Bericht eines Kleingärtners Zwei Rotkehlchen in Zeiten wohltuender Anarchie

Gesellschaft

Ein Garten im Mai ist die reine Anarchie. Der Giersch macht sich unter den Brombeeren und am Zaun zum Nachbarn breit. Wie jedes Jahr, den kriegst du nicht weg, den Giersch.

Zwei Rotkehlchen in Zeiten wohltuender Anarchie.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Zwei Rotkehlchen in Zeiten wohltuender Anarchie. Foto: Hans Hillewaert / CC BY-SA 3.0

12. Mai 2012
1
0
4 min.
Drucken
Korrektur
Der Löwenzahn leuchtet gelb überall und ist bald Pusteblume. Zwischen den ersten Radieschen und dem zarten Grün der Mohrrüben schleichen Gras-Inseln und silbergrüne Blatt-Pflänzchen umher wie Sittenstrolche im Park. Sie haben Namen, will ich die wissen? (Nö.)

Die Bohnenpflanzen hatte ich zu früh gesetzt; sie sind erfroren. Erbsen aber schlagen sich wacker durch, auch Paprika, wenngleich die Blätter zerlöchert sind. Es schiesst in die Höhe. Es schiesst nicht aufeinander. Es wächst oder wächst nicht. Es wächst zusammen oder nicht. "Das Samenkorn strampelt in der Erde" (Tomas Tranströmer) und wird was oder wird nichts.

Ein Garten im Mai ist die reine Anarchie; ich liebe sie.

Ich höre, dass Krise ist. Ich höre, dass Blasen sich bilden und platzen; oder sie platzen noch nicht. Ich höre, Europa wächst zusammen oder auseinander; oder ist Europa eine Blase und kurz davor zusammenzuschrumpeln wie die eine Gurkenpflanze, der auch eine Matratze aus Stroh nicht hilft?

Da! Erst das eine Rotkehlchen, dann ein zweites. Sie verschwinden in einer Dreckecke des Gartens der Anarchie. Da, wo ein Regal steht, auf dessen unterstem Brett ein Bett aus vorjährigem Laub trocknet. Da, wo eine Leiter und ein zusammenklappbares rostiges Tischlein, gekauft auf einem Flohmarkt, eine Wand bilden. Da, wo sie für sich sind und ein Eigen-Heim bauen. Brave Bürger-Vögel, die früh im Jahr schon singen, gelegentlich auch im Winter; und scheu sind sie nicht, diese rundlichen Burschen und Burschinnen auf mückendünnen Beinen und mit ihrem rötlichen Sabberlatz unterm Schnabel.

Ich beobachte das sehr genau. Ich höre zu. Da ist eine Talkshow im Gange, die eine Sprache hat, nicht nur Text-Masse. Da tut sich die Geschichte einer Welt auf, die älter ist als meine, älter als die der Menschen; und wer sie erkennte und aufschriebe, der würde auch nur geheissen Scharlatan und Lügner. Also ich mach' das jetzt nicht, (nö).

Aber die Rotkehlchen. Hätte ich nicht geglaubt. Die sind wirklich nicht scheu. Ich kniee, fast liege ich unterm Flieder und zu Füssen eines Boskopp-Spaliers -, da setzt sich einen halben Meter das eine vor meine Nase und hat ein fast durchsichtiges grünliches Würmchen im Schnabel. Als wollte der Vogel mir sagen: "Schau, was ich kann, und was kannst du?" Und hebt ab zu seinem Quartier aus Laub.

Was kann ich? Gute Frage. Auto fahren?

Einen Tag später knieliege ich, um endlich die restlichen Topinambur-Knollen dem Planeten zu entreissen. Das Zeug wächst und wächst. Warum trägt die FDP das nicht im Wappen?

Der Gartenpächter vor mir schwor auf Topinambur. Eine kultisch-modische Frucht, die ebenso viel Glück, Gesundheit, Potenz, Macht (usw.) verhiess wie das Trinken von Eigen-Urin zu anderen Zeiten. Oder wie die Epilation des einen oder anderen eigener Gedankens (gibt's ja nicht wirklich; ist ja jeder Gedanke nur ein Giersch) zu allen Zeiten?

Unglaublich, durch welche Zeiten ich schon ging.

Also da setzt sich wieder ein Rotkehlchen vor meine Nase. Ob dasselbe von gestern, kann ich nicht ausmachen. Männlein und Weiblein sehen gleich aus. Ist so bei denen. Aber der oder die hat ein rötlich-transparentes Würmchen im Schnabel. Aber die oder der legt sein Köpfchen schräg, und sein dunkles Knopfauge sagt: "Schau, was ich habe, und was hast du?"

Kein Geld, könnte ich antworten. Eine tolle Frau und zwei tolle Töchter, könnte ich antworten. Ein paar Pläne zum Wandern, könnte ich antworten, und Muskelkater. Ausserdem, könnte ich sagen, verfüge ich über eine Misanthropie, die sich gewaschen hat und gestochen scharf ist. Mit dem Regenwasser aus den Tonnen in meinem Garten der Anarchie. Von den Dornen des trockenen Brombeerholzes und der Rosen.

Aber Vögel erwarten keine Antworten. Und ob sie Fragen gestellt haben, liegt im Ermessen desjenigen, der im Boden wühlt. Da sind die Vögel den Politikern gleich. Da bin ich den meisten Bürgern gleich. Denen, die gleich sind, nicht denen, die gleicher sind.

Ein Garten im Mai ist die reine Anarchie. Da hilft es nicht, Präsident oder Rumpelstilzchen, Kanzlerin oder Prinzessin auf der Erbse, Politbüro oder die sieben Schwaben, Diktator oder Hans im Glück zu sein. Und was hilft?

Ich winke ab und hole mir ein Büchlein aus der Laube. Ich lege mich ins Gras und schlage es auf. Willkürlich, ehrlich, irgendeine Seite, wie es Leute, die gläubig sind, mit der Bibel machen (wo habe ich das gelesen? gehört? erzählt bekommen?) und lese: "Wir gehören der Erde." Geht's noch?!

Eckhard Mieder