Der Takt des Zuges S-Bahn Nr. 8
Gesellschaft
Müde nach der Arbeit. S-Bahn. Ich fahre zur Pseudo-Ruhe. Deutschland-Gesichter zwischen 17 und 88, drücken die Ärsche fest auf die Sitzplätze. Das Volk sitzt einig. Der Zug hält in Neuss.
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7. September 2016
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Der im Takt des Zuges mitschwingende Mann fragt die vor ihm sitzenden Deutschen höflich, ob sie nicht einer Mutter mit Kleinkind auf dem Arm einen Sitzplatz gönnen könnten. Das Volk glotzt, schweigt zunächst vorsichtshalber. Gemeinheiten müssen erst im Hinterkopf gesammelt werden. Doch dann geht es los: „Widerlich.“ „Wir arbeiten den ganzen Tag. Da sitzen wir hier soviel herum, wie wir wollen!“ „Was suchen diese Leute hier?“ „Geht doch dorthin, wo ihr hergekommen seid!“
Der Zug mit der Arbeiterklasse und den Rentner/innen hält in Büttgen. Im Waggon wird ein Sitzplatz frei. Der Zug fährt an, die Frau mit dem Kind will den Sitzplatz erreichen. Muss an einer jungen Frau mit Brille vorbei. Die junge Frau schiebt den Fuss in den Gang, streckt die Ellbogen nach aussen. Die junge Mutter, das Kind auf dem Arm, stolpert und muss sich anhören: „Pass doch auf. Kuck doch, bevor du losgehst. Versau mir nicht meine Lederjacke. Sau du.“
50 Menschen im S-Bahnwaggon hören und sehen die gleiche Unverschämtheit. Ich leide, wäge ab, fühl mich feige und schwach, dann stark, merke das Wasser in den Augen. Sag dann doch, hinein in diese Ach-bald-gibt's-RTL-Programm-Gesichter: „Früher wär dies eine deutsche Mutter und ein deutsches Kind gewesen. Ganz Deutschland hätte ihr, judenfrei natürlich, einen Sitzplatz angeboten.“
Schaffner-her-Geschrei! Unverschämtheits-Proteste. Wir mussten kämpfen, nicht aus der S-Bahn entfernt zu werden. Die Lichterketten-Gesichter, die hätten helfen können – aber die waren wohl alle mit dem PKW unterwegs!