Erinnerungsbilder und Sichtblenden Landschaft

Gesellschaft

Immer das Gefühl des Getrenntseins, wenn ich ICE fahre, und immer das Verlangen nach Vereinigung: Was wenn der Zug jetzt auf offener Strecke hielte – an einem Feldrain, einem Wiesengrund?

Ein ICE 1 im Hildesheimer Wald, im Schnellfahrstreckenabschnitt zwischen Göttingen und Hannover, auf dem Weg nach Norden.
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Ein ICE 1 im Hildesheimer Wald, im Schnellfahrstreckenabschnitt zwischen Göttingen und Hannover, auf dem Weg nach Norden. Foto: Jakfei (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

8. Mai 2022
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Drei Stunden Pause: sich die Beine vertreten, im Gras liegen und friedlich in den Himmel schauen. Wer käme zurück? Wer käme nicht zurück? Ich nicht, denke ich, raffe meine Schösse und sehe mich über die Wiese laufen, immer schneller und schneller, bis ich falle: „Nature, nature, I'm your bride. Take me!“*

Ein Erinnerungsbild. Als Neunzehnjähriger stehe ich am geöffneten Fenster eines Intercity-Express, in einem leichten Leinenanzug, ein Beau, ein Träumer, braungebrannt & blondgelockt, ich rauche, ich halte meine Gesicht in den Fahrtwind und blicke auf ein Gestade irgendwo zwischen Bonn und Koblenz, das in den schrägen Spätsommersonnenstrahlen so aufreizend daliegt wie ein Weib. Wie hiess es nochmal? Ich las im Vorüberfahren den Namen auf einem Bahnhofsschild, es klang Französisch, ich glaube, es war Namedy ...

Adorno/Proust. „(…) wenn man als Kind in Ferien ist und Namen wie Monbrunn, Reuenthal, Hambrunn liest oder hört, dann hat man das Gefühl dabei: wenn man dort wäre, an diesem Ort, da wäre es. Dieses „es“, – was das „es“ ist, ist ausserordentlich schwer zu sagen; man wird, (…) darin den Spuren Prousts folgend, wohl am ehesten sagen können, dass es das Glück sei. Wenn man dann an einen solchen Ort hingelangt, dann ist es dort auch nicht, dann hat man es nicht. Sehr oft sind das dann ganz törichte Dörfer. Und wenn in ihnen überhaupt noch eine Stalltür offen ist und es nach einer lebendigen und wirklichen Kuh und Mist und ähnlichen Dingen riecht, woran wohl auch diese Erfahrung haftet, dann muss man schon sehr dankbar heutzutage sein.“*

Mache Jan gegenüber eine Bemerkung in diese Richtung, als ich ihm meine Flugangst gestehe, irgendwas über die sinnliche Erfahrung des Raums, er lacht nur. „Das ist doch voll geil, ich setz mich ins Flugzeug und nach ein paar Stunden bin ich in einem ganz andrem Land.“ Es stimmt. Vielleicht wird das Reisen in Zukunft ja wirklich wie eine Operation sein, von der man nichts mitbekommt; etwas der Erfahrung gänzlich Enthobenes, das dem Leben etwas Traumartiges verleiht, als ob man zum Ortswechsel nur die Augen zu schliessen bräuchte. Ich sehe mich im Abteil um: Die Leute machen an ihrem Handy bzw. Notebook rum – oder schlafen. Viel zu sehen gibt es ja auch nicht mehr, wir sind auf den Trassen; Schallschutzmauern, Tunnel, nur zwischendurch ein Stück Ferne ...

Sichtblenden (Peter Kurzeck). „Es gab in Giessen ein Bahnhofsbrückchen, das war etwas sehr Besonderes, das war aus Sandstein mit einer hohen schönen Treppe, die sich nochmal teilt, und einem kleinen Weg für Fahrräder und Karren, der sich neben der Treppe hochschlängelt und oben auch auf das Brückchen kommt. Die Brücke war genau wie der Bahnhof aus Sandstein, aus sehr schönem altem dunklem Sandstein, und mit einem schmiedeeisernen Geländer, einem Gitter, auch eine Eisenkonstruktion, die die Brücke hielt. Wenn man über diese Brücke ging, es war der einzige Ort in der Stadt, wo man sehr weit nach Südwesten sehen konnte, man konnte also eigentlich, man konnte den Sonnenuntergang sehen, je nachdem welche Jahreszeit war, war er entweder ganz links, oder weit nach Norden hin rechts dann eben, und man konnte eigentlich dort auf diesem Bahnhofsbrückchen zuerst sehen und wissen, der Frühling kommt, der Frühling kommt bald. Dann haben sie, obwohl ohne Not eigentlich, obwohl so eine Brücke ewig hält, wenn man die Sandsteinfugen pflegt und den Sandstein gelegentlich reinigt und vielleicht prüft, ob das Eisen noch seine Tragfähigkeit hat, haben sie die Brücke abgerissen und eine Betonbrücke hingemacht, die nach fünfzehn Jahren wieder abgerissen wurde, also weil sie einfach nicht länger gehalten hat, nochmal eine Betonbrücke gemacht und die mit Sichtblenden versehen, dass man also, wenn über diese Brücke jetzt geht, die abstossend hässlich ist ohnehin, dass man durch diese Sichtblenden nicht mehr die Bahnhofsausfahrt entlang in die Ferne sehen kann – das ist wirklich ein Anblick wie im Hafen, wie wenn man in Hamburg auf den Landungsbrücken steht oder so, also man sieht, da ist die Ferne und da steht man selbst, und man steht da, um die Ferne sehen zu können, auch damit man sie nicht aus den Augen verliert, damit man weiss, die Ferne, die gibt es. So wie man ja in der Stadt ständig eigentlich auch von der Nähe und der Stadt und der Enge umgeben ist, Giessen ist so eine Stadt, in der es einem ganz schwerfällt, eigentlich ein freier Mensch zu bleiben, also man muss es ständig im Auge behalten, dass man nicht nur Staatsbürger und Arbeitnehmer und Steuerzahler und was immer noch ist … Fahrzeughalter … Führerscheininhaber, sondern dass man ein Lebewesen ist, das für sich selbst auf der Welt ist.“*

Jan, der grosse Angst vor Putin hat, würde sofort desertieren, wenn die Russen hier einmarschierten, er weiss schon wohin: nach Spanien. Ich bin verblüfft: Und wer verteidigt dann Deutschland? Keine Ahnung, sagt er, ich auf jeden Fall nicht. Ich bin ratlos. Ich lese nochmal den Essay von Karl Heinz Bohrer mit dem tocotronischen Titel „Kein Wille zur Macht“ aus dem Jahr 2007, dort steht es bereits: „Der Wille der deutschen Bevölkerungsmehrheit, befragt, ob sie das Land im Falle einer feindlichen Invasion zu verteidigen bereit sei, ist so dubios, dass man den vor einigen Jahren bekanntgewordenen Satz eines namhaften Universitätsphilosophen – „Lieber rot als tot“ – inzwischen als eine Regel zu nehmen hat: lieber die Besetzung des Landes hinnehmen, als bei seiner Verteidigung zu sterben.“*

Der Freund meiner Schwester, ein Grieche, setzt mir einen komplexen Gedanken auseinander, ich habe Mühe zu folgen, er verfügt über einen reichen Wortschatz, doch seine Aussprache ist so verwaschen wie die von A. Kluge, ich verstehe die einzelnen Argumentationsschritte nicht richtig, aber es läuft darauf hinaus, dass Deutschland nach 45 politisch in eine Richtung gelenkt worden sei, sich weniger als Nation, sondern als Unternehmen zu verstehen. Okay, das leuchtet mir ein: Für ein Unternehmen setzt man sein Leben nicht aufs Spiel.

In der U-Bahn-Station Theresienstrasse sehe ich ein grosses Werbeplakat mit der Aufschrift: „Kein Bock mehr auf silly german?“ Ein Patient von mir, der gerade aus Dubai zurückgekommen ist, wo seine Eltern leben, sagt mir, das Grün der Wiesen und all die Farben der Blumen und Sträucher tun ihm fast weh in den Augen – so schön sei der Frühling. Zuhause fühle er sich aber auch hier nicht.

Heute ist jede/r entwurzelt.

Adorno wollte einfach dorthin zurück, wo er seine Kindheit hatte; nicht nur deswegen, vor allem wegen der deutschen Sprache, die für ihn eine besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie besass. Amerika mochte er nicht. In Paysage schreibt er über den Highway:

„Es ist, als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren. Sie ist ungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weise ihrer Wahrnehmung. Denn was das eilende Auge bloss im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren abgehen.“

MAS

Fussnoten:

* Tilda Swinton © Orlando (1993) – „Nature, nature, I'm your bride. Take me!

* Adorno am 29. Juli 1965 in seiner Frankfurter Vorlesung über Begriffe und Probleme der Metaphysik.

* Ein Sommer der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit. supposé 2007.

* Sonderheft Merkur Heft 8/9, August/September 2007, 61. Jahrgang, S. 659-667, hier: 661.