Die Frau nebenan „Weder mit dir, noch ohne dich”

Kultur

Zwei Schüsse, kurz hintereinander. Es ist dunkel, noch früh am Morgen. Ein Mann liegt tot auf einer Frau.

Der französische Filmregisseur François Truffaut auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam, März 1967.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Der französische Filmregisseur François Truffaut auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam, März 1967. Foto: Kroon, Ron - Anefo (PD)

16. Januar 2020
1
0
8 min.
Drucken
Korrektur
Man wird sie nicht nebeneinander begraben. Nicht einmal im Tod sind sie vereint. Nicht einmal im Tod herrscht Frieden. Nur scheinbar. Keiner hat sie verstanden. Sie haben sich selbst nicht verstanden. Keiner hat eine Erklärung. Es gibt keine Erklärung für das, was geschehen ist, für das, was zwischen den beiden war. Ein Arzt spricht von neurotischer Depression, von Flucht in die Krankheit. Aber auch diese lehrbuchhafte Einordnung der „Krankheit” Mathildes (Fanny Ardant) ist nicht mehr als eine hilflose Krücke, eine Scheinerklärung.

Bernard Coudray (Gérard Depardieu) lebt mit seiner Frau Arlette (Michèle Baumgartner) und beider kleinem Sohn Thomas in einem Haus in einem kleinen Ort in der Nähe von Grenoble. Sie scheinen glücklich. Bernard arbeitet als Ausbilder in der Schifffahrt. In Modell-Tankern, die den Originalen nachgebaut sind, bringt er angehenden Kapitänen bei, wie man einen Tanker steuert. Das Haus der Coudrays, der Garten mit Schaukel für den Kleinen – all das zeugt von Wärme, Nähe und Zuneigung.

In das Haus gegenüber, das bislang leer stand, ziehen eines Tages die Bauchards ein. Philippe Bauchard (Henri Garcin) ist Fluglotse, seine Frau Mathilde arbeitet an einem illustrierten Kinderbuch. Was Bauchard und Arlette Coudray nicht wissen: Mathilde und Bernard kennen sich von früher. Sie waren ein Paar, bis vor acht Jahren. Sie liebten sich, sie hassten sich. Schliesslich hatte Mathilde die Kraft gefunden, sich von Bernard zu trennen, heiratete einen Mann, den sie nicht liebte, liess sich kurz darauf wieder scheiden und lernte dann Philippe kennen.–

Madame Odile Jouve (Véronique Silver) besitzt einen Tennisplatz, auf dem sich vor allem am Wochenende viele Familien erholen. Die Kinder können sich auf einem Spielplatz vergnügen, die Erwachsenen in einem Restaurant essen und trinken und sich – geübt oder weniger begabt – dem Tennisspiel widmen. Odile geht an einer Krücke, trägt eine Prothese. Vor 20 Jahren hatte sie – in der offiziellen Version des Geschehens – einen Unfall. Tatsächlich war sie in Nizza aus dem Fenster eines Hotels gesprungen. Wie durch ein Wunder überlebte sie. Nur eines ihrer Beine überlebte nicht. Odile war aus Liebeskummer gesprungen, weil der einzige Mann, den sie je liebte, sie verlassen hatte wegen einer anderen. Seitdem lebt er in Neu-Kaledonien. Odile erzählt uns die Geschichte von Mathilde und Bernard.–

Noch einmal kehrt Mathilde in den kleinen Ort zurück, an dem sie Bernard wieder getroffen hatte, zufällig. Oder war es Schicksal? Bernard ist aufgewacht. Eine laut klappernde Tür in dem verlassenen Haus gegenüber hat ihn geweckt. Mit einer Taschenlampe geht er hinüber. Und da steht diese Frau, die er geliebt und gehasst hatte, von der er nicht lassen konnte, und von der es ihn eben auch immer wieder wegzog. Sie umarmen sich. Sie lieben sich auf dem Boden eines der leeren Zimmer in dem Haus, in dem Mathilde und Philippe noch vor kurzem gewohnt hatten, bevor Philippe sich entschlossen hatte, eine kleine Wohnung in Grenoble zu mieten, um von den Coudrays wegzukommen. Sie lieben sich. Und wie selbstverständlich zieht Mathilde einen Revolver aus ihrer Handtasche, während Bernard auf ihr liegt. Sie setzt den Lauf hinter sein Ohr und drückt ab. Danach setzt sie sich den Revolver hinter ihr Ohr. So wird man sie am Morgen finden.–

Bernard scheint es äusserst unangenehm, Mathilde nach so langer Zeit wieder zu treffen. Er lässt sich verleugnen, als Arlette die beiden neuen Nachbarn zum Abendessen eingeladen hat. Dann trifft er Mathilde im Supermarkt. Und beide reden von Freundschaft, von einer ganz normalen Freundschaft, die man doch haben könne, davon, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Aber dann küsst Bernard Mathilde, die ohnmächtig wird, dann ohne ein Wort zu sagen wegfährt. Bei Odile treffen sie sich wieder, und dann verabreden sie sich in einem Hotelzimmer, lieben sich im Auto, trennen sich, lieben sich, trennen sich.

Erst ist es Mathilde, die Bernard nicht mehr wiedersehen will, dann, als Mathilde, die gerade mit viel Erfolg und der Hilfe des Verlegers Roland (Roger van Hool) ihr erstes Kinderbuch veröffentlicht hat, in einem Gebüsch am Rande des Tennisplatzes unter Tränen zusammenbricht und von Philippe in ein Krankenhaus gebracht wird, dann ist es Bernard, der sie zwar besucht, aber kühl und distanziert wirkt, nachdem er kurz zuvor auf einer Party der Bauchards ausgerastet war und alle, auch Arlette und Philippe, von der früheren Beziehung der beiden erfahren hatten.

Zwei Schüsse beenden dieses Leid, diese Liebe, diese Verzweiflung.

Truffauts vorletzter Film – nach „Die letzte Metro” (1980) und vor „Auf Liebe und Tod” (1983) – erzählt von Leidenschaft, von Liebe, von Verhängnis, von Sucht. Wie das? Man erfährt nur in Worten von der Vergangenheit von Mathilde und Bernard, davon, dass sie Bernard nach der Trennung von ihm gegenüber Philippe als gewalttätig bezeichnet hatte. Aber die Gewalttätigkeit in der Beziehung der beiden, die nicht miteinander und nicht ohne einander leben können, ist eine zweiseitige, eine wechselseitige. Mathilde behauptet, sie habe Bernard immer geliebt, er aber sei in sie nur verliebt gewesen. Bernard leugnet dies. Er habe Mathilde geliebt, immer. Beides scheint richtig.

Doch Truffaut zeigt uns Bilder, Handlungen der beiden, Dialoge, aus denen im ersten Moment eine grosse Leidenschaft zu sprechen scheint, im zweiten aber sofort das Destruktive zum Vorschein kommt. Diese doppelte Bestimmung, dieses Zerreissende macht die Beziehung zwischen Mathilde und Bernard zu etwas für andere, ihre Umgebung Unverständliches, ja zu etwas Mysteriösem. Nur Odile scheint beide zu begreifen, ihnen nachempfinden zu können, weil sie in einer ähnlichen Situation gelebt hat und lebt. Nie wieder hatte sie nach dem Sturz aus dem Fenster eine Beziehung. Und als der einzige Mann, den sie geliebt hatte, sie besuchen kommt, reist sie für ein paar Tage nach Paris, um ihm nicht zu begegnen.

Warum unfassbar? Mathilde und Bernard fallen übereinander her, trennen sich, lieben sich, hassen sich. Ganz anders scheint die Beziehung zu ihren jeweiligen Ehepartnern. Sie schienen überaus glücklich mit ihnen. Fast könnte man Truffauts Inszenierung als einen romantischen Thriller oder eine Romanze mit „Thrillereffekt” bezeichnen. Das Angstmachende aber, das, was etwa seit Hitchcock Suspense genannt wird, das bis zum Zerreissen Spannende kommt bei Truffaut in einer Weise direkt aus dem Innern der Personen, ihrer emotionalen, psychischen Situation und Disposition, die den Schrecken, den Horror der Geschichte fast ungreifbar werden lässt und ein Gefühl der Trauer, der Hilflosigkeit hervorruft. Man könnte auch sagen, ja, muss es aussprechen: Mathilde und Bernard sind nicht in den jeweiligen anderen verliebt. Ihre Liebe ist die Liebe zur Liebe. Ihre Leidenschaft die Leidenschaft für die Leidenschaft.

Nie wird deutlich, nie sichtbar, was sie aneinander finden. Truffaut setzt diesem Verhängnis, ein Begriff, der die Beziehung zwischen Mathilde und Bernard vielleicht am besten kennzeichnet, die Beziehungen der beiden zu ihren Partnern entgegen, etwa wenn Arlette kurz nach dem Einzug der Bauchards zu Bernard sagt, man könne jetzt nicht mehr ungesehen im Garten miteinander schlafen. In dieser Szene, in der beide lachen, flirten, sich nahe sind, kommt zum Vorschein, was Bernard zwar lebt, aber nicht begriffen zu haben scheint: dass er liebt, seine Frau liebt.

Das Romantische, Leidenschaftliche, die Nähe aber zwischen Mathilde und Bernard hat deshalb etwas Destruktives, weil sie sich nicht wirklich am jeweils anderen „festmacht”. Jeder Blick, jede Berührung zielen nicht auf den anderen, sondern auf eine Vorstellung, die sich scheinbar im anderen manifestiert. Im Grunde kennen sich beide überhaupt nicht. Mathilde weiss nichts von Bernard und umgekehrt. Beide sind Personifizierungen einer romantischen Liebe, einer bedingungslosen Leidenschaft in den Augen des anderen. Nur so ist überhaupt verständlich, wie zerstörerisch diese Beziehung (wieder) beginnt, sich entwickelt und endet. Der Tod ist nicht nur der Tod beider, sondern auch der Tod ihrer Einbildung, ihrer Vorstellung, ihres Verliebtseins in die Liebe, die zu etwas Quälenden geworden sind.

Die Vorstellung von Leidenschaft, Nähe und Liebe ist es, eben nicht eine konkrete Leidenschaft, eine gelebte Liebe, die dem Destruktiven Raum schafft, einen Raum, der für andere ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zugänglich ist. Weder Arlette, noch Philippe können diesen Raum betreten. Keine Äusserung des Verstandes, kein Argument der Vernunft können diesen Raum auflösen, können die Destruktionskraft bändigen.

Truffaut (1932-1984) erweist sich damit auch in seinem vorletzten Film als ein Meister der dezidierten Beobachtung weit verbreiteter Vorstellungen in der bürgerlichen Gesellschaft, wobei sich der Film irgendeiner Art von Analyse oder Antwort in der Inszenierung selbst verweigert. Truffaut ist Erzähler, einer der grössten modernen Geschichtenerzähler des 20. Jahrhunderts. Er weigerte sich, die Nähe zu seinen Akteuren, der man sich kaum entziehen kann, dramaturgisch zu zerstören. Nein, wir sind Bernard und Mathilde ganz nah, hautnah. Und er zwingt uns, wenn wir uns auf die Geschichte des Films einlassen, diese quälende Nähe zu spüren.

Ulrich Behrens

Die Frau nebenan

Frankreich

1981

-

106 min.

Regie: François Truffaut

Drehbuch: François Truffaut, Jean Aurel, Suzanne Schiffman

Darsteller: Gérard Depardieu, Fanny Ardant, Henri Garcin

Produktion: François Truffaut

Musik: Georges Delerue

Kamera: William Lubtchansky

Schnitt: Martine Barraqué