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Selbstvermittlung und die Frage nach dem individuellen Verwertungszwang Vermittlung

Gesellschaft

Vermittlung verbindet Unterschiedenes. Die Pole des Unterschiedenen sind Pole des Gleichen. Sonst wären sie Getrennte. Unterscheiden heisst somit, den Zusammenhang des Unterschiedenen als Vermittlung zu begreifen, Trennen heisst ihn aufzulösen.

Vermittlung.
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Vermittlung. Foto: Magdalena Roeseler (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

25. Januar 2017
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Manchmal ist die Trennung jedoch nur Schein dessen, was eigentlich nur unterschieden ist, also zusammengehört oder identisch ist. Das will ich am Beispiel von Individuum und Gesellschaft zeigen.

Die Gesellschaft erscheint als etwas von uns Getrenntes, obwohl wir sie machen. Sie ist uns fremd, obwohl wir es sind, die sie ist. Doch als Gesellschaft sind wir uns fremd. Woran liegt das? Liegt es daran, dass die Gesellschaft einen uns gegenüber verselbstständigten Systemcharakter hat? Oder liegt es an der Vermittlung über den Wert „hinter unserem Rücken“? Anders und nach vorne gefragt: Muss uns jede Gesellschaft fremd sein oder können gesellschaftliche Verhältnisse nach dem Kapitalismus auch gefühlt unsere werden?

Im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sind zwei Ebenen der Vermittlung zu unterscheiden. Zunächst gibt es die Selbstvermittlung als innere Vermittlung der Gesellschaft mit sich selbst. Herstellung und Nutzung sind die beiden Pole der Selbstvermittlung. Alles, was genutzt werden will, muss hergestellt und gepflegt werden. Zwischen den Polen muss Übereinstimmung bestehen, damit das gesellschaftliche Ganze stabil sein und bleiben kann.

Die gesellschaftlichen Infrastrukturen – stoffliche wie symbolische – sind dazu da, alles, was getan werden muss, um den gesellschaftlichen Zusammenhang zu erhalten, tun zu können. Die Gesellschaft, so wie sie ist, repräsentiert die Handlungsnotwendigkeiten. Diese Notwendigkeiten müssen von jemandem erbracht werden, nicht aber von bestimmten Individuen. Für das Individuum sind die gesellschaftlichen Notwendigkeiten nur Handlungsmöglichkeiten. Das ist in allen Gesellschaften der Fall. Gleichwohl gibt es in Bezug auf die Grösse der Möglichkeitsräume grosse historische und positionale Unterschiede: Wer oben sitzt, hat mehr zu sagen und wer Geld hat, kann über andere verfügen.

Die zweite Ebene ist die der Individualvermittlung, der Vermittlung der Individuen mit der Gesellschaft. Einzelne Menschen haben immer nur mit Ausschnitten der Gesellschaft zu tun. Da aber diese Ausschnitte über die gesellschaftliche Selbstvermittlung mit faktisch allen anderen Aspekten der Gesellschaft verbunden sind, wirkt die Gesellschaft immer auch als Ganzes in die individuelle Lebensführung hinein. Unsere individuellen Gedanken, Gefühle und Handlungen sind immer gleichzeitig nahegelegte Aspekte dessen, wie gesellschaftlich gedacht, gefühlt und gehandelt wird.

Jede Gesellschaft kennt das Doppel von Notwendigkeiten gesellschaftlicher Selbstvermittlung und Möglichkeiten gesellschaftlicher Individualvermittlung. Doch wird mit der Behauptung, jede Gesellschaft habe eine Selbstvermittlung, nicht in Wahrheit die entfremdet-kapitalistische Vergesellschaftung „hinter unserem Rücken“ unzulässig verallgemeinert? Und wird mit der Behauptung von Möglichkeiten bei der Individualvermittlung nicht der Zwang der Verwertungslogik verschleiert? Die Antwort ist beide Male „nein“.

Gäbe es keine genuine Selbstvermittlung, so würde die Gesellschaft theoretisch auf das Niveau einer blossen Gemeinschaft heruntergebracht. Vermittlung in Gemeinschaften geschieht durch unmittelbar-personale Interaktionen, was ihre Grösse begrenzt. Gemeinschaften stehen und fallen mit der personalen Beteiligung. Anders Gesellschaften: Ihre Vermittlung basiert auf transpersonal-mittelbaren Kooperationen. Aufgrund ihrer Grösse und inneren Strukturierung sind sie in der Regel skalenfrei: Auch Ausschnitte besitzen die gleiche Funktionsfähigkeit wie das Gesamt. Zwar gibt es untere Grenzen, doch spielen sie heute praktisch keine Rolle mehr.

Selbstvermittlung als Eigenschaft von Gesellschaften sagt noch nichts darüber aus, wie diese Selbstvermittlung hergestellt wird und welche soziale Form sie annimmt. Im Kapitalismus kommt es zu einer fetischistischen Verkehrung von Sozialem und Sachlichem, von Bedürfnis und Wert. Die soziale Form der Selbstvermittlung ist Resultat eines sachlichen Prozesses – der Vermittlung über den Wert. Ursache ist die isolierte Privatproduktion, die einen nachgeordneten Tauschprozess erfordert, der nur den Wert der Produkte beachtet. Nur wenn die Vermittlung über den Wert gelingt, kann die Ware ein Bedürfnis befriedigen. Aufgrund der Konkurrenz hat die Wertvermittlung autoreflexiven und expansiven Charakter, deren permanente Wiederholung Zwang ist. Das Kapital wird zum eigentlichen „automatischen Subjekt“ (Marx), dem sich der soziale Prozess anpassen muss.

Damit sind wir bei der Frage nach dem individuellen Verwertungszwang. Die fetischistische Verkehrung von Bedürfnis und Wert entzieht uns zwar die Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess, was jedoch nicht bedeutet, dass die Notwendigkeiten der Kapitalverwertung individuell zu Handlungsdeterminanten werden. Gleichwohl ist die Existenzsicherung nur durch Beteiligung an der Verwertungslogik möglich. Also wird die Freiheit zwar eingeschränkt, einen unhintergehbaren Zwang gibt es jedoch nicht. Es gibt immer Handlungsmöglichkeiten.

Eine individuelle freie Entfaltung gibt es allerdings nur dann, wenn wir über die gesellschaftliche Selbstvermittlung bewusst und frei verfügen. Aber wie über einen automatischen Prozess frei verfügen? Kurz gefasst: Indem die fetischistische Verkehrung von Bedürfnis und Wert beendet wird. Dann ist der Treiber im Prozess der Selbstvermittlung nicht mehr der Wert, sondern es sind die Bedürfnisse. Dann besteht der gesellschaftliche Vermittlungsprozess „nur“ mehr darin, die unterschiedlichen produktiven wie sinnlich-vitalen Bedürfnisse so zu realisieren, dass sich niemand mehr auf Kosten von anderen durchsetzen kann. Dann wird der automatische gesellschaftliche Prozess zur Bedingung meiner Freiheit, denn dann kann ich darauf vertrauen, dass andere die Bedingungen für meine Bedürfnisbefriedigung mit schaffen. Und dann endlich kann ich Gesellschaft als das erleben, das sie ist: als mit mir Identisches – unterschieden, aber nicht getrennt.

Stefan Meretz
streifzuege.org

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