Tierische Invasionäre im Kochtopf Invasive und heimische Leckereien

Gesellschaft
Warnung! Der nachfolgende Text ist weder für Veganer und Vegetarier unter 14 Jahren noch für Veganer und Vegetarier über 14 Jahren geeignet.
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Ein Flusskrebs als Museumsexponat. Foto: Bildflut (PD)

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In Shanghai bin ich in ein Restaurant geraten, in dem an den Wänden und zwischen den Tischen Terrarien und Aquarien gestapelt waren. Die erfüllten ihren Zweck: In ihnen wimmelte und schwamm es, in ihnen kroch und flatterte es, sie waren die lebende Speisekarte, und wer essen wollte, zeigte auf den/die/das, den/die/das er essen wollte.
Ich erinnere mich nicht mehr, was ich ass. Es ist wie ein verhangener, milchiger Traum, an dessen Ende die Schalen winziger Muscheln auf dem Teller klappern, Gräten und Häute lagen, umgeben von grünlichen Tang-Schlieren (?) oder Spinnenbeinen (?). Die Muscheln könnten asiatische Körbchenmuscheln gewesen sein. Ganze Nester von deren Schalen fand ich anderthalb Jahrzehnte später zu meiner Verwunderung bei Spaziergängen am Rhein. Überreste von Kataklysmen? Übriggeblieben, als der Eisschild über Europa taute? Hinterbliebene wie die solitären Felsen in den Weiten Lapplands?
Die simple Antwort: Sie wurden eingeschleppt. Ein langer Weg liegt hinter der Körbchenmuschel. Auswanderer aus China brachten sie in die USA. Von dort gelangten Muschel-Larven im Ballastwasser von Schiffen nach Rotterdam. Mit dem abgelassenen Wasser gelangen sie in den Rhein und – verdrängten einheimische Muscheln. Es sind schon Leute gesehen worden, die Körbchenmuscheln sammelten und vermutlich kochten und assen; und warum auch nicht? Ähnlich wie der rote amerikanische Sumpfkrebs. Er habe sich – offenbar aus Aquarien geflüchtet oder freigelassen – in der Spree niedergelassen und massenhaft vermehrt. Auch so ein Vertreiber einheimischer Tierarten; von den dunkleren amerikanischen Eichhörnchen oder den in den 1930er Jahren importierten und sich von Nordhessen her ausbreitenden Waschbären nicht zu reden. Ob und wie sie schmecken – ich habe sie noch nicht probiert. Noch nicht.
Der Sumpf- oder Flusskrebs ist im Südosten der USA beheimatet und dort eine Delikatesse. Es spräche nichts dagegen, die Plage loszuwerden (oder zu kontrollieren), indem der tierische Invasionär im Kochtopf und auf Tellern endet. Eine Idee von Leuten in Berlin, las ich; toll, diese Berliner wieder, arm aber kulinarisch auf dem Quivive. (Es bleibt das Rätsel, was der Mississippi und die Spree gemeinsam haben: dass der Krebs sich in beiden Flüssen gleich wohlfühlt?)
Oder Heuschrecken. Oder Fledermäuse –mir fällt ein Lieblingsbuch meiner Kindheit ein. „Die Gefangenen der Pantherschlucht“, der armenische Autor war Wachtan Ananjan. Eine Gruppe Jugendlicher kämpft, vom Winter überrascht, in einem Tal in der Nähe des Ararat um ihr Leben. Als überlebensnützlich und –tüchtig erweisen sich Fledermäuse, die sie in in einer Höhle finden.
Würde ich Fledermäuse abnagen? Fliegende Hunde? Oder – Siebenschläfer? Die sollen eine Delikatesse sein, las ich neulich, als die italienische Polizei Dutzende von ihnen eingefroren in Kühlschränken der 'Ndrangheta fand. Das Fatale: Siebenschläfer, äusserlich eine Mischung aus Ratte und Eichhörnchen, leben trotz Artenschutz gefährlich; sie sind eine Lieblingsspeise der Gangster, womit sie sich, obwohl im heimatlichen Kerngebiet Kalabrien zuhause, als lukullische Nachfolger der (kultivierten?) alten Römer erweisen.
Oder – der Ortolan. Zwar befindet sich der „Fettarmmer“ auf der niederländischen und europäischen Roten Liste der gefährdeten Vögel – obwohl er, dem Siebenschläfer gleich, noch einigermassen massenhaft vorhanden ist –, als Delikatesse wird er genauso massenhaft gefangen und verspeist. Verbotenerweise; und obwohl es heisst, sein Gesang habe Beethoven zu seiner Fünften Symphonie inspiriert. Andererseits soll es z. B. der einstige französische Ministerpräsident Francoise Mitterand geliebt haben, die Vögel, im Ganzen gekocht (oder gebraten), unter einem Tuch über der dampfenden Schüssel – als inhalierte er Kamille-Dämpfe gegen einen Schnupfen – verschlungen zu haben.
Nun, was will ich sagen? Im Falle der invasiven Leckerbissen – esst, was euch kaputt macht! Im Falle der einheimischen Arten – es schmecken viel mehr Tiere zwischen Himmel und Erde, als unsere Zunge weiss! Und möge uns (mit funktionierendem und nicht in Gemüsebrühe gegartem, nicht gedämpftem und nicht gebratenem Hirn) die Weisheit geben sein zu unterscheiden, was getrost weg kann und was besser geschont wird. Vielleicht entscheidet auch die Speisekarte über die Erhaltung oder Vernichtung der Schöpfung?