Über Widerspruch aus der SPD berichtete der Tagesspiegel am 11. November: Bisher sei es um Verteidigungsfähigkeit gegangen (Rolf Mützenich), wer sich „kriegstüchtig machen will, ist bereit, in Kriege zu ziehen“ (Jan Dieren) und „Deutschland muss keine militärische Führungsmacht in der Welt sein“ (Ralf Stegner). Pistorius rechtfertigte sich, er wolle keinen Krieg, sondern Deutschland solle sich verteidigen können, beharrte jedoch weiterhin auf vermeintlich notwendiger Kriegstüchtigkeit.
Das Reden vom Krieg wird gesellschaftsfähig
Im Mai 2010 musste Bundespräsident Horst Köhler zurücktreten, nachdem er anlässlich eines Besuchs in Afghanistan ausgeplaudert hatte, was jede*r wissen konnte, was aber damals noch mit einem Tabu belegt war: „dass ein Land unserer Grösse mit dieser Aussenhandelsorientierung und damit auch Aussenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Kurz zuvor hatte der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) das, was in Afghanistan geschah, einen Krieg genannt, was heftige Diskussionen hervorrief, denn bis dahin war das K-Wort vermieden worden.Heute wird ganz hemmungslos über Kriege und Waffenlieferungen gesprochen. „Damit wir auf einen künftigen, grossangelegten Krieg vorbereitet sind, müssen wir uns anpassen, wir müssen uns ändern.“ So zitierte das ZDF am 10. November Valdemaras Rupsys, den Oberbefehlshaber der litauischen Streitkräfte. Der Krieg – dies Entsetzliche, Zerstörerische, dieser letzte Ausdruck patriarchaler Macht und Gewalt – steht auf der politischen Agenda. Nicht als etwas, das mit allen Kräften zu verhindern wäre, sondern als etwas, auf das wir uns einstellen sollen.
Deutschland als militärische Führungsmacht
In Litauen wird in den nächsten Jahren eine Bundeswehrbrigade mit fast 5.000 Soldaten (und wohl auch einigen Soldat*innen) und weiterem Personal stationiert. Mit diesem „Leuchtturm-Projekt der Zeitenwende“ will Pistorius zeigen: „Es tut sich was bei der Bundeswehr. ... Deutschland zeigt damit echte und sehr konkrete Führung in Europa und in der Nato.“ Und weiter: „Wir stellen uns an der Ostflanke auf und natürlich ... muss unser Engagement in der Welt sichtbarer werden, als das bislang der Fall war, zum Beispiel im Indopazifik und auch an anderer Stelle.“.Auf der Bundeswehrtagung am 10. November betonte Bundeskanzler Olaf Scholz, „dass wir eine schlagkräftige Bundeswehr brauchen“. Um diese Erkenntnis hätten „wir uns in Deutschland lange herumgedrückt“. Nun sei „unsere Friedensordnung in Gefahr“, nicht nur durch den russischen Einmarsch in die Ukraine, sondern auch durch den Angriff der Hamas auf Israel. Über die 100 Milliarden Euro Sondervermögen hinaus sicherte er der Bundeswehr dauerhaft zwei Prozent des Bruttonationalprodukts zu.
Wissen die Herren, was sie da sagen und tun? Soll Deutschland – nachdem es schon zwei Weltkriege mit Millionen Toten begonnen hat – nun auch einen dritten Weltkrieg vorantreiben, der wohl der letzte wäre?
Milliarden fürs Militär und Sozialabbau für alle
Schon im April 1999 gab es eine Zeitenwende, die damals nicht so genannt wurde: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog die Bundeswehr in einen Krieg, in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Serbien (Rabe Ralf August 2019, S. 16). In den folgenden Jahren wurde mit der Einführung von Hartz IV und der Erosion der paritätischen Rentenversicherung durch die Riesterrente der Sozialstaat drastisch heruntergefahren.Heute sehen die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege „den Sozialstaat in Deutschland angesichts der Kürzungspläne im Bundeshaushalt 2024 ernsthaft gefährdet“ und riefen zu einer Kundgebung am 8. November in Berlin auf. Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) kritisiert, Grüne und Sozialdemokraten hätten sich „fahrlässig in eine Situation hineinmanövriert, in der sie kaum um massive Haushaltskürzungen herumkommen ... Es sei denn, es wird endlich die Prämisse in Frage gestellt, nämlich ob es uns wirklich sicherer macht, fast 20 Prozent des Bundeshaushaltes in das Militär zu stecken.“
Ob sich die Bevölkerung kriegstüchtig machen lässt? Oder wird es breiten Widerstand geben, wenn immer mehr Menschen verstehen, was auf uns zukommen könnte? Für den 25. November ruft eine breit unterstützte Initiative zur Demonstration nach Berlin auf: „Nein zu Kriegen – Rüstungswahnsinn stoppen – Zukunft friedlich und gerecht gestalten“. Bei der „Berliner Sicherheitskonferenz“ am 29./30. November tauschen sich Politiker*innen, Militärs und Vertreter*innen der Rüstungsindustrie über ihre hochfliegenden Pläne für eine weitere Militarisierung aus. „Keine Kriegskonferenz in unserer Stadt – Abrüsten statt Sozialabbau“ fordert ein Bündnis, das zur Demonstration gegen diese Konferenz aufruft: „Uns erwarten extreme Kürzungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales und eine massive Budgeterhöhung für den sogenannten Verteidigungsetat. Rüstungs- und Technologiefirmen verdienen jedes Jahr mehr an kriegerischen Konflikten und der gigantischen Aufrüstung. Das Geschäft mit dem Tod boomt.“
Fragen nach dem Menschsein
Gewalt von Menschen gegen Menschen ist nichts Neues, und doch ist sie immer wieder entsetzlich und wirft Fragen auf, beispielsweise: Wie können Menschen in einen Zustand geraten, in dem sie andere Menschen wie im Rausch demütigen, quälen und ermorden – und dann auch noch stolz darauf sind? Wie können Menschen ihr Waffenarsenal mit all den Tötungsmaschinen einsetzen, um wehrlose Zivilist*innen, Krankenhäuser und ganze Ortschaften zu zerstören? Und was geht in denen vor, die ihre kreativen Potenziale dafür nutzen, solch militärisches Gerät zu erdenken und zu entwickeln? Warum finden sich so viele bereit, die Herstellung und den Einsatz dieser Waffen zu ihrem Beruf zu machen, welcher Berufung folgen sie damit?Haben diejenigen, die andere Menschen als Feinde betrachten und sich damit anmassen, deren Leben zu beenden, das Gefühl dafür verloren – oder dieses Gefühl vielleicht nie ausbilden können –, dass es sich bei diesen zu Feinden Erklärten um Menschen handelt, die ebenso wie sie selbst träumen und hoffen, die lieben und leben wollen? Was macht das Menschsein aus, welche Bedingungen braucht eine gewaltfreie Kultur des Friedens, in der sich Menschlichkeit entfalten könnte?
„Ein separatistisches Denken mächtiger und auf Konkurrenz ausgerichteter Männer, die sich für überlegen halten, sieht die Menschen im Krieg gegeneinander und gegen die Natur“, schreibt das internationale Netzwerk „Diverse Women for Diversity“ in einem Manifest „Frieden mit der Erde schliessen – durch Vielfalt, Gegenseitigkeit, Gewaltlosigkeit und Fürsorge“, das die Frauen auf ihrer Versammlung im März 2023 in Indien zusammengetragen haben. Sie stellen damit einen inneren Zusammenhang her zwischen militärischen Kriegen und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Frieden mit der Erde
Eingeladen hatte Navdanya, das Projekt der indischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Vandana Shiva. Aus dem deutschsprachigen Raum gehören dem Netzwerk deren Mitgründerin Christine von Weizsäcker und die bekannte Köchin und Umweltpolitikerin Sarah Wiener an. Im Manifest heisst es weiter: „Gewalt gegen die Erde, Frauen und indigene Völker ist der vorherrschende Trend in unserer Zeit. Das kapitalistische Paradigma von Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft hat einen permanenten Krieg gegen die Erde, ihre biologische Vielfalt und ihre verschiedenen Kulturen ausgelöst. Kolonialismus, mechanistische Wissenschaft und Industrialisierung haben uns in unserem Denken von der Natur und der Erde getrennt. Wir sind blind geworden für unsere Verbundenheit untereinander und mit anderen Arten und für unsere Abhängigkeit von ihnen in all ihrer Vielfalt. In anthropozentrischer Arroganz rennen wir auf die Ausrottung zu und zerstören die Lebensbedingungen auf der Erde.“Seit Jahrzehnten versuchen Ökofeministinnen bereits, solche Gedanken in die Welt zu bringen. Heute scheinen sie wichtiger zu sein denn je. Die Verfasserinnen beziehen sich auf die Gewaltlosigkeit von Mahatma Gandhi, auf das lateinamerikanische Buen Vivir – das gute Leben im Einklang mit der Natur – und auf selbstverwaltetes Bewirtschaften von Gemeingütern (Commons). Konkret fordern sie die Umsetzung der UN-Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit, nach der alle Staaten aufgefordert sind, die Belange von Frauen in alle Aspekte ihrer Arbeit, insbesondere in die internationale Sicherheitspolitik, Konfliktprävention und -lösung zu integrieren.
Die Grundgedanken im Manifest korrespondieren mit vielen Überlegungen, die im kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Pluriversum – Ein Atlas des Guten Lebens für alle“ (Rabe Ralf Oktober 2023, S. 21) formuliert sind. Im Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe schreibt Mitherausgeber Alberto Acosta, aus der „Krise der herrschenden kapitalistischen Zivilisation“ ergebe sich als unerlässliche Bedingung „die Notwendigkeit, unsere Beziehung zur Natur neu zu strukturieren und wiederherzustellen“. In eine ähnliche Richtung gehen auch Vorschläge, die der bedeutende Rechtsphilosoph Luigi Ferrajoli im August mit seiner „Verfassung der Erde“ beim Menschenrechtsfestival im kalabrischen Riace vorstellte (Rabe Ralf Oktober 2023, S. 20).
Vielleicht gibt es Hoffnung, wenn weltweit immer mehr Menschen zusammenkommen und sich als empfindungsfähigen Teil der Natur verstehen, sich nicht nur mit anderen Menschen verbinden, sondern mit allem, was lebt, und auch mit den Teilen der Natur, die nach westlichem Verständnis als unbelebt gelten wie Flüsse, Berge oder Steine? Damit es bald heisst: „Komm, feiern wir ein Friedensfest / und zeigen, wie sich's leben lässt / Mensch! Menschen können Menschen sein / Das weiche Wasser bricht den Stein“ (Bots).