Ein Zwischenruf zur Kritik an „kultureller Aneignung“ Woke as fuck?

Gesellschaft

Abriss von Zeltunterkünften und Verhüllungspflicht für Dreadlocks: Der innerlinke Kampf gegen kulturelle Aneignung treibt bizarre Blüten.

Das Schild in Lützerath.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Das Schild in Lützerath. Foto: Rüdiger Haude

7. September 2022
11
0
9 min.
Drucken
Korrektur
An einem Sonntag im Oktober schlenderte ich über das Camp der Aktivisti in Lützerath. Dort ist im Moment der Hotspot der Kämpfe gegen die Braunkohle und gegen die von dieser bewirkte Klimazerstörung. Es war grossartig zu sehen, was hier in den letzten Monaten an Infrastrukturen entstanden war: Holzgebäude am Boden, die dem Platz den Flair einer Westernstadt verleihen, flankiert von zahlreichen Baumhäusern in den Bäumen, welche den Platz umsäumen. Die Leute, die den letzten standhaften Bauern von Lützerath unterstützen und von ihm unterstützt werden, verstehen sich im Grossen und Ganzen als anarchistisch. Das heisst, das Camp wird durch Selbstorganisation, konsensuelle Plenarentscheidungen und „safe spaces“ für strukturell benachteiligte Gruppen strukturiert. Wie schon bei den temporären Klimacamps der Vorjahre ist es schön zu erleben, wie gut radikaldemokratische Selbstorganisation funktionieren kann.

Dennoch schreibe ich dies, weil ich etwas kritisch anzumerken habe. Konkret gesagt habe ich den Eindruck gewonnen, dass der gute Impuls, Ausbeutungsverhältnisse nicht nur im Klassensinne zu reflektieren, sondern auch im Sinne der Genderverhältnisse und der ethnischen Identitäten, dabei ist, ziemlich aus dem Ruder zu laufen. Und zwar kam ich an einem Schild vorbei, auf dem in deutscher und englischer Sprache folgende Aufschrift zu lesen war:

„An dieser Stelle standen Tipi-ähnliche Zelte. Aufgrund von kultureller Aneignung haben wir uns dazu entschieden, sie abzubauen. Wir sehen uns in der Verantwortung, uns weiterhin damit auseinanderzusetzen. Um diesen Prozess sichtbar zu machen, steht dieses Schild hier.“

Zunächst möchte ich betonen, dass dieser offene Umgang mit dem Sachverhalt zu den bewundernswerten Seiten der Lützerather Anarcho-Gemeinschaft gehört. Und ich halte „Wokeness“, also das wache Bewusstsein für alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung, für eine wichtige Errungenschaft. Aber die Verwendung der Kategorie „kulturelle Aneignung“ hat mich hier geschmerzt. Wir dürfen keine Tipi-ähnlichen Zelte bauen, weil wir damit – ja wem eigentlich – zu nahe treten? Hat sich jemals jemand vom Volk der Sioux beschwert, weil deren typische Wohnbebauung in Europa anlässlich der Klimakämpfe nachgeahmt wird?

Sind die Klimakämpfe nicht global, und sind sie nicht seit Jahrzehnten davon geprägt, dass man wechselseitig voneinander lernt? Was genau darf man noch von bewundernswerten Gemeinwesen lernen, ohne dass es „kulturelle Aneignung“ ist? (Nebenbei: der Begriff „woke“ bzw. „wokeness“ stammt aus dem afroamerikanischen Slang, und seine Verwendung durch weisse Europäer*innen ist eigentlich ein Akt von … ihr wisst schon.) Darf man noch spielen, experimentieren, Dinge neu kombinieren? – Ich nehme an, kulturelle Aneignung ist o.k., wenn die Elemente, die man sich aneignet, von der dominierenden Kultur kommen. Dann wäre Chuck Berry aus dem Schneider, der in seinem Hit „Roll over Beethoven“ einst Motive aus der Fünften Sinfonie Ludwig van Beethovens verarbeitete. Aber wenn wir nun dieses Stück des Afroamerikaners Berry pfeifen – sind wir dann imperialistische Aneigner*innen – oder legitime Rückaneigner*innen?

Deutsche Volkslieder statt Jazz und Hip-Hop?

Bleiben wir kurz in der Musiksphäre. Schon vor 20 Jahren wurden die „C.I.A.“-Einflüsse in der Musik von Led Zeppelin (Celtic, Indian, Arabic) als Ausdruck einer kolonialistischen Tradition kritisiert. Jimmy Page hatte all diese Einflüsse aufgesaugt – wer davon nichts hatte, waren die Urheber*innen dieser Einflüsse. (1) Die Kritik leuchtet mir ein (ebenso wie die Kritik am phallozentrischen „cock rock“-Gehabe der männlichen Rock-Titanen … und dennoch gestehe ich, dass ich die Zeppelin-Musik immer noch grandios finde). – Aber in denselben 70er-Jahren tourte die deutsche Fusion-Band „Embryos Dissidenten“ von Nordafrika bis Indien und startete gemeinsam mit lokalen Künstler*innen ein Gemeinschaftsprojekt nach dem anderen. Als ich die Band in den 80ern mal in ihrer Residenz in Niedernjesa besuchte, war das ganze Haus voll mit Menschen aus Indien; es war eine wunderbare Atmosphäre gegenseitiger kultureller Befruchtung. Durften die „Dissidenten“ das nach heutigen anarchistischen Standards dann noch ausdrücken? Auch wenn sie wieder unter sich waren?

Fast unser gesamter popkultureller Musikhorizont (Rock, Jazz, Hip-Hop, Reggae, you name it) ist geprägt von Wurzeln, die letztendlich auf die Sklavenplantagen der Neuen Welt und von da weiter nach Afrika verweisen. Es ist übel, wenn dann Benny Goodman zum „King of Swing“ wurde, Elvis Presley zum „King of Rock'n'Roll“ und Eminem zum „King of Hip-Hop“ – alles Weisse. Das hat tatsächlich etwas von kulturellem Diebstahl. Es liegt an den Ausbeutungsstrukturen der Kulturindustrie – und nicht daran, dass irgendein begabter weisser Teenager „I shot the Sheriff“ klampft, mit welcher Frisur auch immer. Ich werde jedenfalls meine Plattensammlung nicht aus Gründen der „Awareness“ auf den Müll werfen. Was bliebe dann übrig? Deutsche Volkslieder?

Sind die Klimakämpfe nicht global, und sind sie nicht seit Jahrzehnten davon geprägt, dass man wechselseitig voneinander lernt? Was genau darf man noch von bewundernswerten Gemeinwesen lernen, ohne dass es „kulturelle Aneignung“ ist?

Zurück nach Lützerath. Von einer Freundin hörte ich, dass sie nur noch ungern zu den Solidaritätsdemos gehe, weil sie von den Aktivisti schon mehrfach wegen ihrer Dreadlocks angemacht wurde. Grund: Kulturelle Aneignung. Bei der grossartigen „Kuloko“-Landpartie im August 2021 („Kultur ohne Kohle“) mussten alle Personen mit Dreadlocks ihre Frisur verhüllen, um die „woken“ Aktivisti nicht zu verärgern. – So injiziert man Spaltpilze in eine wichtige Bewegung und verprellt nicht wenige aktive Verbündete.

Spaltpilze und Sittenwächter*innen

Nach der Logik der verhüllten Dreadlocks darf demnächst wohl auch niemand mehr seine*ihre Tattoos zeigen; diese Kulturtechnik stammt aus der kolonial unterjochten Südsee. Piercings sind sicherlich auch zu verbergen oder gleich zu unterlassen. Einen Kaftan tragen oder afrikanische Kleidermuster? Indische Räucherstäbchen anzünden und Tee trinken? Ein leckeres Chili con (oder sin) Carne zubereiten? Don't be an asshole! – Was bleibt dann übrig? Sauerkraut und Hirsebrei? Wann müssen wir uns die Augen reiben und feststellen, dass die Ergebnisse linksradikaler Identitätspolitik denen der rechtsextremen ziemlich ähnlich sehen können?

Zurück nach Lützerath. Dort läuft die Wokeness auch unabhängig von der Frage der „kulturellen Aneignung“ zuweilen aus dem Ruder. Ein schönes, grosses, künstlerisches Banner hängt dort in den Bäumen, das in Aachen zu Zeiten des Bundestagswahlkampfs hergestellt wurde. Es zeigt den damaligen CDU-Kanzlerkandidaten und Ministerpräsidenten von NRW, Armin Laschet, als Riesen, der an der Braunkohle-Kante hockt und (mit Hilfe eines Schornsteins als Strohhalm) ein Dorf nach dem anderen durch die Nase inhaliert. Aufschrift: „Armin Laschet, der Braunkohle-Junkie. Er kann's nicht lassen!“ Irgendwelche Sittenwächter*innen aus der Besetzung haben dieses Kunstwerk verändert (beschädigt, um es genauer zu sagen), indem sie das Wort „Junkie“ mit gelber Farbe übermalt haben. Aus zweiter Hand hörte ich, die Begründung für diesen Akt sei gewesen, dass das übermalte Wort Ex-Junkies „triggern“ könne. – Aber gibt es denn irgendein Wort, das niemanden triggern würde? Sind unsere Empfindlichkeitslevel so hoch, dass wir von allen Anwesenden erst mal ihre Traumata erfragen müssen, um daraus eine Liste verbotener Wörter zu erstellen? – Mich hat übrigens diese Aktion des Kunstfrevels selbst „getriggert“, denn sie erinnert mich an die staatliche Zeitungszensur früherer Jahrhunderte. Woke hin oder her.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: „Kulturelle Aneignung“ kann ein echtes ethisches Problem sein. Ich habe erlebt, wie traumatisierend es für Palästinenser*innen war, wenn am israelischen Nationalfeiertag in deutschen Städten Falafel und palästinensische Trachten als israelische Folklore präsentiert wurden. Ich kann ahnen, wie demütigend es gewesen sein muss, wenn in amerikanischen Minstrel Shows schwarz angemalte Weisse ihre Stereotype über Schwarze dem Gelächter des Publikums darboten. Ist das nicht etwas völlig anderes, als aus kultureller Bewunderung, Solidarität oder Einsicht in konstruktive Überlegenheit Tipi-ähnliche Zelte zu bauen?

Begriffliche Klarheit statt uferloser Verbotswut

Es hilft bei der Auseinandersetzung mit dem Problem der kulturellen Aneignung nicht sonderlich, wenn man den Begriff auf immer weitere Sachverhalte ausdehnt; man entleert ihn damit. Für die bekämpfenswerte „kulturelle Aneignung“ kann man ein paar Kriterien aufstellen, die den Begriff scharf halten. Wir sollten in die Debatte darüber eintreten. Ich schlage vor:
  • Es muss sich um die Übernahme eines kulturellen Merkmals aus einer benachteiligten Subkultur durch eine dominante handeln (dies haben die Leute im Lützi klar beherzigt).
  • Es muss sich zudem um eine Form der Übernahme handeln, welche die Ursprungskultur nicht wertschätzt, sondern entweder parodistisch verhöhnt (wie beim „Blackfacing“) oder unsichtbar macht.
  • Unabhängig von Punkt 2) ist die Übernahme zu verurteilen, wenn die Vertreter*innen der übernehmenden dominanten Kultur sich durch diese Übernahme in irgendeiner Form exklusiv bereichern (das ist etwa beim musikalischen Erfolg von Led Zeppelin problematisch).
2) und 3) treffen nicht zu, wenn man aktive Solidarität und echtes Interesse für die Kulturen der Unterdrückten zeigt. (2) Die Abgrenzung dieser Kriterien ist schwierig genug. Wie soll man als woker Mensch z. B. das Auftreten einer „Tunte“ beurteilen (um eine Selbstbezeichnung dieser Sub-Subkultur zu verwenden)? Darf ein Mann* sich Frauenkleider anziehen, wo Frauen* doch im Patriarchat das unterdrückte Gender sind? Das ist ja nun kulturelle Aneignung par excellence! Aber andererseits: Ist nicht die schwule Sex-Identität ihrerseits Merkmal einer unterdrückten Subkultur? Wurden Tunten – ebenso wie Transpersonen – nicht all die vergangenen Jahrzehnte hindurch Opfer rechter Schläger und homophober Pöbelhorden? In Grossbritannien ist zuletzt die superbe Komikertruppe „Monty Python“ zur Zielscheibe eines „Wokeness-Mobs“ geworden, um die Formulierung von Michael Neudecker in der Süddeutschen Zeitung vom 8.11.2021 zu zitieren. (3) Unter anderem wurde Terry Gilliam als Co-Regisseur aus einer Theaterproduktion gekegelt, weil er einen schwarzen Kollegen gelobt hatte, der seinerseits Witze auf Kosten der LGBTQ-Community macht. Neudecker weist darauf hin, dass der Rigorismus innerhalb der Szene Folgen hat, die weit über diese Szene hinausweisen: „Als Profiteur des innerlinken Moralgemetzels erweist sich […] der rechte Populist Boris Johnson.“

Mir ist aber noch eine andere Schlussfolgerung Neudeckers wichtig, für die er einen der Monty-Python-Heroen zitiert: „‚Kreativität erstickt', sagte John Cleese im vergangenen Jahr im BBC-Radio, ‚wenn du bei jedem Wort nachdenken musst, ob du es verwenden darfst oder nicht.'“ Und Neudecker fügt hinzu: „Kreativität ist eine Tochter der Anarchie“.

Eine Tochter, und vielleicht auch eine Mutter der Anarchie! Der moralische Rigorismus, der sich mancherorts in der Anarcho-Szene – z. B. auch bei manchen heutigen Bewohner*innen Lützeraths –zeigt, sollte mit dieser Einsicht beantwortet werden. Es ist deren gutes Recht, Tipi-ähnliche Zeltstrukturen aufgrund eines Plenumsbeschlusses wieder abzubauen. Aber sie sollten dafür nicht anarchistische Moral beanspruchen. Anarchie lacht. Anarchie übertritt Grenzen. Anarchie hat Freude am Experiment. Anarchie lernt, nicht zuletzt von anderen herrschaftsfreien Vergesellschaftungen (wie den Native Americans aus den Plains). Anarchie verbietet wenig.

Anarchie ist nicht puritanisch – ganz anders als die Auswüchse der Lützi-Wokeness.

Rüdiger Haude / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 466, Februar 2022, www.graswurzel.net

Fussnoten:

(1) Steve Waksman: Instruments of Desire. The Electric Guitar and the Shaping of Musical Experience. Cambridge (MA)/London 2001. S. 237-276.

(2) Vgl. Robin Köhler und Malcolm Ohanwe: Warum Cultural Appropriation uns alle angeht (Interview). https://www.br.de/puls/themen/welt/kulturelle-aneignung-cultural-appropriation-100.html

(3) Michael Neudecker: Nicht lustig. Der Feind steht links: Wie ausgerechnet die legendären „Monty Pythons“ ins Räderwerk der neuen, englischen Humorlosigkeit geraten. In: Süddeutsche Zeitung 258, 8.11.2021.