Postfaktisch: Das internationale Wort des Jahres Postfaktotum
Gesellschaft
Es ist seltsam, wie sich eigene Gefühle, eigene Beobachtungen, eigenes Gehörtes in einem Terminus bündeln, auf den ich selbst nicht gekommen bin.


Postfaktisch: Das internationale Wort des Jahres. Foto: Maurizio Pesce (CC BY 2.0 cropped)
Für mein Staunen über die fröhliche Bereitschaft, nichts Genaues mehr wissen zu wollen. Für mein Entsetzen, dass Entscheidungen „aus dem Bauch“ schwerer wiegen als auf Fakten gegründete Entscheidungen. Für meine Resignation: Wenn schon jeder Ganz-, Halb- oder Zehntel-Promi damit Punkte macht, dass er Mathematik, Chemie, Physik hasst, dass er sein Studium abgebrochen hat, nicht weiss, wann der Zweite Weltkrieg endete und trotzdem erfolgreich geworden ist, dann muss der Planet Erde vor seiner Zeit erlöschen. Nun mal runterkommen.
Nun mal langsam, mal faktisch. Es gibt, ich bin optimistisch, immer und immer wieder Menschen, die aufwachsen und von Aristoteles, Diderot, Newton, James Watt, Darwin, Marx, Turing einiges in ihre Hirne downloaden. Es gibt, ich bleibe optimistisch, genügend Menschen jeden Alters, die einen Wallach nicht für einen Zuchthengst, die Milka-Kuh nicht für das Abbild einer Milchkuh und das Eis auf einem See nicht für ausserirdische Klodeckel halten.
Ich bin mir sicher, optimistisch wie ich sein möchte, dass die meisten Menschen doch wissen, dass Jesus ans Kreuz geschlagen wurde (obwohl, Zweifel sind erlaubt; falls es alle Christen wissen, wäre schon schön), Gagarin ins All flog, Napoleon bei Waterloo endgültig geschlagen wurde und Gummibärchen nicht die niedlichen Geschwister der Eisbären sind. Ich glaube sogar an die Zukunft der Oper, der menschlichen Zunge, des Riesling-Weines, des Waldes und – nun ja, sogar an die Zukunft der Menschheit.
„Postfaktisch“. „Postfaktisches Zeitalter“. Ich bin dabei und bin doch verunsichert. Ich hörte auch schon vom „Postfeminismus“. Zu schweigen von all den „Generationen XYABCDEF …“ „, „Fräuleinwundern“ in der Literatur, und gab es nicht auch schon mal die Sache mit dem Eigen-Urin? Aber das mit dem „Postfaktischen“ geht tiefer, glaube ich. Die britische Wörterbuchreihe Oxford Dictionaries hat am 16. November 2016 ihr internationales Wort des Jahres bekannt gegeben: „post-truth“, auf Deutsch übersetzt mit „postfaktisch“.
SPIEGEL, ONLINE dazu: „Das Redaktionsteam wähle immer ein Wort aus, welches das vergangene Jahr am besten reflektiere, heisst es in der Begründung.“ Und die Verwendung des Begriffs „postfaktisch“ habe seit 2015 ungefähr um 2000 Prozent zugenommen. Ein Wort, das das vergangene Jahr am besten reflektiert. Der Begriff definiere die Beschreibung von „Umständen, in denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die Bildung der öffentlichen Meinung haben als Bezüge zu Gefühlen und persönlichem Glauben“. Schade.
Irgendwie zu kurz, zu einfach, zu kurzatmig. Für mich. Ich habe seit, ja seit über 20 Jahren das Gefühl, in einem „postfaktischem Zeitalter“ zu leben. Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur um die „öffentliche Meinung“, sondern um das gesellschaftliche Bewusstsein geht. Ein entsetzliches Gefühl. Jetzt müsste ich faktisch werden. Und recherchieren und auflisten, welche Esoteriker, Sekten, Langweiler, Demagogen, Emotionalisten aller Länder, Pillendreher, Geschichts- und Wissenschaftsfälscher und andere mehr u. ä. unterwegs sind, um in der „postfaktischen Gesellschaft“ die Guides durch das Leben der Menschen zu sein.
Von Menschen, die sich vom eigenen Verstand verabschieden und ihn delegieren. Oder ihn nie gebraucht haben? Oder ihn nie hatten? Weil es genügend „postfaktische Verführer“ gibt? Oder „postfaktische Führer“? Als Postfaktotum kommt man ins Grübeln.
01.02.2017
- Was für ein kometenhafter Aufstieg für ein erst kürzlich erfundenes Adjektiv!
mehr...13.04.2023
- Erwarte ich zu viel vom Schauspiel, vom Theater? «Der Volksfeind» fordert mich als politisches Individuum heraus. Doch soll das Theater das tun?
mehr...19.10.2020
- Aus dem Libanon, diesem geschundenen Stück Erde, das so viel Krieg und Elend, Massaker und Verbrechen an der Menschlichkeit gesehen hat und in dem immer wieder “das Leben als Revolte” im Sinne von Camus begriffen werden muss (oder kann), kommen derzeit die vielleicht schönsten, klügsten, traurigsten, wütendsten und mutigsten Texte dieser Tage.
mehr...Podcasts zum Artikel
15.02.2017 - „Wie rational sind unsere Entscheidungen wirklich?“ fragt sich der Preibisch in seinem aktuellen Selbstgespräch und beschreibt dann, wie wir unsere Entscheidungen fällen.
22.12.2016 - Das Wort „postfaktisch“ ist dank Donald Trump und der AfD seit etwa einem Jahr in aller Munde.
Mehr auf UB online...
29.09.2023
- Nach den Anschlägen am 11. September gab es in ideologiekritischen Kreisen einen Bruch – die intellektuelle [...] mehr...23.09.2023
- „Geliefert“ erzählt von einem Vater-Sohn-Gespann, das eine Krise nach der anderen zu überwinden hat. Die [...] mehr...