Das grosse Fressen Die Lust am Tod

Kultur

Was, wenn man die Sucht auf die Spitze treibt? Was, wenn man überhaupt sein ganzes Leben auf die Spitze treibt? Was, wenn man aus der Lust das Prinzip seines Lebens macht? Essen, Trinken, Sex – all das auf die Spitze getrieben.

Der italienische Filmregisseur Marco Ferreri am Filmfestival von Cannes, 1991.
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Der italienische Filmregisseur Marco Ferreri am Filmfestival von Cannes, 1991. Foto: Georges Biard (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

17. Oktober 2018
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Ein Pilot, ein Richter, ein Fernsehredakteur und ein Koch wollen jedoch nicht nur den Genuss steigern, immer weiter, sondern an ihm sterben. Sie haben beschlossen, solange zu essen, besser gesagt: zu fressen, bis es sie zerreisst, bis sie tot umfallen.

Der „Skandalfilm” Marco Ferreris aus dem Jahr 1973 war nur für diejenigen ein Skandal, die ihn nicht verstanden haben – so kann man getrost zusammenfassen, was sich als „moralischer” Protest gegen den Film formierte. Die weibliche Hauptdarstellerin Andréa Ferréol berichtete, dass sie wegen des Films in etlichen Restaurants Hausverbot erteilt bekam. Lag das alles daran, dass man Frau Ferréol splitternackt sehen konnte? Lag es daran, dass man im Film mehrfach ausgiebig Blähungen zu hören bekam?

Ferreris Film kann man natürlich unterschiedlich interpretieren – welchen Film nicht? Und doch lässt eine Gesamtschau kaum daran zweifeln, dass es hier um eine Kritik an der Konsumgesellschaft und am „modernen“ Hedonismus ging, der sich als Verhaltensmuster durchzusetzen schien. Die Kritik an der Konsumgesellschaft war in jenen Jahren weit verbreitet, bis hinein in die Rockmusik, die Malerei, die Literatur und andere Teile der Kultur. In diesem Kontext steht Ferreris Film „Das grosse Fressen”.

Die vier Männer, die beschlossen haben, sich zu Tode zu fressen, sind der Pilot Marcello (Marcello Mastroianni), der Richter Philippe (Philippe Noiret), der Koch Ugo (Ugo Tognazzi) und der Fernsehredakteur Michel (Michel Piccoli). Sie treffen sich an einem Wochenende in einer alten Villa, die Philippes Vater vor etlichen Jahren gekauft hatte, die leer steht und nur von einem alten Mann bewacht wird. Die Villa – mit ansprechendem Interieur – ist geräumig, gemütlich und liegt relativ abgelegen irgendwo in einem Aussenbezirk von Paris.

Kleinlaster liefern die notwendigen Mittel, um dem grossen Fressen den richtigen Rahmen zu geben, Geflügel aller Art, Schweine-, Rind- und anderes Fleisch. Man hat gut vorgesorgt. Und beim ersten Essen begutachten die vier Herren Fotos mit nackten Frauen aus der Zeit um die Jahrhundertwende, die ihnen ein Diaprojektor an die Wand wirft.

Marcello allerdings vermisst bei dieser apokalyptischen Zeremonie vor allem: Frauen. Und so organisiert man drei Prostituierte, zwei blonde und eine schwarzhaarige, zu denen sich noch eine Lehrerin namens Andréa (Andréa Ferréol) gesellt, die kurz zuvor mit einer Schulklasse das Anwesen besucht hatte, weil sich dort irgendwann einmal ein bekannter Dichter aufgehalten hatte. Die Todessüchtigen laden sie zum Gelage ein – und sie erscheint.

Dem Tod will man schliesslich nicht in Trauer und Depression entgegengehen, sondern mit allem, was das Herz und die Hose begehren. Und daher bleiben sexuelle Ausschweifungen – wenn man das denn überhaupt so nennen kann – natürlich nicht aus. Auch Andréa erweist sich als eine durchaus lebenslustige und dem Sex mit allen vier Herren nicht abgeneigte Dame von Welt. Und obwohl der durch seine Haushälterin geschädigte Philippe Andréa einen Heiratsantrag macht, lässt er sie gewähren und mit den drei Freunden ihren Spass haben.

So frisst man, trinkt, geniesst den Sex, hört Musik, frisst und frisst und frisst. Dass die drei Prostituierten irgendwann den Eindruck haben, es handle sich bei den vier Herren um nicht ganz normale Menschen, so dass sie nacheinander die Villa verlassen, stört nicht weiter. Andréa jedenfalls bleibt.

Dass es nicht ausbleibt, dass ein Mann nach dem anderen immer deutlicher zu spürende Probleme mit der grenzenlosen Fresserei bekommt, dürfte in der Natur der Sache liegen. Anfangs sind es nur endlose Blähungen. Doch dann stirbt der erste der vier Fresssüchtigen ...

Ferreris Film ist zu allererst eine Komödie, die sich allerdings hart an der Grenze zwischen Humor, bitterem Sarkasmus hier, provokantem Ekel dort entlang schlängelt. Wenn sich die beleibte Andréa (Frau Ferréol musste sich für die Rolle vor den Dreharbeiten einige Kilos anessen) etwa auf Michels Bauch setzt, damit der seine Blähungen (minutenlang) los wird, so konnte ich jedenfalls nicht umhin, herzhaft zu lachen. Wenn einige Zeit später eine Toilette explodiert und das gesamte Badezimmer mit dem Kot der fressenden Herren überströmt wird, mag das manchem an Ekel zu viel sein.

Das Entscheidende an Ferreris Film jedoch ist die Übertreibung, die Zuspitzung der Kritik an einer hedonistischen Lebensauffassung. Diese kulminiert darin, dass alles, was Lust verschaffen kann, jegliche menschliche Regung, die Lust verschafft, zum Selbstzweck verkommt und dadurch vor allem den Hedonismus sich selbst ab absurdum führt. Die „Symbiose” von Natur und Kultur, die sich in allen menschlichen Grundbedürfnissen darstellt, wird aufgehoben. Das Essen z.B., eine „Kombination” aus natürlichem (Nahrungsaufnahme lebenswichtig) und kulturellem Bedürfnis (Speisen, Dinieren usw.) wird „degradiert” zum „Fressen”, zur Völlerei, es wird Mittel zum Zweck, indem die Lust am Essen nur noch dem Ziel dient, den Tod zu erreichen.

Der Tod (durch Fressen) wird somit zum höchsten Zweck des hedonistischen Gefühls, weil man alles andere schon ausprobiert hat, weil alles andere schon langweilig geworden ist (bis auf Marcellos zwanghafte Sexsucht vielleicht), weil der Hedonismus die fortwährende Steigerung und Ausweitung der Lust verlangt. Dies ist allerdings nur begrenzt möglich, weil man „nicht mehr als essen” kann, weil es einen Punkt gibt, an dem Essen eben keine Lust mehr verschafft, weil man dann sozusagen den „Grenznutzen” der Völlerei hinter sich lässt.

Etwas ähnliches gilt für die Sexualität. Dass Marcello die Völlerei ohne Sex nicht auszuhalten glaubt, veranlasst ihn und die anderen, die drei Prostituierten und Andréa einzuladen. Doch Marcello muss (wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben) feststellen, dass auch Sexualität einen solchen „Grenznutzen” besitzt. Es ist diese Erkenntnis, die ihn dazu treibt, das ganze Treiben in Frage zu stellen. Da er allerdings keine Alternative zum Hedonismus sieht, setzt er sich in den alten Bugatti – und erfriert.

Wenn der Tod aus der Logik des Hedonismus heraus zum letzten „lustvollen” Ziel deklariert wird, führt sich der Hedonismus – jedenfalls diese Art des Hedonismus – selbst ad absurdum, weil der Tod jeden der Möglichkeit beraubt, überhaupt noch Lust zu empfinden. Kurz vor seinem Tod lässt sich Ugo von Philippe, auf einem Tisch in der Küche liegend, vollstopfen, während Andréa ihm die letzte sexuelle Lust durch Griff in die Hose verschafft. Die Absurdität dieser Szene ist besonders deutlich. Denn Fressen und Sex bewirken hier den Freitod – also das Ende aller Lust.

„Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.“
(Heinrich Heine, „aufgeklärter Hedonist“)

Man muss anmerken, dass sich diese Form des Hedonismus, die mit Todessehnsucht verknüpft ist, von der klassischen Form sicherlich unterscheidet. Die Kyrenaiker wie die Epikureer sahen im grösstmöglichen Gewinn an Lust für sich selbst und andere das Ziel jeglichen sittlichen Handelns. Während die Kyrenaiker im körperlichen Erleben von Lust das höchste Ziel sahen, vertraten die Epikureer, dass wahre Lust und wahres Glück nur durch Vernunft zu erreichen wären und bevorzugten Tugenden wie Selbstbeherrschung und Masshalten. Hedonismus war vor allem natürlich eine Mentalität der reichen Griechen, die sich in Sprüchen äusserte wie „Trink, schwelge, geniesse Wollust; du musst einmal sterben; das Leben ist nur kurz.” Im beginnenden Kapitalismus erfährt der Hedonismus eine „vernünftige” Variante im Utilitarismus. Nach dieser Theorie ist es Sinn und Zweck jeglichen (wirtschaftlichen) Handelns, die Wohlfahrt der Gesellschaft und das Glück des einzelnen zu steigern.

In gewisser Weise rekurriert der Film Ferreris zwar auf den klassischen Hedonismus, steht aber vor allem eben im Kontext der aufkommenden Konsumgesellschaft und des Wohlfahrtsstaates – oder exakter: im Kontext einer bestimmten Interpretation der dadurch bedingten Möglichkeiten. Während der „Masse”, der grossen Mehrheit der Bevölkerung, der entsprechende Massenkonsum (einschliesslich der medialen Bestandsteile dieses Konsums) bleibt, ermöglicht die wirtschaftliche Prosperität einer begüterten Mittelklasse und den Reichen einen extremen Hedonismus, dessen (auch ideologische) Bestandteile angesichts steigender Masseneinkommen allerdings „nach unten” ausstrahlen. Bestandteil der Kritik an dieser in den 60er Jahren aufkommenden Konsumgesellschaft ist auch das Argument, Konsum lähme das Widerstandspotential gegen (strukturelle) Ungerechtigkeit und die Chancen für entsprechende politische Mobilisierung.

Ich will hier nicht im einzelnen auf diese Kritik aus den 70er Jahren eingehen. Der Film jedenfalls zeigt „typische” Vertreter der gehobenen Mittelklasse, die den Hedonismus, wie erläutert, zu Ende denken und damit selbst absurdum führen. Wenn nur „Lust” bzw. Lustgewinn (was immer auch darunter im einzelnen zu verstehen sein mag) einziges Motiv und einziger Zweck menschlichen Handelns wäre, wäre dieses Handeln in sich grenzenlos – sowohl was Quantität, als auch was Qualität betrifft.

Der Mensch müsste nicht nur all sein Handeln diesem Prinzip unterwerfen und Bereiche ausgrenzen, die vermeintlich keine Lust verschaffen können (also etwa bestimmte Arbeitstätigkeiten), er müsste versuchen, immer neue Betätigungsfelder zu finden, da Lust bezüglich eines solchen Feldes nie beliebig zu steigern ist. Insofern liegt in dem eigentlich zynischen Beschluss der vier Männer eine gewisse Logik innerhalb des „modernen“ Hedonismus: Sie haben alle Lust erlebt, und es bleibt nur noch der Tod, das absolute individuelle Ende, als letzte Möglichkeit des Lustgewinns. Im Sterben zur „absoluten” Lust zu gelangen, verbleibt als letzter Ausweg aus den Irrungen des Hedonismus.

Dass hier ein Stück Wirklichkeit im Film enthalten ist, wird deutlich, wenn man solche Vorkommnisse wie die Handlungen der Manson-Gruppe betrachtet oder die Fälle von neuzeitlichem Kannibalismus, wie vor kurzem hier in der Bundesrepublik. Hier ist es nicht der eigene Tod, sondern die Freiheit von allen ethischen Vorstellungen gegenüber anderen, die dem „Lust-Prinzip“ freie Bahn gewährleisten soll.

Die moralische Grenze, andere nicht zu töten, wird einem extrem egoistischen, entgrenzten Verhalten geopfert, das die individuelle „Lust” über alles andere und über alle anderen stellt. In dieser Konsequenz – Entgrenzung jeglicher ethischer Vorstellungen und einem damit unabänderlich verbundenen ausufernden, egozentrischen Individualismus – liegt auch das Verhalten der vier Männer im Film – nur dass sich die Gewalt dieses „modernen” Hedonismus hier (noch) „nur“ gegen sich selbst kehrt. Dass dieser „moderne” Hedonismus in seiner Konsequenz aber vor allem das Moment der Gewalt, des Todes und der Tötung enthält, dürfte damit feststehen.

Doch noch weiteres ist zu vermerken, was mit diesem Gewaltmoment des „modernen” Hedonismus zusammenhängt: die im Film glänzend inszenierte, unglaubliche, ja unfassbare Gleichgültigkeit, mit der sowohl die vier Todeskandidaten wie auch Andréa den eigenen Tod und den der anderen hinnehmen. Diese Gleichgültigkeit vermag es zu verhindern, dass man sich in irgendeiner Weise mit den Akteuren identifiziert, sie erstaunt, ja, sie distanziert, und nur in den komischen Szenen des Films löst sich manchmal diese Distanz auf. Als Andréa am Ende geht, erscheint einem der ganze Spuk wie eine Zirkusvorstellung. Die Artisten sind gegangen, der letzte Zuschauer verlässt das Zelt. Doch wir waren nicht im Zirkus.

Ulrich Behrens

Das grosse Fressen

Frankreich, Italien

1973

-

130 min.

Regie: Marco Ferreri

Drehbuch: Rafael Azcona, Francis Blanche

Darsteller: Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi, Michel Piccoli

Produktion: Vincent Malle, Jean-Pierre Rassam

Musik: Philippe Sarde

Kamera: Mario Vulpiani

Schnitt: Claudine Merlin, Gina Pignier