Der Schweizer Martin Suter ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller deutscher Sprache. Kein Wunder, dass seine Leser mehr über den Menschen hinter den Romanen erfahren möchten, über persönliche Erlebnisse, die er in literarischer Form verarbeitet. Der inzwischen 73-Jährige hat sich dem immer verweigert. Bis er auf einen traf, der seine Ansichten über vermeintlich objektive Wahrheit und die Rolle der Fantasie beim Entschlüsseln des Wirklichen teilt. Dokumentarfilmer André Schäfer (Auch Leben ist eine Kunst – Der Fall Max Emden) verarbeitet seine Begegnungen mit dem Erfolgsautor bewusst nicht in einer klassischen Dokumentation, sondern in einem Zwitter, einem Amalgam aus Fakten und Fiktionen.
Schillernde Oberfläche, tiefes Wasser
Irgendwo in einem Hinterhof mit vielen Garagen. Martin Suter steht da, wie man ihn kennt: nach hinten gegeltes schwarzes Haar, das sich nur im Nacken nicht mehr bändigen lässt, klassischer dunkler Anzug, korrekt sitzende Krawatte. Er macht sich Gedanken über den Satz, den er gleich sagen soll und beklagt sich über die mangelnde Freiheit beim Filmen. Beim Schreiben, verrät der Autor, nehme er sich viel Zeit, probiere Dinge aus, verwerfe sie, experimentiere neu.Beim Film aber habe man keine Zeit und nun verlange man von ihm, in wenigen Sekunden einen Satz zu formulieren, der für die ganzen folgenden eineinhalb Stunden ausschlagend sei. Und dann prägt er die Schlagzeile, die zum Filmtitel wurde: Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit. Das sind sieben Wörter, die man auf verschiedenen Ebenen lesen kann, ganz wie seine Romane. Sie schillern an der Oberfläche, sind spielerisch und voller Ironie. Aber darunter liegt ein Geheimnis, über das nachzudenken lohnt, auch wenn es sich nie ganz entschlüsselt.
Die Zeit, die Zeit ist Suters achter Roman. Darin geht es um den Versuch zweier Männer, der Veränderung ein Schnippchen zu schlagen und ihre Nachbarschaft so umzugestalten, wie sie im Jahr 1991 aussah, zu einer Zeit, als die geliebten Frauen der Witwer noch lebten. Die geheimnisvolle Geschichte war es, die den Dokumentarfilmer Schäfer, der auch die früheren Werke Suters schätzte, endgültig zu der Idee inspirierte, unbedingt einen Film über Suter zustande zu bringen.
Es ist eine Arbeit geworden, deren Form sich tief vor dem literarischen Werk verbeugt: auf der Oberfläche leicht zu lesen, weil die filmischen Zeichen daherperlen wie ein glitzernder Bach. Und sich verlierend im Verborgenen eines Ozeans, der noch unentdeckt und nicht eins zu eins zu entziffern ist. Schäfer spielt mit vielfältigem Material: klassischen Interviews, Reisen zu biografisch bedeutsamen Orten und vor allem dem literarischen Werk, das szenisch umgesetzt sowie in wortgetreuen Auszügen von Andreas Fröhlich aus dem Off vorgetragen wird.
Lob der Erfindungskraft
Der Film wird quasi zum Puzzle, dessen Teile jeder Zuschauer anders zusammensetzen wird und in dem sich wesentliche Überzeugungen von Martin Suter spiegeln: Dass er widersprüchliche Figuren liebt, dass jede seiner Geschichten ein Geheimnis bergen soll und dass seine Leser an das Unmögliche glauben sollen. „Die Fantasie stimmt ja meistens mehr als die Realität“ sagt er einmal. Und wer in die filmische Collage eintaucht, erfährt, dass das Lob der Erfindungskraft nichts mit Weltflucht zu tun hat. Vielmehr geht es Suter darum, so gut zu recherchieren, dass er die Lügen letztlich in einem Wickelpapier aus Wahrheiten verstecken kann.Das mag ein wenig versponnen klingen, aber André Schäfers Film hat auch eine Menge Handfestes zu bieten: einen Autoren, der sich entspannt und aufrichtig auf den Komplizen hinter der Kamera einlässt, der viel Privates preisgibt und der auch ganz brav seinen Werdegang und sein handwerkliches Vorgehen beim Schreiben offenlegt. Zu den schönsten Momenten gehören zudem die gemeinsamen Auftritte mit dem Sänger Stephan Eicher, für den Suter Liedtexte schreibt. So erfährt man vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel über den Menschen und Schriftsteller.
Die Wahrheit im Sinne einer unerreichbaren Objektivität wird dabei nicht durch Lüge ersetzt, sondern ins rechte Licht gerückt. Stephan Eicher hat dazu ein Lied für den Abspann geschrieben, dessen Text treffender nicht sein könnte: „Das war ein Film über Martin Suter. Weiss man jetzt wirklich mehr von Suter? Was ist wahr, und was erfunden von den anderthalb stillen Stunden? Kann man ihn so beschreiben? Lassen wir's so, ja lassen wir's so. Ein Geheimnis, das muss bleiben.“