Deutschland im Jahre Null Keine Stunde Null

Kultur

Der Film zeigt ein erschütterndes Bild einer zerstörten Grossstadt, die einmal Zentrum der Verbrecherbande war, die sich anschickte, die Welt in Trümmer zu legen.

Berlin Templehof, 1948.
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Berlin Templehof, 1948. Foto: USGOV (PD)

26. August 2022
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„Sie leben in einer Tragödie, als sei
diese ihr natürliches Lebenselement.
Aber das tun sie nicht aus einer
Seelenstärke oder Überzeugung heraus,
sondern einfach aus Müdigkeit. Hier
geht es nicht um eine Anklage gegen
das deutsche Volk und auch nicht
um seine Verteidigung, sondern um
eine sachliche Bestandsaufnahme
der Tatsachen. Sollte jedoch jemand
glauben, nachdem er diese Geschichte
von Edmund Köhler miterlebt hat,
es müsste etwas geschehen, man
müsste den deutschen Kindern
beibringen, das Leben wieder lieben
zu lernen, dann hätte sich die Mühe
desjenigen, der diesen Film gemacht
hat, mehr als gelohnt.”
(Rossellini im Vorspann des Films)

Kaum jemand glaubte Rossellini in dem zerrissenen, zerschlagenen, sich 1945 der bedingungslosen Kapitulation unterwerfenden Deutschland, dass er mit seinem Film „Germania anno zero”, im Herbst 1947 in Berlin gedreht, solche Absichten verfolgte, wie er sie zu Anfang des Films verkündete. Jahrelang war der Film - wenn überhaupt - nur in einigen wenigen Kinos zu sehen und bis heute geniesst der Streifen in Deutschland ein Schattendasein unter den Klassikern des Neorealismus aus Italien. Der Publizist Hans Habe hatte es 1949 in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt gebracht: „Rossellini pflückt in diesem Film nicht Blumen vom Grab einer Nation, er erbricht sich in den Sarg.” Das deutsche Volk kam nach Meinung vieler in diesem Film nicht nur schlecht weg. Es würde vielmehr einem geschlagenen Volk nochmals der Garaus gemacht. Bei näherer Sicht erweisen sich solche Äusserungen in Bezug auf den Film als völlig unhaltbar, in Bezug auf die Kritiker allerdings als bezeichnend.

Die Kamera zeigt uns minutenlang eine zerstörte ehemalige Reichhauptstadt, ein Berlin, in dem es nur Trümmer, hungernde Menschen und Besatzungskräfte zu geben scheint. Männer, Frauen und auch Jugendliche haben 1945 begonnen, den Schutt des „Tausendjährigen Reiches” wegzuräumen. Auch der vielleicht 12jährige Edmund (Edmund Moeschke) hat sich einen Arbeitsschein besorgt, obwohl man 15 Jahre alt sein muss, um einen solchen Schein zu bekommen und ein paar Mark zu verdienen. Er wird erwischt, nach Hause geschickt. Dort liegt sein herzkranker Vater, der ein schlechtes Gewissen hat, weil er bettlägerig ist und für den Unterhalt der Familie nicht aufkommen kann. Eine Mutter gibt es nicht mehr, aber einen grossen Bruder, Karl-Heinz (Franz-Otto Krüger), und eine ältere Schwester namens Eva (Ingetraud Hinze), die die Stelle der Mutter im Haus übernommen hat.

Karl-Heinz, gerade mal Anfang 20, war Soldat in der Wehrmacht. Und jetzt versteckt er sich in der Wohnung der Familie aus Angst vor der angeblichen Rache der Alliierten und Antifaschisten an allen deutschen Soldaten. Diese Angst hindert ihn daran, sich Arbeit zu suchen. Eva gefällt das gar nicht. Und Edmund gefällt es nicht, dass Eva jeden Abend ausgeht, in Bars, um vielleicht über den Kontakt zu Besatzungssoldaten einen Weg zu finden, um zu Geld zu kommen.

Edmund ist der einzige in der Familie, der ständig auf Achse ist, um etwas zu essen zu organisieren und anderes, was die Familie unbedingt braucht, um zu überleben.

So überredet er den Wohnungsnachbarn Rademacher, dessen Waage auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Doch anstatt die von Rademacher geforderten 300 Mark für die Waage zu bekommen, gibt ihm ein böswilliger älterer Mann nur ein paar Konserven. Rademacher, der die Köhlers eh nicht mag, reagiert gereizt und wütend. Edmunds Vater solle doch endlich sterben, um Platz für gesunde Menschen zu machen.

Auch Edmunds Kontakt zu seinen Freunden Jo (Babsi Schultz-Reckewell) und Christl (Alexandra Manys) bringt für den Unterhalt der Familie nicht viel ein.

Eines Tages trifft er seinen ehemaligen Lehrer Enning (Erich Gühne) wieder, der Tür an Tür mit einem Ex-General namens von Laubitz (Franz von Treuberg) wohnt. Enning bemüht sich um seine Ex-Schüler, auch um Edmund, dem er den Auftrag gibt, eine alte Schallplatte mit einer Hitler-Rede an Soldaten der Alliierten zu verkaufen. Edmund gibt er zehn Mark für den erfolgreichen Verkauf. Und er gibt ihm noch etwas mit auf den Weg: Als der Junge von seinem kranken Vater erzählt, der inzwischen im Krankenhaus liegt, um sich zu erholen und etwas Besseres zu essen zu bekommen, meint Enning zu Edmund: Er könne den Lauf der Dinge nicht verhindern. Das Kranke und Alte müsse sterben, um dem Jungen und Gesunden Platz zu machen für dessen ungehinderte Entfaltung. Enning ist noch immer Nationalsozialist.

Weil Edmund sich diesen Satz von Enning nicht nur einprägt, sondern geradezu verinnerlicht, stiehlt er im Krankenhaus eine Flasche mit Gift und verabreicht es seinem inzwischen wieder zu Hause liegenden Vater, der daraufhin schnell stirbt. Dann allerdings überkommen ihn Zweifel, die ihn durch ganz Berlin treiben. Zwei Tage lang irrt er durch die Strassen, trifft Jo und Christl, geht zu Enning und erzählt diesem, er habe getan, was Enning gesagt habe. Doch Enning reagiert empört, abweisend und sagt, so habe er das nicht gemeint.

Verzweifelt rennt Edmund aus dem Haus, irrt wieder durch Berlin und begibt sich in ein Haus, das dem seiner Familie gegenüberliegt. Dann springt er in den Tod.

Der Drang, dieses äusserlich gesehen melodramatische Geschehen in jener Weise zu inszenieren, die man neorealistisch nennt, ergibt sich aus einem „einfachen” Umstand: dem Unwillen vieler Regisseure zur Theatralisierung, dem Hass auf jede Form des Propagandafilms, wie er insbesondere von den Nationalsozialisten gepflegt wurde, und dem aus dem Kriegs- und Vernichtungsgeschehen des „Dritten Reiches” resultierenden Wunsch nach einer möglichst dokumentarischen, authentischen Schilderung solcher und anderer Geschichten.

So zeigt die Kamera ein erschütterndes Bild einer zerstörten Grossstadt, die einmal - neben München und Nürnberg - Zentrum der Verbrecherbande war, die sich anschickte, die Welt in Trümmer zu legen. Und in dieser „Stunde Null” zeigt Rossellini einen Jungen, der fast sein ganzes bisheriges, kurzes Leben nichts anderes kennen gelernt hat als Krieg und Zerstörung, Propaganda und Menschenverachtung - ein Junge aber auch, dem der Überlebenswille im Blut zu liegen scheint, eben weil er keine anderen Umstände kennt.

Rossellini zeigt überzeugend, wie sich dieser „an sich” normale Überlebenswille in Verbindung mit dem Satz Ennings und der dahinter stehenden Ideologie zum Tötungswillen verändert. Der Satz Ennings gehört zu den zentralen Aussagen einer Ideologie, die Menschen - nicht etwa Dinge! - in „wert” und „unwert” klassifiziert. Damit allein aber ist einer „Ethik” Tür und Tor geöffnet, die nach dem Massstab handelt, alles tun zu dürfen, und damit masslos wird. Dass Edmund dies in sich aufnimmt, ist die andere Seite der Geschichte, die einerseits auf den Beginn der NS-Herrschaft rekurriert, also auf die Erziehung zum Töten, andererseits aber auch deutlich macht, dass mit dem Untergang dieser Herrschaft das entsprechende Denken und Handeln längst nicht ebenso verschwunden ist und unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen weiter wirken kann. Zu diesen Voraussetzungen gehört hier auch ein Erfahrungshorizont, der bestimmt ist von Armut, Angst, Kampf ums nackte Überleben.

Edmund wird zum Opfer seines Ex-Lehrers, der Vater wird zum Opfer seines Sohnes, und der Sohn - zur Besinnung gekommen, aber in der Einsamkeit seiner furchtbaren Tat verzweifelt - sieht keine andere Lösung als den eigenen Tod. Damit ähnelt Edmund all jenen, die anfangs von der „Grösse” Hitlers überzeugt waren und zu spät merkten, auf was sie sich eingelassen hatten, wie es Edmunds Vater an einer Stelle des Films einmal äussert.

Edmund wird zum Täter, zum Mitläufer und Handlanger einer Ideologie und zum Opfer eben derselben Ideologie. Vor allem dies, die Einsicht, dass 1945 in Deutschland nicht irgendeine „Stunde Null” angebrochen war, sondern die seelischen, politischen, kulturellen und ethischen Trümmer noch lange nicht beseitigt waren, muss in der deutschen Publizistik den Widerstand gegen Rossellini ausgelöst haben. Noch heute glauben viele, der Nationalsozialismus sei ein singuläres Ereignis gewesen, etwas, was nie wieder kommen könne, in welcher Form auch immer.

Bereits 1947 räumt Rossellini mit diesem falschen Schein auf - und kaum einer in dem zerbombten Land hört auf ihn, stellt sich dem. Er lässt Laienschauspieler auftreten, die in grandioser Weise das Leben nach der Kapitulation in Berlin darstellen können. Die Authentizität des Films bezieht sich aber nicht nur darauf, sondern auch auf die Aussage des Films und seine implizit im Vorspann geäusserte Hoffnung. Die melodramtische Zuspitzung der Geschichte lässt bereits erahnen, dass Rossellini nicht ewig und immer im Neorealismus „stecken” bleiben, das er ihn fortentwickeln wird - nicht zu jener Art Melodrama à la Douglas Sirk, aber zu einem Drama, das das Individuum (noch) stärker in den Mittelpunkt rücken wird, etwa in seinen Filmen mit Ingrid Bergman.

Dass der Film auch heute hierzulande eher ein Schattendasein führt, mag auch daran liegen, dass heute kaum noch jemand glaubt, etwas wie der NS könne sich wiederholen. Dies verkennt, dass es nicht um Wiederholung geht, sondern um die Bedeutung einer zentralen Annahme des NS - die Einteilung von Menschen in „wertes” und „unwertes” Leben. Diese Annahme ist Grundvoraussetzung für eine entfesselte Macht der Vernichtung, diese wiederum nicht unbedingt an eine Ideologie wie den NS gebunden. In den modernen Naturwissenschaften herrscht beispielsweise teils die Auffassung, dass das, was Wissenschaft möglich macht, auch dazu berechtigt, es zu tun - eine „Ethik” also, die von dem Satz ausgeht: Was man machen kann, darf (und soll) auch gemacht werden. Gerade die Überlegungen z.B., Menschen bewusst in der Weise zu „produzieren”, dass man ihre genetischen Codes manipuliert, um ein wie auch immer gewünschtes „Ergebnis” zu erzielen, gehen schnurstracks in eine Richtung, die der Unterteilung „wertes” und „unwertes” Leben sehr nahe kommt.

Auch aus solchen Gesichtspunkten lässt sich rückschliessen, warum eine derart deutliche und authentisch dargebotene Kritik an dem mörderischen Ideologem vom „unwerten” Leben schon damals auf heftige Kritik in Deutschland stiess.

Ulrich Behrens

Deutschland im Jahre Null

Italien

1948

-

78 min.

Regie: Roberto Rossellini

Drehbuch: Roberto Rossellini, Carlo Lizzani, Max Kolpé

Darsteller: Edmund Meschke, Ernst Pittschau, Ingetraud Hinze

Produktion: Roberto Rossellini, Alfredo Guarini

Musik: Renzo Rossellini

Kamera: Robert Juillard

Schnitt: Anne-Marie Findeisen