Unterdrückung und Widerstand in der Kultur Kulturelle Aneignung – um was geht es?

Gesellschaft

Kulturelle Aneignung bezeichnet die koloniale Praxis, dass sich die unterdrückende, kolonialisierende Gesellschaft Elemente der unterdrückten, kolonialisierten Kultur ohne deren Zustimmung aneignet.

Kulturelle Aneignunung - Disney Shop in Orlando, Florida.
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Kulturelle Aneignunung - Disney Shop in Orlando, Florida. Foto: Jonathan McIntosh (CC-BY 2.0 cropped)

29. Dezember 2022
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Es handelt sich um einen Raub kultureller Güter und Identitäten der kolonialisierenden Kultur: Verlust auf der Seite der unterdrückten, Profit auf der Seite der unterdrückenden Kultur. Zentral an kultureller Aneignung ist, dass sie sich stets in einem vertikalen, also ungleichen, Machtverhältnis abspielt. Damit unterscheidet sie sich vom kulturellen Austausch (zum Beispiel zwischen Schweiz und Österreich), welche auf Augenhöhe, in einem horizontalen Verhältnis und normalerweise beidseitig stattfindet. Bezug zu Kolonialismus

Kulturelle Aneignung ist eine Praxis in Fortsetzung des Kolonialismus: Westliche, zumeist weisse Kulturen haben die restliche Welt kolonialisiert, die Menschen, die Arbeit, die Rohstoffe und die Kulturgüter geraubt. Der Reichtum des Westens – und damit auch der Schweiz – beruht auf die Ausbeutung rassifizierter, kolonialisierter Menschen und Kulturen (People of Color). Anfangs 20. Jahrhundert war fast die ganze Welt durch die Industriestaaten kolonialisiert.

Unterdrückung und Widerstand in der Kultur

Der Kolonialismus verfolgte und verfolgt, um seine eigene Herrschaft durchzusetzen, eine Politik der Unterdrückung und Entwertung der Kultur der Minderheiten: BIPOC und deren Kultur und Traditionen wurden fälschlicherweise als minderwertig dargestellt, um so einerseits die Kolonialisierung zu rechtfertigen, andererseits eine Assimilation zu erzwingen und so die kolonialisierte Kultur auszulöschen. Häufig fand also eine zwangsweise Assimilation statt: die Kolonialisierten mussten die Sprache und Kultur der Herrschenden übernehmen und ihre eigene Sprache und Kultur aufgeben oder im versteckten leben. Diese Assimilation wurde mit Methoden der offenen und strukturellen Gewalt durchgesetzt. Das Ausleben der eigenen Kultur wurde damit zu einem Ausdruck und ein Mittel des Widerstands, welches zum Teil erhebliche Repressalien nach sich zog: Die eigene Kultur zu leben, war im Kontext des Kolonialismus mit Gefahr und mit Nachteilen verbunden.

Jamaica und antikolonialer Widerstand

Jamaica wurde vom 16. bis zum 17. Jahrhundert von Spanien kolonialisiert, darauf folgte die britische Kolonialisierung. Fast die ganze indigene Bevölkerung wurde während dieser Zeit ausgerottet, stattdessen wurden Menschen aus Afrika versklavt und nach Jamaika verschleppt. Der Prozess der Versklavung war ein gewaltsamer Prozess, welcher Folter und häufig Tod bedeutete. Anfangs des 20. Jahrhunderts bestand fast die ganze Bevölkerung Jamaikas aus Schwarzen Menschen, welche versklavte Arbeit auf den Plantagen der Weissen leisten mussten. 1831 fand ein Aufstand statt der Schwarzen Menschen gegen die Sklaverei statt, welcher trotz blutiger Repression die Abschaffung der Sklaverei zur Folge hatte.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden von britischen Kolonien in Indien und China Arbeiter:innen importiert, welche in der rassistischen Hierarchie Jamaikas über die Schwarzen Menschen und unter die Weissen gestellt wurden. Als Folge von Sklaverei und Kolonialismus mussten die verschleppten Menschen aus Afrika die Sprache und Kultur der Kolonialisten annehmen. Als Reaktion gegen die britische koloniale Kultur bildete sich in den 1930er Jahren die Rastafari-Bewegung, welche sich nicht auf das weisse England, sondern das Schwarze Afrika bezog. Sich selbst zum Subjekt ihrer eignen Politik machten, war ein Leitmotiv der Bewegung. Damit fand ein kultureller, Schwarzer Widerstand gegen die weisse, britische kulturelle Hegemonie statt, gegen den britischen Rassismus und gegen den britischen Kolonialismus statt.

Der Schwarze Widerstand Jamaikas reihte sich ein in den von Marcus Garvey initiierten pan-afrikanischen Widerstand gegen Kolonialismus in Afrika, und gegen Sklaverei und Rassismus in den Vereinigten Staaten. Weil die Anhänger:innen der Rastafari-Bewegung die britische Herrschaft nicht anerkannten, wurden sie verfolgt und inhaftiert. Rastafari trugen ihre Haare als Dreadlocks, welches auch ein Zeichen des Widerstands gegen die Diskriminierung betreffend Schwarzem Haar war (siehe unten). Wer also als Schwarze Person Dreadlocks trug, bekannte sich zur antikolonialen Rastafari-Bewegung und musste Repression bis zu Gefängnis durch die Kolonialherren befürchten. Diese widerständische Tradition von Dreadlocks wurde durch die antirasstische Bewegung der 1960er Jahre in England, den USA und anderen Ländern aufgenommen und wurde zu einem Symbol des kulturellen Widerstands gegen Rassismus. Sie war damit aber auch wiederum Gegenstand der Diskriminierung Schwarzer Menschen und der Repression gegen die antirassistische Bewegung.

Schweiz mitschuldig an Kolonialismus

Häufig ist das Argument zu hören, die Schweiz sei ein neutrales Land gewesen, welches an den Verbrechen des Kolonialismus und der Sklaverei unbeteiligt gewesen sei. Die Industrialisierung der Schweiz basiert aber im Wesentlichen auf Kolonialismus und Sklaverei, auf verschiedenen Ebenen: die Schweiz war auf den Einfuhr billiger Handelsgüter aus den kolonialisierenden Ländern angewiesen, deren Produktion auf die Ausbeutung von BIPOC beruhte. Schweizer Kapitalist:innen und der Schweizer Staat beteiligten sich finanziell an kolonialen Unternehmungen. Und sie besassen direkt Besitztümer und waren direkt in die Sklaverei verwickelt; als berühmtes Beispiel etwa die Familie von Alfred Escher, welcher heute als Statue den Eingang der Bahnhofsstrasse ziert, welche Plantagen besass, welche auf versklavte Arbeit beruhten.

White Fragility

Rassismus ist die Norm, Antirassismus ist sie nicht. Rassismus wird im täglichen Leben, in alltäglichen Handlungen, auf allen Ebenen reproduziert. Weisse Menschen gehen mit der Haltung durch das Leben, dass sie nicht rassistisch sind, gerade diejenigen, welche sich im linksalternativen Milieu bewegen. Erfolgt eine Kritik wegen Rassismus, ist deshalb häufig die Reaktion White Fragility: Rassismus-Erfahrungen werden abgesprochen, es wird relativiert, abgelenkt und die Empörung richtet sich nicht gegenüber den eigenen reproduzierten Rassismus, sondern gegen diejenigen, welche Kritik ausüben. Schlussendlich sind nur die Gefühle der weissen Menschen zentriert, und die Kritik von BIPOC invalidiert. Gerade weil Rassismus häufig nicht als offene Feindseligkeit und Hass daherkommt, sondern strukturell ist und sich häufig über Machtverhältnisse unbewusst reproduziert, ist eine Kritikfähigkeit von Weissen Menschen, auch diejenigen in der linksalternativen Szene, wichtig, und darf auch von BIPOC eingefordert werden.

Brasserie Lorraine: Cancel-Culture von wem?

Weisse Menschen haben eigentlich immer die Macht zu bestimmen, ob eine BIPOC Person erwünscht ist. Sie haben diese Macht, weil sie und ihre Wertvorstellungen in eigentlich allen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Instituten die Mehrheit sind, und weil BIPOC Menschen häufig marginalisiert, an den Rand gedrängt, stigmatisiert sind. Dies trifft im Besonderen zu für Schwarze Menschen. Und es trifft im speziellen zu für die Reggae-Musik.

Reggae-Musik wurde, gerade weil sie aus der jamaikanische widerständigen Rastafari-Bewegung hervorgeht, relativ häufig gespielt in linken Räumen der 2000er Jahren. Es gab aber auch problematische Anteile an der Reggae-Musik, nämlich, die der durch den Kolonialismus nach Jamaika gebrachten Homophobie. Grossbritannien beschloss 1861 in der viktorianischen Ära das homophobe Offences Against The Person-Gesetz, welches bald darauf auch in der Kolonie Jamaika Gültigkeit erreichte. Das Gesetz wurde seither nicht widerrufen, und die koloniale homophobe Tradition setzte sich teilweise auch in der Musik fort, machte diese aber nie gänzlich aus. 2007 haben Schwarze LGBTQ Aktivist:innen die Kampagne „Stop Murder Music“ gestartet gegen Homophobie im Reggae.

Die Kritik kam teilweise an, und verschiedene Reggae-Künstler distanzierten sich von früheren homophoben Texten, schnitten Passagen aus ihren Texten, und es erschien Pro-LGBTQ-Reggae-Musik. Vielfach kam die Kritik aber auch nicht an, und die homophobe Tradition wurde fortgeführt. Viele Konzerte wurden in dieser Zeit abgesagt, häufig berechtigt. Aber schnell kam die Kritik, dass die Absagen rassifiziert waren: denn häufig wurden homophobe Künstler toleriert, sofern sie weiss waren. Wer hingegen Schwarz war und sich über dreadlocks mit der Rastafari-Bewegung identifizierte, geriet häufig automatisch in Verdacht, homophob zu sein. Wer als Schwarzer Mann dreadlocks trägt, wurde in der Linken diskriminiert.

Dies, obwohl es queere und queerfreundliche Rastafaris und Reggae-Künstler gibt, die mit grossem persönlichen Einsatz für LGBTQ-Rechte kämpfen. Trotzdem: Konzerte Schwarzer Reggae-Künstler:innen gab es in der linken Szene fast keine mehr. Es machte nicht den Eindruck, dass Homophobie, sondern dass Schwarze Reggae-Musik boykottiert wurde unter dem Vorwand progressiver Werte. Dass Homophobie als ein Problem von Männern of Color begriffen wurde, ein Problem, dass von weissen, von der Schweizer Kultur weg-externalisiert wurde und sich so doch immer in der Linken reproduzieren konnte, entgegen der historischen Erkenntnis: Homophobie in Jamaika, in der Reggae-Musik, ist ein koloniales Problem.

In der Brasserie Lorraine fand, wie in vielen anderen linken Lokalen, seit Jahren kein Live-Konzert Schwarzer Reggae-Musiker mehr statt. Schwarze Reggae-Musiker waren in der linksalternativen Szene gecancelt. Das Problem ‚Homophobie' war rassifiziert, auch in der Linken, ein Problem, dass auch andere queere People of Color bemerkten. Dann sollte doch ein Reggae-Konzert stattfinden in der Brasserie Lorraine. Es gab People of Color, die sich damit unwohl fühlten, wahrscheinlich auch gerade deshalb, weil die Debatte zu Rassismus in der linksalternativen Szene zur Zeit nicht das Gewicht, das es haben sollte. Die Brasserie Lorraine reagierte rasch auf die Kritik, indem das Konzert abgebrochen wurde, und kündete eine Debatte zum Thema an. Darin zeigt sich, dass die Brasserie Lorraine über eine Kritik- und Reflexionsfähigkeit verfügt und eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Kulturelle Aneignung', wie sie doch eher ungewöhnlich.

Kommen wir zurück zur Definition von kultureller Aneignung als Raub, welche Verlust auf Seite von BIPOC und Gewinn aus Seite von Weissen bedeutet. Schwarze Männer mit dreadlocks werden diskriminiert. Der strukturelle Rassismus gegenüber Schwarzen Männer mit dreadlocks, der stillschweigende Boykott Schwarzer Reggae-Musiker, ist ein Mitgrund, weshalb weisse Reggae-Musiker auftreten können. Weisse Männer können dreadlocks tragen, müssen dafür aber keine Diskriminierung befürchten, eher werden sie mit kultureller Offenheit. Während in der Linken Schwarze Reggae-Musiker mit dreadlocks mit Homophobie und Patriarchat in Verbindung gebracht werden, und darum gecancelt werden, werden weisse Reggae-Musiker mit dreadlocks mit kultureller Weltoffenheit in Verbindung gebracht, und darum gebucht. Weisse Reggae-Musiker profitieren von dreadlocks, wofür Schwarze Reggae-Musiker diskriminiert wurden. Weisse nehmen den Raum von denjenigen ein, welche Schwarze Menschen wegen Rassismus aufgeben mussten. Es findet ein Verlust auf der Seite von BIPOC statt und ein Gewinn auf der Seite von Weissen. Es ist ein Raub.

Weisse Gefühle sind die einzigen, die zählen?

Während die Brasserie Lorraine angemessen auf die Kritik reagierte, tat es die Schweizer Gesellschaft, und mit ihr viele Linke, nicht. Die Zeitungen waren voller Meinungen weisser Menschen. Weisse Menschen, welche sich nicht im Geringsten mit der Thematik, mit der Geschichte Jamaikas, des Kolonialismus, der Sklaverei, mit der Geschichte der Diskriminierung von Schwarzen Menschen aufgrund ihrer Haare beschäftigt zu haben. Das Problem waren nicht mehr die rassistische Strukturen und Praktiken, die uns alle umgeben und beim Konzert reproduziert wurden, sondern BIPOC, welche diese Praktiken kritisierten. Die Gefühle von BIPOC wurden bis zum Äussersten invalidiert, als übertrieben, als falsch, als absurd dargestellt, dafür waren die Gefühle von Weissen allgegenwärtig, welche sich beleidigt, frustriert, entrüstet fühlten. Vorwürfe von reverse racism. Gaslighting.

Eine Umkehrung des Problems: BIPOC wurden wieder mal zum Problem gemacht, ein rassistisches Grundmuster. Weil Rassismus eine gesellschaftliche Norm in der Schweiz ist, welche angegriffen wurde. Es wurde medial und international zum Anlass genommen, um die antirassistische Bewegung, Black Lives Matter und ihre Forderungen gesamthaft anzugreifen, um Rassismus in der Schweiz überhaupt die Bedeutung abzusprechen, welche sie hat, um BIPOC als übersensibel, als gefährlich darzustellen. White fragility halt. Der ganze Diskurs drehte sich um weisse Gefühle, mal kamen sie hochintellektuell, mal derb-beleidigend daher. BIPOC kamen kaum zu Wort. Die Entrüstung war da: nicht über die kulturelle Aneignung, nicht über die fehlenden Auftritte jamaikanischer Musiker:innen in der Brasserie, sondern über den Konzertabbruch.

Niemand hat der Band vorgeworfen, bewusst rassistisch zu handeln oder unverbesserliche Rassist:innen zu sein. Es wurde eine Praxis kritisiert, welche in Bezug auf Rassismus problematisch ist. Rassismus ist tief in unserer Gesellschaft und in unserem alltäglichen Handeln verankert. Deren Überwindung erfordert eine stetige Auseinandersetzung, gerade und im speziellen auch von Weissen. Gerade an der Kritikfähigkeit und Verantwortungsübernahme zeigt sich, wer bereit ist, diese Auseinandersetzung zu führen und damit antirassistisch zu handeln.

BIPOC haben das Recht, diese Auseinandersetzung zu fordern, wann immer sie Rassismus wahrnehmen. Und sie haben das Recht, dass diese so geführt wird, dass nicht sie selbst als Problem dargestellt werden, sondern der Rassismus das Problem ist.

BIPOC

Zuerst erschienen auf barrikade.info