Leben in einer Bubble Psychologische Funktionsweise von Verschwörungstheorien

Gesellschaft

Der Ursprung der folgenden Mechanismen liegt in der Wahrnehmungspsychologie.

Demonstration von und Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen als Vorabend Demo am 31. Juli 2020 in Berlin.
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Demonstration von und Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen als Vorabend Demo am 31. Juli 2020 in Berlin. Foto: Leonhard Lenz (PD)

27. Dezember 2021
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Setzen wir voraus, dass Menschen wie Tiere funktionieren, die sich auf den Erhalt ihrer Spezies konzentrieren, bedeutet das, dass wir als “wichtig” abspeichern, was für uns lebenserhaltend ist.

Die menschliche Wahrnehmung konzentriert sich also nicht hauptsächlich auf “die Realität”, sondern auf den nutzungsgebundenen Teil der Realität. Es gibt also den sensorischen Teil, den Input, der von unserem Hirn interpretiert wird und aus dem das Hirn Hypothesen bildet. Diese Hypothesen sind das, was wir dann als Realität erfahren.

Der Teil von unserem Hirn, der die sensorischen Inputs interpretiert, ist hyperaktiv. Das bedeutet, dass das Hirn versucht, so viele Muster wie möglich zu erkennen. Dabei werden teilweise zu viele Muster erkannt. Zum Beispiel wird im Dunkeln oft Gefahr interpretiert, die nicht dort ist. (Ein Haufen Kleider im Dunkeln wird zum Menschen, der mit einem Messer wartet.) Je unklarer und unbekannter die sensorischen Inputs sind, desto aktiver werden Muster gesucht und Hypothesen gebildet. Aus diesen Mustern/Korrelationen werden auch Kausalzusammenhänge geknüpft, wo keine sind. (Bsp: Mehr Fälle von sexueller Gewalt werden gemeldet, was an der steigenden Einwanderungsquote liegen.)

In einer Existenz als Fluchttier ist es besser, einen fehleranfälligen aber sehr sensiblen Apparat zu haben. Das kann jedoch zu einer Wahrnehmungsverschiebung führen, welche das Verständnis von “Realität” massgeblich beeinflusst. Wenn das Hirn lange in einer Situation ist, in der viele Hypothesen gebildet werden, wie beispielsweise in einer gesellschaftlichen oder persönlichen Krise, fangen die verschiedenen Hypothesen an, sich gegenseitig zu erklären und zu verstärken. So entsteht durch das Deutungsnetz ein Bild der Welt und der Gesellschaft, welches hauptsächlich aus Hypothesen besteht und nicht mehr direkt mit der tatsächlich erlebbaren Situation zusammenhängt. Durch solche Mechanismen entstehen Verschwörungsideologien.

Eine Verschwörungsideologie ist daran erkennbar, dass nicht (wie bei einer Verschwörungshypothese) ein begründbarer Verdacht ergebnisoffen diskutiert oder ermittelt wird, sondern vorauseilend jede Ungereimtheit in das bestehende Deutungsnetz eingebaut wird. Besteht diese Weltanschauung über eine längere Zeit werden nur noch Informationen gesucht und aufgenommen, welche das Deutungsnetz bestätigen und verstärken.

Gesellschaftlich komplexe Krisen lösen bei Menschen existenzielle Ängste aus. Es ist oft unmöglich, die Ursache für die Krise genau zu erkennen, da es oft keinen einzelnen Faktor gibt, welcher alles bestimmt. Zusätzlich dazu ist es unmöglich, die Krise zu ignorieren oder ihr zu entkommen. Das bedeutet, die Ängste sind allgemein und nicht lösbar. Deswegen fangen einzelne Menschen an, die Angst, die sonst lähmend wäre, durch die oben erwähnte Art zu kontrollieren.

Dieser natürliche Mechanismus des menschlichen Hirns wird von rechten politischen Akteuren instrumentalisert. Die Ängste von Menschen sind diffus, emotional und allgemein und können einfach, beispielsweise durch populistische Propaganda, kanalisiert werden, um Misstrauen und Hass zu schüren. (Siehe dazu z.B. Angst und Macht von Rainer Mausfeld, 2019.)

Durch diese psychologische Funktionsweise von Ängsten treten rechte Propaganda, Sündenbockpolitik und Verschwörungsideologien fast immer zusammen auf. Sie sind abhängig voneinander. “Wir” sind bedroht von “ihnen”, die etwas Böses planen. Läuft dieser Prozess über lange Zeit und ununterbrochen, wird zumindest bei einem Teil der Bevölkerung eine Realität erzeugt, die nur aus ihren Ängsten und Feinden besteht. So kann auch ein faschistisches Weltbild entstehen, in dem Volkstribunale nötig sind um gegen den allgemeinen konstruierten Feind vorzugehen. Die Saat faschistischer Ideologie sind geschürten Ängste.

Auf der anderen Seite dieser durch Angst und Hilflosigkeit betriebenen Mustererkennung ist eine strukturierte Methodik, mit deren Hilfe Menschen komplexe Gegenstände nahe an der Realität erfassen können (z.B Materialismus, Erkenntnistheorie, Wissenschaftliche Methode).

Die hyperaktive Mustererkennung ist auch ein Grundstein für positive Eigenschaften von Menschen. So entsteht die Fantasie, werden Geschichten geschrieben und Kunstwerke geschaffen. Wichtig ist aber, dass man unterscheiden kann, auf welche Gegenstände man diese “automatische” Mustererkennung (oft “Bauchgefühl” genannt) anwenden kann oder soll, und wann man auf eine strukturierte Methodik angewiesen ist.

So wäre es eine schlechte Idee, zwischenmenschliche Beziehungen nach einer strukturierten Methodik zu betreiben, oder Kunst darauf anzulegen, die Realität möglichst genau abzubilden. Auf der anderen Seite ist es eine schlechte Idee, komplexe ökonomische Krisen mit dem “Bauchgefühl” zu erklären oder zu lösen.

Die Erklärung der Welt anhand des Bauchgefühls ist sehr einfach und braucht nicht viel Arbeit. Ausserdem löst jede Bestätigung, die man in seine Weltansicht einbauen kann, eine Belohnungsantwort im Hirn aus. So fühlen sich Menschen, die keine Hypothesen testen oder neue Erkenntnisse schaffen dann schlauer und besser als alle anderen. Menschen, die in die Echokammer der rechten Verschwörungsrhetorik abdriften haben auch das Gefühl, so die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.

Diese Prozesse laufen dank neuer Kommunikationsmöglichkeiten deutlich schneller ab. Im Internet werden Menschen isoliert von Informationsquellen die sie beruhigen würden, und mit einem unüberschaubaren Strom an neuen, panikschürenden Falschmeldungen überwältigt. Dann, wenn sie selbst anfangen, Hypothesen aufzustellen erfahren sie positive Rückmeldungen und das Gefühl, die Krise verstanden zu haben. Diese Erkenntnis schafft Zugehörigkeit zu der innere Gemeinschaft von Wissenden, die gegen das gemeinsame Feindbild kämpfen. Psychologisch ist das sehr beruhigend, auch wenn keine tatsächlichen Erkenntnisse erlangt wurden.

bgr
buendnisgegenrechtsabbiegen.ch

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