Digitale Revolution und analoger Wahlkampf in der Provinz Umbruch in Spanien

Gesellschaft

Umbruch in Spanien: Während in der Hauptstadt der arabische Frühling durch die Strassen weht, gibt die Provinz ein anderes Bild ab.

Wahlkampf der PSOE in Spanien, 25. September 2010.
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Wahlkampf der PSOE in Spanien, 25. September 2010. Foto: psoe extremadura (CC BY 2.0 cropped)

16. Juli 2011
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Hier kommt es zum Kulturclash zwischen digitaler Revolution und analogem Wahlkampf. Berliner Gazette-Autor Joerg Offer berichtet von vor Ort:

Schon seit endlosen Minuten scheppert diese unnachgiebige Blechstimme durchs Tal. Der Fahrer eines Lautsprecherwagens hat es sich an der Bushaltestelle, oben an der Dorfstrasse, gemütlich gemacht. Es ist Mittag, also Zeit für ein paar Drinks an diesem weissen Kleinbus, der zwei Mal wöchentlich zwischen Haltestelle und Tankstelle, am Ortsausgang, Halt macht. Schnaps gibt es dort und Kaffee.

Im Stehen rasch drei Brandy gekippt, ein paar barsche Herrenwitze gekläfft und zum Abschluss einen Cortado, für den besseren Atem und die Fahrtüchtigkeit. Das ist das übliche Programm von Männern jeden Alters, bevor man sich wieder ans Steuer seines Lieferwagens setzt und weiteres Tagwerk ins trübe Auge blicken lässt. Seit einigen Wochen lebe ich in diesem spanischen 8500-Seelenstädtchen. Vierhundert Meter über dem Meer, keine Touristen, keine Industrie, keine besonderen Aufregungen, nur dieser 40 Kilometer lange Blick die Küste entlang. Angenehm. Verschlafen. Zutiefst spanisch. Unspektakulär gar.

Echte Demokratie – jetzt!

Zwanzig Kilometer weiter östlich hingegen, in der flirrenden Regionalhauptstadt hinter dem grossen wolkigen Berg, wird seit einigen Wochen demonstriert. Ein wenig zumindest. Wie in vielen Städten des Landes. Democracia Real Ya, Echte Demokratie – jetzt! Eine zutiefst moderne, Twitter und Facebook gestützte jugendliche Revolution, auf der Suche nach einer gerechten Zukunft. Hier in der Region sind fast 45 Prozent der jungen Leute ohne geregelte Arbeit. Dafür überrollt ihr Protest jetzt mittels digitalem Lauffeuer ein völlig überraschtes Land.

Ein im Grunde sehr analoges Land, wie es den Anschein hat. Immer noch krächzt diese monotone Stimme aus den Lautsprechern und verkündet unablässig, das es wohl der Menschen Seelen für immer dem Fegefeuer entrisse, wenn am nächsten Sonntag, bei der so wichtigen Kommunalwahl, an der einzig richtigen Stelle das gottesfürchtige Kreuz gemacht würde. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass der amtierende Bürgermeister, seit fast dreissig Jahren im Amt, das grösste irdische Glück für alle sei.

Von Milch und Honig war, so glaube ich, nicht unmittelbar die Rede. Aber fast. Ein Sozialist von altem Schrot und Korn. Sein ernster, riesiger Schädel starrt mich schon seit Tagen von Plakaten an. Ohne Lächeln. Es gibt kein einziges Foto, das den Bürgermeister lächelnd zeigen würde. Niemals. Obwohl er vor vier Jahren zuletzt 73 Prozenz aller Stimmen erhielt, also fast ein chinesisches KP-Wahlmandat. Beruhigend geklärte Verhältnisse.

Endlich rollt der Parteienscherge mit seiner Propagandabeschallung weiter. Der Brandy würde seinen Heldenmut, auch die entlegensten Winkel mit der erlösenden Botschaft zu verkünden, sicher bestärken und der guten Sache zum verdienten Triumph verhelfen. Seit einigen Tagen schon habe ich Zeit mich an die parteipolitische Beschallung zu gewöhnen. Auch die konkurrierende konservative Partei, sowie ein Bündnis von patriotisch-regionalen Kräften, versucht sich am politischen Klangwerk der Strasse. Keine noch so versteckte Laterne ohne Plakate, riesige Transparente allenthalben, Flugblätter in Briefkästen, aber vor allem Krach. Ständig. Vollkommen analoge Strategien beherrschen den Wahlkampf, trotz überall problemlos verfügbarem Internet.

Personenwahlkampf, auf der Strasse

Festgefahrene Verhältnisse. Bewährt, erfolgreich, kein seltsamer Online-Schnickschnack. Im Netz ist der allmächtige Bürgermeister nur mittels der Gemeindewebsite präsent. Sonstige Aktivitäten sucht man vergebens. Einzig die konservative Opposition unterhält einen Blog und eine Facebookseite, befüllt mit anklagend weinerlichen Vorwürfen über Verfehlungen des Alleinherrschers. Also ein reiner Personenwahlkampf. Ohne Inhalte. Das Übliche: Die einen kreischen aufgeregt, „es kann so niemals weitergehen“, die anderen behaupten ruhigen Tones das Gegenteil, es müsse haargenau alles so laufen und keinen Deut anders. Das nennen sie dann auf Transparenten vollmundig den „Fortschritt“. Aus alter Gewohnheit.

Am Freitag vor der Wahl der Höhepunkt der politischen Fiesta: Autokorsi. Der Bürgermeister an der Spitze eines Fahnen und Ballon geschmückten, hupenden Trosses von gut einem Kilometer Länge. Alles auf die Strasse gebracht, was in irgend einem verwandtschaftlichen Verhältnis oder sonstiger Abhängigkeit steht. Nach dreissig fruchtbaren Jahren im Amt, schliessen sich wohl unzählige Freundschaften fürs Leben. Der konkurrierende Blechkreuzzug der Konservativen PP fällt deutlich kleiner aus, in der Opposition ist halt nicht gut Gefälligkeiten erteilen.

Genau das wird dem Alcalde, so nennt man hier die kleinen Fürsten, auch von juristischer Seite vorgeworfen. Klassische Vetternwirtschaft, undurchsichtige Grundstücksverkäufe, mehrfache Behinderung der Polizeiarbeit sowie der Justiz, Intrigen mitsamt Versammlungsverbot für die Opposition per kurzfristiger Verfügung. Die traditionelle Klaviatur kommunalen Intrigenspiels. Virtuos vorgetragen.

Nun könnte man herablassend und achselzuckend reagieren, abwinken und die Wichtigkeit des Ganzen dem eigenen Klopapierverbrauch gleichstellen. Irrtum. Ein spanischer Bürgermeister besitzt, grade in kleinen Kommunen, weitreichende Macht und Verantwortung. Er ist ein kleiner König. Und wird auch so bezahlt. Unser Alcalde hier erhält, alles in allem, ein fünfstelliges Monatsgehalt und schart eine „Verwaltungsregierung“ von zwanzig Menschen um sich. Bei 8500 Einwohnern wohlgemerkt!

Wahlkampfgetöse am heiligen Sonntag

Am Samstag vor dem grossen Showdown bleibt es gespenstisch ruhig. Traditionell der „Tag der Besinnung“, ohne Wahlkampfgetöse. Die Demonstrationen der jungen digitalen Revolte sind für heute offiziell untersagt, finden aber letztlich doch statt, ohne Konsequenzen. Natürlich nicht hier im Campo. Ich schlendere durchs Örtchen, betrachte alle Plakate noch einmal sehr eindringlich, das feiste Antlitz des Mächtigen und auch das Profil des Gegenkandidaten. Eine Art Sparkassen-Filialleiter, etwa zwanzig Jahre jünger, etwas farblos und vor allem: Er lächelt sogar ein wenig! Ob das gut gehen kann?

Mein Blick wandert über vor kurzem tadellos geteerte Strassen, neu angelegte Bürgersteige und das im Herbst für viele Millionen erbaute öffentliche Sport- und Freizeitzentrum, samt Schwimmhalle. Unmittelbarer kann Kommunalpolitik nicht vor Augen geführt werden. „Seht her, ich liebe euch alle“, soll es sagen. Ganz handfest und steinern. Dergleichen bleibt hier sicher nicht ungehört.

Den Wahlsonntag verbringe ich als Stimmrechtloser am Meer, weit weg vom Getöse. Kinder, Grossmütter, Touristen und auch ich, alle friedlich, fröhlich und erschreckend nüchtern, losgelöst vom Schrecken der Politik. Der Schnapsausschank im Kleinbus hat wohl ebenfalls Feiertag. Erst im Dunkeln kehre ich irgendwann zurück und erfahre durch die Medien, das die sozialistische Regierungspartei PSOE auf kommunaler Ebene landesweit abgestraft wurde. Langsam wird mir Angst und Bange um unseren Stadtvater, den guten Hirten.

Sollte die digitale Revolution auch hier die Verhältnisse auf den Kopf gestellt haben? Nicht auszudenken. Irgendwann in der Nacht dringt das mit Spannung herbeigezitterte Ergebnis zu mir vor. Natürlich auf digitalem Wege. Auf der Website einer spanischen Zeitung: Punktlandung. Exakt 73 Prozent der Stimmen. Wie vor vier Jahren. Demokratie eben. Weit nach Mitternacht teilen sich die Anhänger und Kostgänger unseres Bürgermeisters schliesslich noch mit und verkünden die immens frohe Botschaft. Nach alter Väter Sitte natürlich. Ganz und gar analog. Mit einem sehr lautstarken Feuerwerk. Ob es gar exakt 73 Böllerschüsse waren? Lang lebe unser Alcalde!

Joerg Offer
berlinergazette.de

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