Proletarische Welten Bis ins Vergessen abstrahiert

Gesellschaft

Ich sitz am Frühstückstisch, aus dem Radio schallern bescheuerte Durchhalteparolen, obwohl oder gerade, weil es erst acht Uhr morgens ist. Es gibt Brot von LIDL.

Lidl, Januar 2018.
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Lidl, Januar 2018. Foto: Robert Cotič (CC BY-SA 4.0 unported - cropped)

18. März 2019
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Korrektur
Leider habe ich vergessen, es in der Brotschneidemaschine im Supermarkt schneiden zu lassen, drum muss ich selber ran, was sich schwierig gestaltet, da dieser verfickte Scheisslaib in tausend Teile zerbröselt. Wenn man es zwischen den Fingern zusammendrückt und rum rollt, sieht es aus wie Popel. Unter fünf Scheiben werde ich auf jeden Fall nicht satt. Ich muss an so eine Geschichte denken, die ich irgendwo gehört hab, in der so ein Bäcker im Mittelalter voll Ärger bekommen hat, weil er Sägespäne unter den Brotteig gemischt hat. Aber das Brot ist günstig und WG-Kassen-kompatibel. Ich schmiere mir irgendwas auf den bröseligen Lappen drauf, stopf ihn in mich rein und sprinte zur U-Bahn, gleich fängt Uni an.

In der U-Bahn muss ich an das Gespräch denken, das ich am Vorabend mit einer Freundin geführt habe. In dem Gespräch ging es um unsere Kindheit und frühe Jugend. Sie hat von ihrer erzählt, ich von meiner und wir haben uns gegenseitig mit unseren Erzählungen an die eigenen Erfahrungen erinnert.

Sie hat erzählt, wie ihre Mama manchmal wütend vom Bankomaten zurück ins Auto kam. Es kam einfach kein Geld mehr raus.

Ich habe erzählt, wie der Mann, der damals mein Vater war, mit anderen Frauen als meiner Mama gefickt hat und dann abgehauen ist und das Auto einfach mitgenommen hat. Wie meine Mama mit meinen Geschwistern und mir in einem uralten Haus ohne Zentralheizung, dafür mit Holz- und Ölöfen, im tiefsten Hinterland ohne Öffis weit und breit klarkommen musste. Wie mein damaliger Vater sich vorm Gericht als besonders armselig rausputzte und sich arm rechnete, um keine Alimente zahlen zu müssen, während meine Brüder und ich mit ihm in den Sommerferien zu meinen damaligen Grosseltern in die Toskana fuhren und sie auf ihrem Weingut mit Pool und Ferienhaus besuchten – ohne meine Mama. Und wie ich mich heute noch oft dafür schäme.

Sie hat erzählt, wie ihre Mama putzen ging bei den Eltern ihrer Mitschülerinnen.

Ich habe erzählt, wie meine Mama putzen ging, bei der Mutter meines Freundes. Wie seltsam ich das fand. Wie ich mich irgendwie schämte. Wie wir irgendwann plötzlich original Monte von Zott und Bueno und KinderCountry und noch viel mehr im Kühlschrank hatten und ich nicht verstehen konnte, wie man für 50 Cent eine ganze Tasche voll mit Essen bekommen konnte. Was die Tafel ist, wusste ich bis dahin nicht. Ich habe erzählt, wie ich an den ersten Schultagen nach den Sommerferien in den kleinen Dorfladen ging, um Hefte, Stifte und Hefteinbände zu kaufen und wie enttäuscht und auch sauer meine Mama war, als ich heimkam und sie erfuhr, dass ich vergessen hatte, den Kassenzettel mitzubringen – das war ein kleines Drama, denn so konnte sie die 15 oder was weiss ich wieviel Euro nicht mehr beim Amt einreichen und sie waren verloren.

Sie hat erzählt, wie ihre Mama manchmal vor Erschöpfung umgefallen ist.

Ich habe erzählt, wie ich mich fast nicht getraut habe, meiner Mama zu sagen, dass ich mir zu Weihnachten eine Markenjeans aus dem titus – Katalog wünsche. Ich habe mich geschämt und hatte Angst vor ihrer Reaktion. Warum weiss ich gar nicht mehr genau. Ich glaube, dass ich nicht nur befürchtete, dass sie mir erklären würde, dass dafür kein Geld da sei. Ich habe mich wohl auch fast nicht getraut, weil ich Angst hatte, dass sie enttäuscht ist. Dass sie traurig ist. Ich kann es heute nicht mehr genau sagen, aber ich bekam die Hose dann von meinem damaligen Vater. Ich trug sie täglich und nachdem ich sie gewaschen hatte, habe ich sie über meinem Ölofen im Zimmer getrocknet, damit ich sie am nächsten Tag gleich wieder anziehen konnte.

Mir fallen diese Erinnerungen nur selten ein. Wenn ich ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen bei facebook stalke, weil ich zufällig über sie stolpere und mir erst das mit Profilnamen markierte Foto wieder die Existenz dieser Personen ins Gedächtnis ruft, dann werden mir auch manche Scheisserinnerungen an die Schule wieder bewusst. Dass ich zum Beispiel nie der coole sein konnte, weil ich auch noch nicht mal erahnen konnte, welcher coole Trend dem vorausgegangenen folgte. Andere konnten das scheinbar, auf jeden Fall trugen sie Jeans aus dem titus-Katalog.

Irgendwie waren die mir immer einen Schritt voraus. Bevor ich dann Punk und nonkonform wurde – und deswegen auch nicht mehr versuchte, den Coolen nachzueifern, sondern mich isolierte, zuvor also – hatte ich mal ein Jahr, in dem ich es in den engeren Kreis geschafft hatte und auf Partys eingeladen war. Dabei war ich aber nicht so richtig. Manche in der Klasse hatten nämlich nicht nur coolere Jeans, sondern auch coolere, grössere Zimmer in cooleren, grösseren Häusern. Ich hab nie Leute zu so einer Party eingeladen und hätte mich auch geschämt. Aber zum Glück wurde ich Punk und fands dann cool und mir wars dann ja auch egal.

Ich schau aus dem U-Bahnfenster, sehe eine U-Bahnkontrolleurin und springe eine Station zu früh raus, weil ich kein Ticket hab. Den Rest laufe ich. In der Uni angekommen, versuche ich alles für die Prüfung Relevante mitzukriegen und hab schnell keine Lust mehr, ich bin ohnehin noch erschöpft, weil ich am Vortag arbeiten musste. In der Vorlesung geht's um therapeutische Hilfen.

Ich denke an meine Psychotherapie und meine Depression und wie scheisse das war und manchmal noch ist. Ich frag mich, womit mein immer wiederkehrender Weltschmerz und die massiven Schwierigkeiten in meinen Beziehungen mehr zu tun hat: mit Dingen von früher – Stichwort Bindungsstörung – oder mit heutigem Stress oder damit, dass ich Linker bin und deswegen eh alles scheisse finden muss? Ich checke die Nachrichten auf meinem Handy. Ein Freund fragt mich, ob ich heute Zeit und Bock hab, abzuhängen. Mich überfällt ein beklemmendes Gefühl. Ich hätte vielleicht schon irgendwie Zeit und Lust in jedem Fall, aber andererseits wäre da auch noch dies und das für die Uni zu erledigen und andererseits brauch ich auch einfach mal nur Zeit für mich, das zeigt mir meine Psyche eigentlich mehr als deutlich in den letzten Wochen.

Ich antworte ihm gar nicht und überlege mir, ihm erst in zwei Stunden zu antworten, wenn es zu spät ist, um uns zu treffen. Ich vollziehe komplizierte Handybefehle, um nicht versehentlich seine Nachricht zu öffnen. Sonst verraten ihm ja die zwei Haken, dass ich es gelesen habe. Ich fühl mich schäbig. Irgendwann wird das wieder besser und ich habe mehr Zeit, rede ich mir ein und glaube es mir nicht. Die Vorlesung ist zu Ende, ich rauche eine mit den Anderen, die das Studium grad auch unfassbar belastend finden – eine Mitstudentin erzählt ziemlich gefasst, aber traurig, dass ihr Freund sich gestern getrennt hat, weil die Beiden kaum mehr Zeit füreinander aufbringen konnten: Arbeit und Studium haben sie zu sehr gefressen.

Am Abend sitze ich in der linken Szenekneipe ums Eck, trinke Bier und wir reden mal wieder darüber, wie wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Erde organisieren könnten und spinnen Ideen, die grossartig klingen, aber bestimmt alles andere als neu und innovativ sind und jemand sagt mir, dass wir die Arbeiterklasse viel zu lange vernachlässigt hätten. Woran das läge? Weil wir Linken doch alle privilegiert seien, weil wir ein Haufen Akademiker seien und gar nicht wüssten, wie hart das Leben ist. Ich stimme zu, denn es klingt superreflektiert und vergesse, wie wütend mich solche Sätze machen und wie ungeduldig mich die Realität macht.

Nico Schreiber
autonomie-magazin.org