

Und doch ist so viel passiert in ein, zwei Minuten. Ganz offensichtlich herrscht ein tiefes, unausgesprochenes Einverständnis zwischen zweien, die etwas Verbotenes tun und dabei Glück empfinden. Denn Aischa darf nicht nur nicht rauchen, sie ist zudem mit Hamed (Adel Bencherif) verheiratet. Nach ihrer Religion, die sie aus dem Chaos ihres früheren Lebens gerettet hat, kann sie nicht allein mit einem fremden Mann reden, geschweige denn so nah mit ihm sein. Und Jens kennt Hamed. Er hat ihn gerade in seinem Imbiss gegen einen rassistischen Spruch verteidigt und ihm etwas ohne Schweinefleisch zubereitet, so als wäre das etwas Selbstverständliches – hier im Neonazi-verseuchten Osten.

„Da schrieb jemand über vermeintlich kleine Menschen, Aussenseiter und deren Schicksale, die alles andere als unbedeutend sind“, fasst Regisseur Thomas Stuber seine Leseerfahrung des gleichnamigen Erzählbandes von Clemens Meyer zusammen. Und umreisst damit das Motto des Films, nämlich das angeblich Kleine gross zu machen. Dazu hat der Regisseur grosse Schauspielerinnen und Darsteller um sich versammelt, allesamt Stars im deutschen Kino und auf dem Theater. Deren Aufgabe ist es nun paradoxerweise, sich klein zu machen im guten Sinne, nämlich die Aura ihrer früheren Rollen vergessen zu lassen und ganz einzutauchen in die Schicksale von Schattenstehern, Unsichtbaren, Gescheiterten.

Poetischer Glanz

Das gelingt durch die Bank famos, vor allem bei Albrecht Schuch und Nastassja Kinski. Die glaubwürdige Darstellung wächst organisch aus dem realistisch gezeichneten Milieu hervor und ist allein schon ein Grund, diesen Film zu bewundern. Noch schöner sind die poetischen Lichter, die Kameramann Peter Matjasko den ineinander verwobenen Episoden aufsetzt. Genau wie die zauberhaften Momente, wenn die Spielenden ihre Herzen öffnen und all die Sehnsüchte fliegen lassen, die ihnen durch den grauen Alltag helfen.

Gerade aus Details bezieht die Inszenierung ihre grösste Kraft, was allerdings nicht heisst, dass sie nur dahindriften würde. Jede der drei Episoden ist nach klassischem Muster gebaut: erste Annäherung, gefolgt von tiefen Gefühlen und grossem Glücksempfinden, das zwischenzeitlich in Gefahr gerät und in drei offenen Enden je unterschiedliche Erfolgschancen zu haben scheint. Dank der Episodenstruktur kommt diese Dramaturgie jedoch ganz unscheinbar daher, ohne Pauken und Trompeten, dafür aber begleitet von traurig-schönen Songs. Auf leisen Sohlen schleichen sich auch die Botschaften des Films durch die Handlung. Dennoch wird man sie kaum überhören. Neben dem erwähnten Herz für die kleinen Leute sind das die unerhörte Solidarität mit Schicksalsgenossen sowie das Verständnis für Geflüchtete, das man im realen Leben keinem dieser selbst an den Rand gedrängten Figuren zutrauen würde.

Der waschechte Thüringer Jens geht mit seinen gläubigen Nachbarn in die Moschee und Hans (Peter Kurth), ein Kollege von Wachmann Erik, kommt jahrelang nicht über den Tod eines kleinen Flüchtlingsmädchens hinweg. In solch zärtlichen Momenten schmelzen Vorurteile über „den Osten“ einfach weg wie Schneeflocken im April. Und es leuchtet der rote Faden besonders intensiv, der sich durch den ganzen Film zieht: Hoffnung.

Peter Gutting
film-rezensionen.de

Die stillen Trabanten

Deutschland

1986

-

120 min.

Regie: Thomas Stuber

Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber

Darsteller: Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Charly Hübner

Produktion: Jochen Laube

Musik: Kat Frankie

Kamera: Peter Matjasko

Schnitt: Kaya Inan

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 4.0) Lizenz.