Der Prozess Unergründliches ...

Kultur

„Die Logik dieser Geschichte ist die Logik eines Traums – eines Alptraums.”

Anthony Perkins in New York, 1975.
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Anthony Perkins in New York, 1975. Foto: Allan Warren (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

13. Juli 2022
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Die Kamera fällt schräg in ein Zimmer mit zwei Türen. Das Morgengrauen beleuchtet den Raum nur schwach. Ein junger Mann ruft nach seiner Zimmerwirtin, von der er meint, sie habe an die Tür geklopft. Doch nicht sie, sondern ein Mann mit Hut und Mantel tritt ein. Ein Unbekannter. Der Mann stellt Fragen. Und er eröffnet Herrn Josef K. (Anthony Perkins), dieser würde demnächst angeklagt werden. Auf Nachfragen, warum dies geschehe, bekommt Herr K. nur ausweichende Antworten.

Ein zweiter Mann betritt das Zimmer von Herrn K. Beide verhalten sich so, als ob alles verdächtig sei, was Herr K. sagt und wie er sich verhält. Sogar vier Löcher auf dem Fussboden werden zu verdächtigen Zeichen gedeutet, obwohl Herr K. zu erklären versucht, es handle sich um Bohrlöcher, die der verstorbene Mann seiner Zimmerwirtin Frau Grubach (Madeleine Robinson) dort angebracht habe. Er sei Zahnarzt gewesen. Das alles nützt nichts. Herr K. steht unter Verdacht – unter welchem, ja, das bleibt die ganze Zeit über im Dunkeln. Kein Mensch kann Herrn K. sagen, wessen er beschuldigt wird.

Orson Welles nahm sich 1962 der schwierigen Aufgabe an, einen Roman von Franz Kafka in Bilder umzusetzen. Er drehte in Schwarz-Weiss, und das kam dem Film neben anderem zugute. Hinzu kommt das Produktionsdesign von Jean Mandaroux: kalte Hochhaussiedlungen, dazwischen kahle Abschnitte, insgesamt eine unwirtliche Gegend, dann ein Gerichtsgebäude im klassischen Stil, mit langer, breiter Treppe und Statuen, u.a. mit der Justitia, davor. Das Innere des Gerichtsgebäudes ist verwinkelt, wirkt wie ein Labyrinth: Lange Gänge, unendlich viele verschlossene Räume, Kellergänge, ein riesiger Gerichtssaal, der wie ein Theater wirkt, einzelne Angestellte, protzige Gemälde von Richtern – ein undurchschaubares Gewirr, in dem sich kaum ein Mensch zurechtfinden kann. Nur selten fällt Sonnenlicht irgendwo in die Gänge.

Kaltes künstliches Licht beherrscht hier die Szenerie. Ebenso unübersichtlich scheint das Haus des Anwalts Hastler, den Orson Welles selbst spielte. Ein Raum, in dem der angeblich kranke Hastler in einem grossen Bett im wahrsten Sinn des Wortes residiert, andere zumeist dunkle Räume, darunter einer mit Dutzenden und Aberdutzenden Akten und Büchern, die über den ganzen Boden verstreut sind und den Eindruck einer Müllkippe vermitteln. Und schliesslich das Unternehmen, in dem Herr K. eine leitende Funktion ausübt: ein riesiger Raum mit schier unendlich vielen Schreibtischen, an denen ebenso unzählig viele Angestellte irgendwelche Arbeiten verrichten. Darüber wölbt sich die Dunkelheit.

Diese ganze Szenerie wird bevölkert von merkwürdigen, dunklen, obskuren, ebenso undurchschaubaren Gestalten.

Diese ganze Szenerie allein – ganz abgesehen von der Geschichte selbst – vermittelt schon den Eindruck eines Alptraums. Nichts ist hier klar, eindeutig, durchsichtig, wirklich erklärbar, erkennbar.

Herr K. ist sich keiner Schuld bewusst. Doch der Verdacht, der abstrakte Verdacht allein genügt, um Herrn K. auf die Barrikaden zu bringen. Er wehrt sich, er will gegen die Polizisten Beschwerde einlegen, gegen ihre Fragerei, dagegen, dass sie ihm nicht sagen, wessen er beschuldigt wird. Die Polizisten durchsuchen nicht nur seinen Raum, sondern auch den seiner Nachbarin, Frau Bürstner (Jeanne Moreau), die in einem Nachtclub als Tänzerin arbeitet. Und als sie im Morgengrauen heimkehrt, versucht Herr K., den die attraktive Frau reizt, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Frau Bürstner ist müde, todmüde, und als K. ihr endlich erzählt, was passiert ist, meint sie nur, irgend etwas müsse er wohl getan haben. Als sie erfährt, dass auch ihr Zimmer durchsucht wurde, schmeisst sie Herrn K. hinaus. Und kurze Zeit später erfährt Herr K., sie sei ausgezogen – wegen ihm, wegen der Bedenken von Frau Grubach, die die Arbeit von Frau Bürstner moralisch bedenklich finde – oder vielleicht auch wegen beidem. Herr K. scheint an allem Schuld zu tragen.

Auch sein Onkel Max (Max Haufler) beschwert sich bei Herrn K. – er würde die ganze Familie in Misskredit bringen. Und warum brachte die Polizei bei ihrer Durchsuchung drei von Herrn K.s Kollegen mit? Alles nur ein übler Scherz?

Doch nicht nur Herr K. scheint von einem völlig undurchsichtigen Justizsystem angeklagt zu sein. Des nachts sieht er in den Strassen Dutzende von Menschen, die einfach da stehen, Schilder mit Nummern um den Hals – wie in einer Warteschleife. Auch die Polizisten beschuldigen Herrn K., denn seine Beschwerde gegen sie, die er letztendlich gar nicht mehr verfolgt hatte, führte dazu, dass auch sie in die Mühlen der Justiz gerieten.

Onkel Max schleppt Herrn K. zu Hastler, der ihn vertreten soll. Und hier trifft Herr K. auf die junge Leni (Romy Schneider), die Hastler versorgt, aber auch – so jedenfalls Hastler – mit jedem Angeschuldigten ins Bett geht, weil sie angeschuldigte Männer allzu attraktiv finde. Auch Herrn K. findet sie begehrenswert. Und Hastler? Was tut Hastler wirklich für Herrn K.? Eigentlich nichts, meint Herr K. irgendwann – und will seine Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen.

Alle, wirklich alle, Herrn K. auch völlig unbekannte Personen, scheinen Bescheid zu wissen, dass und vielleicht auch warum Herr K. beschuldigt wird – nur er selbst nicht. Immer dichter zieht sich ein Netz des Verdachts um Herrn K., der beginnt zu taumeln, dem in jedem geschlossenen Raum übel wird ...

Welles zieht auch für den Betrachter dieser Geschichte die Schnüre immer enger. Nicht nur, dass Herr K. nicht weiss, weswegen er beschuldigt wird. Irgendwann stellt sich diese Frage nicht mehr. Die Tatsache, dass er angeschuldigt wird, reicht aus, um sich auf eine völlig abstrakte Art schuldig zu fühlen, sich zu verteidigen, sich zu wehren – bis es nicht mehr geht, weil kein Ausweg mehr sichtbar, greifbar, begehbar erscheint.

Herr K. trifft auf Personen, die ihre eigene dunkle Geschichte zu haben scheinen. Er trifft auf Frauen wie Leni, die ihm ebenso ein Rätsel bleibt wie die Frau des Gerichtsdieners Hilda (Elsa Martinelli), die sich ihm gleichfalls an den Hals wirft, ihm angeblich helfen will. Aber wie? Doch nicht nur die Frauen in diesem Dunkel sind undurchschaubar. Der Gerichtsdiener (Wolfgang Reichmann), der Maler Titorelli (William Chappell), der die Richter malt, und ein Mandant von Hastler, Bloch (Akim Tamiroff), sind es ebenso. Alle scheinen zu warten, was passiert, was die nicht sichtbaren Richter entscheiden – gegen all die Beschuldigten und gegen Herrn K.

Welles gelingt die Entfaltung einer Atmosphäre der Angst und Anonymität. Je mehr Herr K. versucht, sich alles logisch zu erklären, der Vernunft sozusagen zum Sieg zu verhelfen, desto mehr muss er erkennen, dass er in einer absurden Welt lebt, in der weder Logik, noch Vernunft etwas erklären können. Daher stossen in Roman wie Film psychologische, religiöse usw. Erklärungsansätze schnell an ihre Grenzen. Das beginnt nicht erst damit, dass etwa das Gericht sich zwar als anonyme Macht hinter dem Rücken aller anderen breit zu machen scheint, trotzdem gleichzeitig schwer als eine allumfassende vernünftige Instanz bezeichnet werden kann. Denn das Schuldigsprechen von Herrn K. und vielen der anderen, denen er begegnet, ist kaum von irgendeiner Vernunft bestimmt.

Auch eine Freudsche Interpretation stösst deshalb schnell an ihre Grenzen. Zwar lässt sich Herr K. mit drei Frauen ein, die ihn reizen, ermutigen, und doch bleiben alle drei genauso unergründlich in ihrem Verhalten wie das anonyme Gericht selbst. Dass Herr K. in der Beziehung zu diesen drei Frauen Schuldgefühle zu überwinden suche, ist daher eine nur unzureichende Interpretation der Geschichte.

Noch mehr: Obwohl Herr K. als verhaftet gilt, wird er nicht ins Gefängnis gebracht. Er darf sich nach wie vor frei bewegen, zur Arbeit gehen, seinen Anwalt aufsuchen usw. All das deutet die Absurdität der Situation an, in der sich die Geschichte entwickelt.

Was der Film andererseits aber verdeutlicht, ist die drastische Diskrepanz zwischen einer gut geordneten sozialen Struktur, in der Herr K. eine leitende Position in einem Bürogebäude ausübt und auch ansonsten einem geregelten, bürgerlichen Leben nachgeht, und dem „Einbruch” einer ganz anderen, scheinbar nicht durch die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft bestimmten Absurdität einer „Anklage”, die ihn weder ins Gefängnis bringt, noch zu einer Verurteilung, noch ihn den sonst üblichen geregelten Verfahren unterwirft.

Gleichzeitig geht mit der Beschuldigung von Herrn K. eine starke Erotisierung einher. Das Weibliche wird für Herrn K. zu einer Art Kontrapunkt – ebenso unerklärlich wie der Rest der Welt des Absurden, aber eben in den Bann lockend, verführerisch. Überhaupt könnte man sagen, dass diese Welt des Erotischen sich mit der des Unverständlichen (Gericht, Beamte, Anwalt usw.) gepaart hat – nur, warum, in welcher Weise, das bleibt im Dunkeln, wenn man es sich erklären will.

Was Orson Welles Film so interessant macht, ist die Tatsache, dass er einen zentralen Punkt des Romans Kafkas und überhaupt von Kafkas Werk versinnbildlicht: das grosse Misstrauen gegen die Möglichkeit einer rationalistischen Erklärung der Welt. Keine Behauptung bleibt, keine Erklärung hat Bestand, alles ändert sich laufend und verkehrt die anfängliche Behauptung über „Es” in sein Gegenteil oder zumindest modifiziert sie dieses „Es”. Die Bilder des Gerichtsgebäudes, der kalten Wohngegend, in der Herr K. lebt, und alles andere sind starr, unveränderlich, scheint es. Und doch verändert sich im Verhalten der Beteiligten stets etwas, so dass auch die äussere Umwelt in einem ständig anderen Licht erscheint.

Der grosse Zweifel an einer logischen Erklärbarkeit der Welt – nicht nur bei Kafka, sondern vielen seiner intellektuellen Zeitgenossen – ist sicherlich auch durch die konkreten Umstände der damaligen Zeit verursacht (nahendes Ende des Kaiserreichs, erster Weltkrieg, Such nach neuen Haltepunkten des Individuums).

Doch darüber hinaus wird auch durch den Film noch etwas anderes deutlich: Die Irreversibilität der Zeit in jede Richtung trägt – vielleicht unbewusst bei Kafka – die sprachliche wie filmische Inszenierung von Roman und Film. Was geschehen ist, kann nicht wieder rückgängig gemacht werden – was geschehen wird, ist nicht voraussehbar. Der einzelne, der immer nur im „Jetzt” lebt, blickt auf das Geschehene zurück als etwas, was fix zu sein scheint. Aber durch die Veränderungen im Jetzt verändert sich auch der Blick auf das Geschehene. Für Herrn K. wird es anfänglich zu einem Traum, weil er in die geordnete Welt, in der er bislang zu leben schien, zurückkehren will.

Später jedoch wird ihm bewusst, dass diese Ordnung der Welt wesentlich weniger geordnet gewesen sein muss, als er annahm und die äusseren Zeichen ihm deuteten. Das, was geschehen wird, scheint von einer anonymen Beschuldigung geprägt, die nicht fassbar ist. Sie verändert sein Leben – nicht nur was den Umgang mit dieser abstrakten Beschuldigung betrifft, was die Frauen betrifft, denen er begegnet, oder dem Maler oder Bloch. Das Absurde entfaltet sich vor seinen Augen, als ob ein Schleier vor seinen Augen fallen würde, und trotzdem bleibt es für den Verstand unergründlich.

Es scheint fast, als ob nur der Tod diesem endlosen, nicht enden wollenden Reflexionsprozess ein Ende setzen könnte, einem Prozess, in dem Herr K. immer wieder glaubt, der Erkenntnis nahe zu kommen, und immer wieder konstatieren muss, dass dem nicht so ist – was wiederum bedeutet, dass das Leben unergründlich bleibt. In dieser Absurdität liegt auch das Groteske von Film und Roman, das geradezu slapstickhaft Komische der Geschichte, in der Tragik und Komik immer nur zusammen einen Weg beschreiten können, eine Geschichte, in der der logische Prozess des Erkennens erst im Tod zu einem Abschluss kommen könnte.

Welles Film ist wohl einer der besten Kino-Adaptionen eines Kafka-Stoffes – damals wie heute ein faszinierendes „Spektakel“ über Ängste, Unergründlichkeit, anonyme Mächte usw. Anthony Perkins passt die Rolle des Herrn K. sozusagen wie angegossen. Orson Welles selbst spielt den Anwalt Hastler in seiner ihm eigenen Art zwischen mysteriösem Anwalt, patriarchalischem Mann und letztlich auch leidendem Mensch. Romy Schneider und Jeanne Moreau, Akim Tamiroff und Elsa Martinelli ergänzen exzellent diese Crew.

Ulrich Behrens

Der Prozess

Deutschland, Frankreich, Italien

1962

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118 min.

Regie: Orson Welles

Drehbuch: Orson Welles

Darsteller: Anthony Perkins, Orson Welles, Jeanne Moreau

Produktion: Alexander Salkind, Michail Salkind

Musik: Jean Ledrut, Remo Giazotto

Kamera: Edmond Richard

Schnitt: Yvonne Martin, Frederick Muller, Orson Welles