Sexlosigkeit als Unwert-Urteil Incels

Gesellschaft

„Frauen müssen einfach nur mit uns schlafen, um das nächste Incel-Attentat zu verhindern.“ (Zitat aus einem Incel-Forum, gefunden bei Kracher, V.: „Incels“, S.93)

Mysogenie unter Incels.
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Mysogenie unter Incels. Foto: MissLunaRose12 (CC BY-SA 4.0 cropped)

24. Februar 2022
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Incels – das sind unfreiwillig enthaltsam lebende Männer1. Bekannt wurde die Bezeichnung über eine Reihe von Amokläufern in den USA sowie Kanada und auch der Attentäter von Halle hat sich an ihnen ein Vorbild genommen. Neben solchen Attentaten (an hauptsächlich Frauen) tritt die Incel-Community v.a. als eine Online-Subkultur in Erscheinung. Auf Foren und Imageboards wie incels.co, Reddit oder 4/8chan teilen die Nutzer:innen ihr Leiden an Partner:innen- und Sexlosigkeit und drücken ihre Verachtung für dafür verantwortlich gemachte Personen aus. Nicht die gesamte Incel-Community begeht Morde oder sympathisiert mit solchen Gewalttaten, dennoch ist ein grosser Teil der Szene von einem fulminanten Hass auf Frauen beseelt, die sie für ihre Lage unfreiwilliger Enthaltsamkeit verantwortlich machen.

In der Öffentlichkeit werden die Incel-Attentäter bislang oft als Einzeltäter mit psychischen Problemen diskutiert, ihre Taten also als Ausdruck psychologischer Defekte festgehalten. So wird einerseits von den (falschen) Gründen, die die Attentäter für ihr Tun haben, abstrahiert und andererseits ihr Tun ausserhalb des normalen Verhaltens gerückt. Letzteres verdankt sich dem Umstand, dass sie unbefugt zum Mittel der Gewalt gegriffen: Zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt anzuwenden ist Bürger:innen nicht gestattet. Insofern haben sich die Amokläufer also ausserhalb des normalen, nämlich rechtlichen Rahmens, gestellt. Mit der rechtlichen und psychologischen Sortierung der Incel-Attentäter als Abweichung vom Normalen ist allerdings noch gar nichts erklärt, lediglich wird mit dieser Abgrenzung vom gesellschaftlich Gewünschten ein Gegensatz der Denke und Taten der Incels zur gesellschaftlichen Normalität behauptet.

Demgegenüber soll die folgende Analyse der Grundzüge der Incel-Ideologie zeigen, inwiefern die Attentate mörderische Konsequenzen ihrer Weltanschauung sind und auf welchen leider allgemein verbreiteten gedanklichen Grundlagen ihre Ideologie beruht. So dürfte dann auch deutlich werden, dass der Verweis auf verrückte Einzeltäter an der Sache vorbeigeht und die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und in ihr verbreiteter patriarchaler Normen, deren Geisteskinder die Incel-Mörder sind, ausspart.

Ebenso soll – entgegen Autor:innen wie Veronika Kracher – hier keine Psychopathologie von links betrieben werden, indem Incels als autoritäre Charaktere verbucht werden. Bei aller bei Incels vorhandenen Liebe zur Einbildung von sich als eigentlich überlegenen Männern, die Genuss an der Bestrafung von schuldhaften Personen haben, wäre solch eine „Neigung“ allemal eine Folge der Weltsicht der Incels und nicht ihr eigentlicher Grund. Deswegen soll es darum gehen, die mörderische Logik der Incels ernst zu nehmen statt sie als Oberfläche eigentlich ablaufender psychologischer Mechanismen und Deformationen zu behandeln.

Sexlosigkeit als Unwert-Urteil

Der Name „Incels“ gibt einerseits Auskunft über einen Umstand, der als Leiden empfunden wird: Sogenannte Incels2 haben keinen Sex, wollen aber welchen. Zugleich drückt die Bezeichnung als selbst gewählte auch eine Stellung der betreffenden Männer zu ihrem Leiden aus: Sie nehmen es für so bestimmend, dass sie sich gleich als Person damit identifizieren.

Am Massstab „Sex haben“ oder „nicht haben“ sehen Incels die Menschen auseinander sortiert, an ihm entscheide sich, wer etwas in der Welt gilt und wer nur Verachtung erfährt. Sich selbst sehen und erleben sie demnach als von der Gesellschaft Ausgemusterte und Gedemütigte.

Dabei beziehen sich Incels auf den Umstand, dass Sex in der modernen bürgerlichen Gesellschaft als so etwas wie ein Glücks- und Erfolgsmesser im privaten Wettbewerb um Anerkennung gilt. In der Perspektive gilt er eben nicht nur als schöne Sache aneinander genossener und miteinander geteilter Lust, sondern als das Ideal eingelösten Glücks und zugleich als eine Art Leistungsauskunft über die Person.

Als Frage des Glücks soll Sex für eine Art Totalbefriedigung sorgen, weswegen es auch so stark darauf ankommt, dass und wie man welchen hat, so dass er also klappt. Einerseits wird so die Frage gegenseitiger Wertschätzung auf einen pur physischen Vorgang runtergebracht, andererseits wird der dann aber auch total überhöht, indem von ihm das Gelingen von Leben und Partnerschaft abhängig gemacht wird. So – als Glücksgarant aufgefasst – zeigt sich die traurige Rolle, die Sexualität am Ende in unserer freien Welt spielt: Sie soll das Leben insgesamt irgendwie ins Positiv bringen, also für die im Alltag offenbar anfallenden negativen Erfahrungen entschädigen, ohne das gegen deren Gründe vorgegangen wird. Insofern ist (auch) dieses Glücksprogramm eine Sache des bornierten Festhaltens daran, dass man doch ein Recht auf Zufriedenheit hätte – „trotz allem“ und gerade weil dauernd Gründe für Unzufriedenheit im bürgerlichen Alltag anfallen, den man aber nicht abstellen will. So erweist sich der Glücksanspruch als eine Form des Willens zum Aushalten von unbekömmlichen Zuständen.

Als Frage des Erfolgs soll Sex zur Selbstbestätigung und Selbstdarstellung taugen: Sich Sexualpartner:innen und (anderen) sexuelle Befriedigung zu verschaffen, wird zur Leistungsanforderung, an deren Erfüllung sich die eigene ständig unter Beweis zu stellende Attraktivität bestätige und an deren schierer Menge, sich die eigene Potenz zeige. So gilt Sex-Haben als Ausweis ein zu eigenem Erfolg fähiger Mensch zu sein. Und so wird dann auch Sex-Haben zu einer Frage des Selbstwerts – wie umgekehrt Kein-Sex-haben zum Ausdruck von Unattraktivität, Erfolglosigkeit und Unwert der Person wird.

Incels bemerken den Wettbewerb um Attraktivität, Sexual- und Beziehungspartner und halten an ihm in erster Linie ihr schlechtes Abschneiden in ihm fest. Die permanente Glückssuche kritisieren sie nicht als verkehrten Materialismus der Kompensation, sondern als eine viel zu oberflächliche – bezöge sich in ihrer Sicht doch nur auf Fragen körperlicher Attraktivität und sexueller Aktivität.3 So wie alle anderen auch nehmen sie ihr relatives Abschneiden in diesem Zirkus um Anerkennung als eine Auskunft über ihre Person – und wo Sex-Haben zu einer Frage des „Werts“ der Person wird, wird daraus schliesslich auch – wenn der „Selbst-Wert“ wegen Sexlosigkeit als nicht vorhanden beurteilt wird – eine Existenzfrage: Ihr eigenes an gesellschaftlichen Massstäben und Normen gebildetes Unwert-Urteil über sich selbst haben zumindest die bekannten Attentäter derart ernst genommen, dass sie ihre eigene unwürdige Existenz nicht mehr aushalten wollten und sich im Anschluss an ihre Taten das Leben genommen haben.4

In dieser letzten Konsequenz aus mangelnden Selbstwert (verrückt werden; Selbstmord) steckt im Übrigen auch eine Wahrheit über das allseits geschätzte Selbstbewusstsein: Man braucht es, um Misserfolge wegzustecken und trotzdem weiterzumachen. Um in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz um Bildung, Einkommen, Wohnraum, Anerkennung beruht, in der also jede:r auf sich gegen die anderen gestellt ist, nicht den „Glauben an sich“ zu verlieren – trotz dessen, dass Konkurrenz mit Notwendigkeit Verlier:innen produziert.

Incels bleiben – auch hier knüpfen sie an eine ganz normale Geisteshaltung an – nicht dabei, lediglich ein Bedauern darüber festzuhalten, dass sie (derzeit oder schon seit längerem) keine (Sexual-)Partnerin finden konnten und auch nicht bei ihrem sich anlässlich davon gebildeten Selbstbezichtigungen deshalb insgesamt ziemliche Versager zu sein. Sie halten den Umstand des „Fehlens“ gleich als eine Art Rechtsbruch fest. Ihr (ideelles) Recht auf Glück, Beachtung und Respekt sehen sie verletzt, wenn sie die eigene Sexlosigkeit und ihr Singledasein betrachten. Mit dieser Einbildung so etwas wie einen Anspruch auf Erfolg und Zufriedenheit zu haben sind Incels nicht allein: Viele verwechseln die rechtliche Erlaubnis sich um den Erfolg der eigenen Interessen und Lebenspläne zu kümmern mit einer Art Erfolgsversprechen und fühlen sich dann in der Regel von ihren Mitmenschen oder der Politik betrogen, wenn sich Misserfolge einstellen – wofür die bürgerliche Welt mit ihrer allseitigen Konkurrenz in Beruf, Politik und Privatleben viele „Gelegenheiten“ bietet.

Dieses eingebildete Recht auf Kompensation sehen Incels vom weiblichen Geschlecht missachtet, dem ihr sexuelles Interesse gilt. Von Frauen erwarten sie dabei neben Sex auch lauter emotionale Fürsorge, erheben also einen allgemeinen Anspruch auf weibliche Aufmerksamkeit und Care Arbeit.

Die Idealisierung von Partnerschaft und Sex: ‚Eine Frau haben' – das Glücksversprechen schlechthin

„Ein Lächeln war alles, was es brauchte, um meinen kompletten Tag zu verbessern. Die Macht, die schöne Frauen besitzen, ist unglaublich. Sie können für einen Moment die ganze Welt eines verzweifelten Jungen verändern, indem sie lächeln.“ (Rodgers, E.: „My twisted world“, S. 76, Übersetzung Kracher, V.)

Das verzweifelte Interesse nach weiblicher Beachtung wird verdreht in Macht, die Frauen – zumindest so lange sie für attraktiv und deswegen für interessant befunden werden – hätten: Eine Macht zur ‚Gewährung' oder ‚Vorenthaltung' von Aufmerksamkeit und Zuneigung. Diese Macht besteht genauer darin, „dem verzweifelten Jungen“ ein positives Selbstgefühl zu verschaffen – oder aber ihn umgekehrt sein ‚Elend' spüren zu lassen. Das heisst: Ihr Interesse an Frauen, die Funktionalisierung weiblicher Kontakte für ihre Selbstwertaufpäppelung verkehren Incels in eine Macht, die Frauen deswegen über Männer hätten. Diese Bewertung hat insofern ihre Logik als sich das Interesse nach Bestätigung (durch Frauen) auch von ihnen abhängig macht.

Diese „Frauenmacht“ hat allerdings etwas fragwürdiges: Sie besteht nämlich demnach (lediglich) darin, Männern den Zugang zu sich – ihrem Körper, ihrer Zuwendung – zu gewähren oder zu verwehren: Nur relativ zum männlichen Begehren hat ‚die Frau' damit ‚Macht' und spielt damit dann auch nur für es eine Rolle. Insofern zeugt diese Frauen zugesprochene Macht von einer Perspektive, die Frauen auf den privaten Bereich von Liebe und Sexualität festlegt, also von allen politischen und ökonomischen Machtpositionen ausschliesst. Verfügen tut ‚die Frau' demnach ja auch nicht über irgendwelche gesellschaftlichen Machtressourcen, sondern nur über sich selbst. Insofern macht sich der Befund der ‚Macht' eigentlich am Umstand fest, dass Frauen einen Willen haben und entscheiden können, wem sie wie Aufmerksamkeit entgegenbringen. Die Problematisierung weiblicher Macht – zum Ausschluss von sich – nimmt insofern Mass am Ideal weiblicher Willenlosigkeit und zeugt umgekehrt von einem männlichen Verfügungsanspruch auf den Willen der Frau.

Den Willen von Frauen empfinden Incels deswegen als so ein Problem, weil Frauen damit Männer von dem, wovon sie sich Erfüllung versprechen ausschliessen können: Sich selbst, ihre emotionale und sexuelle Zuwendung. Damit sind Männer in Sachen Glück abhängig von anderen. Kurz: Die Idealisierung und Objektifizierung der Frau zum Glücksversprechen schlechthin trifft auf das reale Dasein der Frau als Subjekt und begründet so die Macht der Frau.

Umgekehrt entspricht der so zurecht phantasierten Macht von Frauen über das Glück der Männer die empfundene Ohnmacht der Männer – insbesondere wenn sie sich wie Incels immerzu nicht beachtet wähnen.

Gegen die Perspektive muss man aber festhalten, dass beide Seiten – Macht und Ohnmacht – Produkte der Glückssuche sind: Weil Frauen zum Glücksversprechen idealisiert werden und – in der Incel-Perspektive kaum vorgesehen – über einen eigenen Willen verfügen, erfahren sich Incels als ohnmächtige Opfer weiblicher Nicht-Beachtung.

Diesen Blick auf Frauen: hat sich nicht erst die Incel-Community ausgedacht. Er gehört zum Alltag unserer aufgeklärten Gesellschaft, wovon u.a. der ständig sexualisierende Blick auf Frauen in der Öffentlichkeit, die Rede von den „Waffen der Frau“ oder die Idealisierung des weiblichen Geschlechts zum ganz aparten ‚Anderen', dass man sehnsuchtsvoll begehrt und als Freundin/zur Frau „haben“/“nehmen“ will. Der Frau wird in solchen Würdigungen so etwas wie die Fähigkeit zum Glücklichmachen zugeschrieben: Mit ihrer Fürsorge und ihrem Körper habe sie es in der Hand, für Glück bei ihrem Gegenüber zu sorgen, also für alle Negativ-Erfahrungen zu entschädigen. Dieses Ideal der Kompensation ist dann die Jobbeschreibung für „die Freundin“.

Der Idealisierung der Frau zur Garantin allumfassender Befriedigung und Bestätigung entspricht die Abhängigkeit und Passivität der Sehnsucht. Wer sich vom „Freundin haben“ die Erfüllung verspricht, überantwortet sein (psychisches) Wohlbefinden anderen (Frauen) und dem kompensatorischen Konstrukt ‚Glück' und sieht seinen Selbstwert ohnmächtig der zufälligen Bestätigung durch Angehörige des weiblichen Geschlechts ausgeliefert.

Das Verbrechen der Frauen: Nicht-Beachtung und mit den Falschen schlafen

Von Frauen, von denen sie nicht beachtet werden, fühlen sich Incels aktiv zurückgewiesen. Aus einem Nicht-Verhältnis wird so ein bewusster Wille zur Ignoranz, der auf Zurückweisung und Degradierung des Gegenübers zielt.

Diese irre Deutung zeugt davon, dass Incels nicht nur den Wunsch nach Kontakt zu bestimmten Personen des weiblichen Geschlechts haben, sondern sich einen allgemeinen Anspruch auf Beachtung durch Frauen einbilden. Nur insofern man ohnehin Frauen lediglich unter der Forderung wahrnimmt, dass sie für Männer da zu sein hätten, wird aus einem nicht bestehenden Verhältnis ein ‚Angriff' und aus einer Abweisung eine ‚traumatisierende Grausamkeit'5. Aus dem Umstand in keinem Zuneignungs- oder Sexualverhältnis mit einem Incel zu stehen bzw. stehen zu wollen, wird in der Incel-Perspektive eine Verweigerung, welche auf die demütigende Botschaft abziele, Incels als Versager zu stempeln.

Weil sich Frauen allerdings nicht in allgemeiner Enthaltsamkeit üben, sondern sich angeblich nur ihnen ggb. in demütigender Absicht ‚verweigerten', entwickeln Incels einen missgünstigen Blick auf Frauen und deren partnerschaftliche und sexuelle Verhältnisse: An ihnen und ihren Partnern muss dann alles falsch sein. Und wo Frauen zuvor als ‚arrogant' beurteilt wurden, weil sie nicht mit Incels schlafen, gelten sie nun als geradezu ‚sexbesessen', immer darauf aus, „das Schwanzkarussel zu reiten“.

Der Hintergrund: Biologistischer Sexismus – die zweifelhafte Sexnatur der Frau und die biologische Sexwert-Hierarchie der Menschen Die – in der Incel-Deutung – auf Demütigung zielenden Frauen, welche sich offenbar zu schade für Incels sind, aber gar nicht im Allgemeinen auf Sex verzichten, werden allein schon deswegen, weil sie nicht mit Incels schlafen der ‚Oberflächlichkeit' und ‚Sexbessenheit' bezichtigt. Diese moralischen Beschwerden gegen Frauen, die nicht tun, was sie sollen, bauen Incels zu einer richtigen ‚Theorie' aus.

Dabei lassen sie sich streng von der Frage leiten: Wie kann sein (Sexlosigkeit), was nicht sein darf (Sexlosigkeit)? Insofern fragen sie von vornherein nach Hinderungsgründen für das, worauf sie sich einen Anspruch einbilden und welche ihnen die ‚Notwendigkeit' ihres Scheitern plausibel machen sollen. Dabei überlegen sie sich die Sache so: Es herrsche unter Menschen wie unter Tieren ein Wettbewerb um Sexualpartner:innen. Der wird sich ganz biologistisch vorgestellt, nämlich als Frage von Reiz-Reaktions-Mechanismen6. Die Frau wird hier ganz als ein Naturwesen aufgefasst, das – angetrieben von seinem ‚Sextrieb' – lediglich auf äusserliche Reize (des Mannes) anspringe und auch generell bloss reagiere. Diese Entsubjektivierung zeigt sich auch an den in der Incel-Szene Frauen vorbehaltenen Begrifflichkeiten wie ‚femoids' (=Female Humanoid/Female Android).

Zwar wird so betrachtet eigentlich der weibliche Wille zum Sex ganz heraus gekürzt, dennoch wird Frauen – weil sie sich so sehr von äusserlichen Merkmalen leiten und qua Sexverweigerung nicht die besonderen Qualitäten von Incels gelten liessen – der Vorwurf der Oberflächlichkeit erhoben. Incels beklagen weiter, dass Frauen lediglich darauf aus seien, möglichst viel Sex zu haben. Gleichzeitig wollen sie aber auch erkannt haben, dass die Sexnatur der Frau durch ganz bestimmte Körpermerkmale reizbar sei: Einen speziellen Körperbau, Schädelform etc. präferiere der Sextrieb der Frau.

So dass der doppelte Vorwurf gegen Frauen erhoben wird, gleichzeitig sexbesessen bzw. zu oberflächlich und viel zu anspruchsvoll zu sein. Und um den Widerspruch komplett zu machen, wird Frauen zur Naturtriebhaftigkeit auch noch ganz viel Berechnung nachgesagt: Dann nämlich, wenn sich eine Frau mit einen Nicht-Alpha-Mann abgibt – dann sei sie ganz materialistisch nur auf „Geschenke“ von ihm, also drauf aus, ihn auszunutzen.7 Alles in allem ergibt sich aus jeder der einander widersprechenden „Eigenschaften“ das Urteil über die Frau als einer moralisch verkommenen Gestalt: Als halbes Tier kaum fähig zur Verbindung mit vernünftigen Menschen, als Egoistin unwillens zur Gemeinschaft.

Nach dem Grad oder der Menge hervorgerufener sexueller „Reaktionen“ bei Frauen ergebe sich dann Hierarchie zwischen Männern, auf die sich vom „Chad“ oder „Alphamann“ über den „Normie“ bis zum „Incel“ am Ende unterschiedlich physiologisch und charakterlich definierte Typen von Männern verteilten.8 Alles in allem eine durch und durch biologistische Auffassung von Begehren, die den ganzen Willen der Beteiligten herauskürzt – zugunsten einer albern animalischen Vorstellung von Attraktion und Sexualität, bei der der Frau dann zudem auch noch eine ganz passive Rolle ‚von Natur aus' zugeschrieben wird.

Weil sie Begehren als bloss physiologische Angelegenheit auffassen, ist für Incels die Frage von Attraktivität mit dem Vorhandensein oder „Fehlen“ von körperlichen Merkmalen („Heightcels“ „mangele“ es z.B. an Körpergrösse, „Wristcels“ seien etwa mit „zu schmalen“ Handgelenken „gestraft“ etc.) entschieden. Zwar sehen sie die Möglichkeit der Veränderung des Körpers durch willentliches (etwa Sport, Ernährung) oder gesellschaftliches Einwirken (chirurgische Eingriffe) und befeuern sich gegenseitig auch z.T. im Ziele des „Looksmaxxing“, sehen aber dafür auch gewissermassen enge Grenzen. Da sie etwa das Aussehen primär als von der Knochenstruktur determiniert betrachten und das Aussehen zum alles entscheidenden Kriterium erklärt haben, finden sie sich vor eine ziemlich absolute Schranken gesetzt: Ihre Physiologie soll sie sozusagen zum Verlierer stempeln und da sie an der nur sehr bedingt etwas oder gar nichts ändern können, betrachten sie ihre Unterlegenheit und ihren „daraus“ sich ergebenden Verliererstatus für unüberwindbar.

Derart hässliche Exemplare der Gattung Mann wie sie hätten einfach keine Chance von Frauen begehrt zu werden. Ihr sexloses Schicksal sei also besiegelt. Und weil Incels die Frage der Attraktivität für Sexualpartner – ganz ihrer biologistischen Auffassung des Geschlechterverhältnisses entsprechend – zur alles entscheidenden sozialen Frage erklären, ist mit der selbst attestierten Unattraktivität in ihren Augen eigentlich auch schon über ihren generellen gesellschaftlichen Status entschieden. Denn für sie verläuft die entscheidende Grenze zwischen Sex habenden und sexlosen Menschen und: „Mit Attraktivität geht für Incels gleichzeitig immer Erfolg, Vermögen und auch Potenz und Virilität einher.“ (Kracher, Incels, S. 45)

Das Selbstbild von sich als anständiger und intellektueller Aussenseiter

Statt den gesellschaftlichen Wettbewerb im Allgemeinen und um Attraktivität und die Bedeutung von Sex für den bürgerlichen Selbstwert im Besonderen als schädliche Verkehrung der Konkurrenz in eine Frage der Fähigkeiten der Personen zu kritisieren, sehen sich Incels von ihrem (vermeintlich) schlechten Abschneiden im Wettbewerb um Partnerschaft und Sex gekränkt. Da sie die Frage ihres Selbstwerts – anhand des Erfolgs auf den Feldern sexueller Attraktion und Leistung – zur wesentlichen über ihre Existenz erklären, sind sie nicht nur ständig mit ihr beschäftigt, sondern auch mit dem eigenen ‚Versagen'. Das geht so weit, dass sie es in allen möglichen sozialen Interaktionen erleben und sich dazu vorarbeiten, dass beliebige andere Personen sie das auch spüren lassen wollen. So verwandeln sie ihr Versagens-Urteil in den Wahn, ständig öffentlich gedemütigt zu werden – das mag sich dann festmachen an sich sonnenden Frauen oder in der Öffentlichkeit Händchen haltenden Paaren, die ihrerseits nicht einmal aktiv mit ihnen in Kontakt treten wollen oder auch an Personen, die das in irgendeiner anderen Art als der beanspruchten Weise tun.9

Der eigenen Kränkung entspricht die Verachtung anderen: Oberflächlich, sexversessen, animalisch, brutal. Den Urteilen über die Restgesellschaft, die sie angeblich vom Sex ausschliesse, ist dabei dann zu entnehmen, dass Incels sich von ihr positiv abgrenzen wollen: Sie seien nicht einfach animalisch ihrer Natur ausgeliefert, sondern hätten Geist. So liessen sie sich nicht von blossen Äusser- und Oberflächkeiten leiten, sondern seien irgendwie tiefer, irgendwie ernsthafter, irgendwie innerlicher und irgendwie netter.10 Diese eingebildeten Abhebungen vom sexbesessenen Rest zeigen, dass Incels das mit der Sexlosigkeit vermeintlich über sie gesprochene Unwert-Urteil nicht einfach gelten lassen wollen: Ihrem Selbstbild entspricht das vermeintlich oder tatsächliche gesellschaftliche Urteil nämlich nicht.

Zwar betrachten sich Incels durchaus als ziemliche Versager, erklären im nächsten Schritt allerdings das ganze Feld der Sexualität zu einem unwesentlichen, über das sie als moralische Individuen und unangepasste Intellektuelle ohnehin erhaben seien. So kontern sie ihr eigenes Versagerurteil mit einem kompensatorischen Selbstideal. In dieser Perspektive können sie sich dann als ganz besonders herausgehobene Individuen geniessen, die - obwohl deren „Opfer“ – „den Normies“ moralisch und intellektuell haushoch überlegen sind. Die vermeintliche Überlegenheit der anderen – wegen Attaktivität und sexueller Erfahrung – entwertet sich, so dass sie Incels moralisch und geistig eigentlich also als minderwertig gelten.

Die Abgrenzung von der Alpha- und Normie-Gesellschaft hat dabei eine explizit politisch rechte Seite: Sich selbst begreifen viele Incels nämlich als dahingehend aufgeklärt und unangepasst, dass sich keinem angeblich von Frauen, Linken und Marginalisierten angeheizten kulturpolitisch-liberalen, Staat und Gesellschaft beherrschenden „PC-Mainstream“ unterordnen würden, dafür stattdessen nur gehässige Verachtung übrig hätten.11 Zur rechten Gesellschaftsdiagnose gleich mehr.

Die Erklärung für die Lage: Feminismus

Incels erheben nicht nur gegenüber den einzelnen Frauen, die sie zurückgewiesen haben, sondern der ganzen Gesellschaft gegenüber den Vorwurf, die falschen Massstäbe zu setzen: „Unsere Gesellschaft sei oberflächlich und sexbesessen, und Glück und Erfolg messen sich nur daran, das ‚Game' zu gewinnen, was Incels aufgrund ihrer Unattraktivität und der daraus folgenden Sexlosigkeit für immer verwehrt bliebe.“ (Kracher, S.32) Das sei früher noch anders gewesen: Da sei nämlich jedem Mann eine seinem ‚Attraktivitätslevel' entsprechende Frau in lebenslanger Ehe garantiert gewesen.

Das nennen Incels dann „Looksmatching“. Dieser Zustand gehöre nunmehr aber der Vergangenheit an. Heutzutage seien Frauen einem Anspruchsdenken verfallen, nach welchem ihnen eigentlich nur noch ‚Chads' genügten – egal wie ‚unattraktiv' sie selbst seien. So ergäbe sich ein Ungleichgewicht in der Verteilung von Frauen auf Männer, so dass einige Wenige Alpha-Männer (die ‚Chads') Zugriff auf den Grossteil der Frauen hätten und ein immer grösser werdender Teil der Männer einfach ‚leer' ausginge.

Abgesehen von dem irren Besitzanspruch, der sich in dieser ausgemalten „Normalverteilung“ vom „Gut“ Frau auf die Männer offenbart, geben Incels mit ihrer Sicht auf die „ungerechten“ aktuellen Geschlechter-Verhältnisse kund, dass ihr Ärgerniss grundlegend im Umstand, dass Frauen über einen freien Willen verfügen und sich in Sachen Partner- und Beziehungswahl im Vergleich mit früheren Geschlechterarrangements entscheiden können. So haben sich Männer heutzutage also mit dem ‚Problem' der Selbstbestimmung von Frauen über ihre eigene Sexualität, ihren Körper und ihre Lust herumzuschlagen.12

Für diese ‚Fehlentwicklung' und ‚Ungerechtigkeit' an minder bemittelten Männern machen Incels den Feminismus und ‚Kulturmarxismus' verantwortlich: Durch sie wären Frauen so sehr in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt worden, dass sie – in den Augen von Incels – viel zu hohe Ansprüche in Bezug auf potentielle männliche Partner entwickelt und eine generelle Machtposition gegenüber Männern erworben hätten. Letztlich bzw. objektiv machen Incels den Grund für ihre ‚Lage' als ‚Opfer' darin aus, dass Frauen als Rechtssubjekte vom Staat anerkannt worden sind und als solche sowohl über das Abschliessen von Verträgen, Eingehen und Auflösen von Ehen und den eigenen Körper und ihre Sexualität bestimmen dürfen13.

Diese Veränderungen stellen sich in der Incel-Ideologie im Resultat als für Männer im Allgemeinen und Incels im Besonderen ‚untragbare' Verhältnisse dar: „In ihren Augen ist die Welt eine von Kulturmarxismus und Political Correctness beherrschte Dystopie, in der Frauen Männer durch ihre Sexualität kontrollieren und mit feministischen Superwaffen wie ‚falschen Vergewaltigungsandrohungen' (vermutlich: -vorwürfen) in Schach halten, und in der Männer so eingeschüchtert sind, dass sie nichts anderes tun, als jede erdenkliche Laune dieser kapriziösen Weiber zu erfüllen.“ (Kracher, S.39) Die Bestimmung über den eigenen Körper und feministische Kritik gelten Incels im Grunde als Unterdrückungsmittel und Waffen von Frauen zur Etablierung einer quasi-widernatürlichen Herrschaft von Frauen (und weiter von nicht-Weissen Minderheiten) über (nicht nur, aber auch Weisser) Männer14.

Während Frauen als Berufstätige und als Trägerinnen vom Recht sexueller Selbstbestimmung in der Incel-Ideologie ihre Rolle als Frau verletzen, würden Männer in den aktuellen, polit-moralisch verdorbenen Verhältnissen ihrer Männlichkeit entwöhnt, so dass sie sich die ‚Unterdrückung' und ‚Abhängigkeit' von Frauen auch noch kollektiv gefallen liessen.

Die Antwort: Bestrafung des matriarchalen Unrechts per Femizid

Von der Diagnose, dass sie mit ihrer sexlosen Lage Opfer eines einzigen feministischen Verbrechens sind, kommen Incels auf das Bedürfnis das Unrecht zu vergelten. Ob als Phantasie oder – in bitterster Konsequenz – als Massenmord betätigen sie ein Strafbedürfnis.

In einer Variante wird das aus dem Vergleich mit Sex Praktizierenden gewonnene Unterlegenheitsgefühl für eine Bestrafungphantasie des Sexentzugs für alle produktiv gemacht: „Ich begann Fantasien zu entwickeln, in denen ich sehr mächtig wurde und alle davon abhielt Sex zu haben. Ich wollte ihnen ihren Sex nehmen, so wie sie ihn mir genommen hatten. Ich sah Sex als einen bösen und barbarischen Akt an, weil ich unfähig war, ihn selbst zu haben {…} Ich entwickelte die Vorstellung, dass Sex verboten werden sollte.“ (Rodgers, S.56)“ (E. R., Incels, S.72, FN52 ) Ganz nach dem Motto „wenn ich nicht kriege, was mir zusteht, dann soll es niemand bekommen“ wird hier gehässig das eigene empfundene Unrecht durch seine Verallgemeinerung und die Dämonisierung des eigentlich begehrten Sex vergolten. Die Verbotsphantasie entspringt nicths anderem als dem Willen zur Bestrafung: „{Meine Radikalisierung} war beflügelt von meinem Wunsch, alle sexuell Aktiven zu bestrafen, da ich zu dem Schluss kam, dass es nicht fair war, dass andere Menschen Sex hatten, während er mir all mein Leben verweigert worden war. In mir entwickelt sich das Verlangen, eine Welt zu schaffen, in der niemandem erlaubt ist, Sex zu haben oder Beziehungen zu führen {…}. Sex ist böse, da es denjenigen zu viel Vergnügen schenkt , die es nicht verdienen.“ (Rodger,s FN 54, S. 65 Unverdientes Glück gehört anderen entzogen, gerade wenn man selbst unverdienterweise von ihm ausgeschlossen würde – so die gehässige Logik.

In einer anderen Variante wünschen sich Incels ein staatlich zugesichertes „Recht auf Vergewaltigung“ als Kompensation ihrer ‚Unrechtslage' herbei.15

Und schliesslich, und darüber ist die Incel-Szene überhaupt erst bekannt geworden, ziehen manche Incels in ihren ganz persönlichen tödlichen Rachefeldzug. Für das ihnen angetane Unrecht und die ständig, eben wahnhaft, erlittene Demütigung verlangen diese Incels Vergeltung und „Wiedergutmachung“. Das tun sie im Bewusstsein, Widerstand gegen die ihnen so feindliche Welt zu leisten („Beta Male Uprising“), die ihrer eins klein halten und unterdrücken wolle.16 Der Massenmord an v.a. Frauen wird hier als Aufstand gegen die Herrschaft des Matriarchats und als Mutmacher und Fanal für Gleichgesinnte verstanden.

In Gewaltphantasien und -taten wird die empfundene Ohnmacht (Frau als Machthaberin über den Sex) und Demütigung (Nicht-Gewährung von Sex) kompensiert.17 Ganz im Sinne des Erwehrens gegen einen Unrechtstatbestand soll mit dem Gewaltakt eine „natürliche Ordnung“ wiederhergestellt oder zumindest mit herbeigeführt werden, gegen die der Feminismus verstossen habe. Die eigene Gewalttätigkeit gilt Incels als Reaktion, als legitime Gegenwehr gegen eine als Negation der eigenen Existenz empfundene Ablehnung: „Die Ablehnung, die Frauen mir entgegenbringen, ist eine Kriegserklärung, und wenn sie Krieg wollen, sollen sie Krieg haben. E wird ein Krieg sein, der in ihrer kompletten und totalen Vernichtung münden wird.“ (E.R., S.131, Incels S.74)

Im Grunde verhält es sich also so: Ihr durch Zurückweisung und Sexlosigkeit gekränktes Anerkennungsbedürfnis wollen die Incels nicht auf sich sitzen lassen. Sie halten sich nämlich für sehr anerkennungswürdige, ja eigentlich sehr liebenswürdige und vor allem schlaue Kerle. Dass sie solch aussergewöhnliche Menschen sind, die eigentlich nur Anerkennung verdient haben, wissen sie so sicher, dass sie das anderen im Gewaltakt demonstrieren: „Er würde jedem zeigen, dass er «der Überlegene, das wahre Alphamännchen» sei.“ (https://www.woz.ch/-90f1)

Wer ihnen nicht per Einwilligung in Sex die Achtung und Anerkennung entgegenbringt, die ihnen zustünde/die sie zu verdienen meinen, gehört per Gewalt bestraft und untergeordnet. Sie demonstrieren mit dem Massenmord, dass sie achtungswürdige Gestalten sind, indem sie diejenigen umbringen, die das ihnen die ganze Zeit vermeintlich verwehren wollen würden.

Auch diese Art Rechtsbewusstsein ist nicht nur bei Incels anzutreffen, sondern eine verbreitete Unsitte, an die sie anknüpfen können: Wer sich ein ideelles Recht auf Erfolg und Anerkennung einbildet und angesichts von Misserfolg der Meinung ist, dass ihm die Welt oder ihre Partner:innen das Gegenteil schuldig bleiben, sieht sich missachtet und greift dann in der Überzeugung im Recht zu sein zur Gewalt, um sich den Respekt als anspruchsberechtigte Person zu verschaffen.

Isidore Beautrelet

Fussnoten:

1 Es gibt auch als „femcels“ bezeichnete Frauen, die sich der Community zurechnen. Zu allergrössten Teilen besteht die Szene der sich selbst so nennenden Incels aus männlichen Personen. Im Folgenden wird deswegen auch immer von Männern die Rede sein, i.E. von heterosexuellen, meist weissen, cis-Männern.

2 Im Folgenden werden „Incels“ als heterosexuelle Männer unterstellt, was sich in den Formulierungen niederschlagen wird. Das verdankt sich dem Umstand, dass damit die empirische Mehrheit der sich so Bezeichnenden getroffen ist. Es handelt sich mehrheitlich, wenn auch nicht ausschliesslich um ein cis-männliches, heterosexuelles, weisses Phänomen, das sich letztlich als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft erweisen wird.

3 Zur Beurteilung der gesellschaftlichen Gründe für ihr relativ schlechtes Abschneiden in Fragen der Anerkennung auf dem Feld des privaten Glückes durch die Incel-Community selbst später mehr.

4 Auch das Video vom Attentäter aus Halle oder Abschiedsmanifeste von anderen Attentätern sind voll von Selbstbezichtigungen über das eigene Versager-Dasein.

5 Hierzu lesenswert die Zusammenfassung des Manifests vom Incel-Attentäter Elliot Rodger in Veronika Krachers Buch „Incels“, ein Ausschnitt: „So wie er Frauen abwertet, überhöht er ihren Einfluss auf sein Leben: als er mit elf Jahren beim Spielen in ein Mädchen rennt und diese ihn als Reaktion schubst und anschreit, betrachtet er diese Tat als ‚Grausamkeit', die ihn ‚ohne Ende traumatisiert' und ihm ‚lebenslange Narben zufügt'. Von Frauen grausam behandelt zu werden, ist zehnmal schlimmer, als von Männer grausam behandelt zu werden', so Rodger; da ihn diese Ablehnung umso mehr damit konfrontieren würde, ein ‚Versager' zu sein.“ (Kracher, S.67)

6 Das verkennt die menschliche Sexualität, die nicht lediglich ein körperliches Reagieren ist, sondern Lustempfindung und Begehren, also eine Einheit von körperlicher und geistiger Erregung. Dementsprechend können Menschen auf allerlei Leute und Praxen stehen; und ändert sich auch individuell wie gesellschaftlich, was als begehrenswert angesehen wird mit den je gültigen Massstäben von Erfolg – entlang derer dann Menschen als attraktiv/unattraktiv sortiert werden.

7 Dieser Widerspruch wird auch in ein zeitliches Nacheinander gebracht: Während junge Frauen genetisch pur auf Sex und darin auf die attraktivsten männlichen Alpha-Exemplare programmiert seien, seien „verbrauchte“ Frauen ab Dreissig auf Familienplanung geeicht und suchten sich dafür dann einen zwar mittelmässigen, aber dafür treuen, also ihnen zumindest Sicherheit bietenden Mann, mit dem sie dann eine ganze „normale“ Familie gründen und so zu „Normies“ würden (vgl. Kaiser, Politische Männlichkeit, S. 28).

8 Die Hierarchie der Männer ordnet sich in erster Linie nach körperlichen Merkmalen entlang westlicher Attraktivitätsnormen für Männer, denen dann auch bestimmte Charaktereigenschaften zugeordnet werden. Die Hierarchie selbst richtet sich nach den Chancen, beim weiblichen Geschlecht gut anzukommen. Kurz ein paar Beispiele für die ausgedachte hierarchische Typologie der Männer: Am oberen Ende der Hierarchie steht der Typus des „Chad“, „der nichts anderes ist als eine Klischeezeichnung von Hypermaskulinität, ein Quarterback aus einem High-School-Film“ (Kracher, Incels, S. 44). Chads seien viril, attraktiv (stark, gross, kantiges Gesicht), sexuell erfolgreich, aber auch dumm und brutal – im Prinzip gelten sie Incels als so etwas wie Tiere. Der „Normie“ der breiten Masse gilt weder als besonders hübsch und klug, noch als besonders hässlich und dumm, er sei eher so etwas wie ein Langweiler, der zwar noch sexuellen Erfolg bei Frauen habe, aber nur dann eine Frau ‚abkriege', wenn sie ihn materiell ausnutzen wolle. Profeministische oder linke Männer können zwar z.T. auch irgendwie als sexuell erfolgreich gelten, verdienen sich aber als „Soyboys“ (von Sojamilch) Verachtung, da sie sich weiblichen Ansprüchen einfach unterordnen und damit im Prinzip ihre Männlichkeit aufgeben würden. Ganz am Ende der Hierarchie stehen die Incels, als unfreiwillig zölibatär Lebende. Diese ganze innermännliche Sexwert-Hierarchie beziehen Incels dann noch auf unterschiedliche „Ethnien“, wobei allerlei rassistische Stereotypen vom indischen Nerd bis zum Schwarzen Gangster zum Tragen kommen.

Der innermännlichen Hierarchie steht eine innerweibliche gegenüber, welche ebenfalls rassifiziert wird: So stehen Weisse Frauen als „Stacys“ ganz oben und gelten als arrogant und oberflächlich, Schwarze Frauen etwa als sexuell triebhaft, aber laut und raumnehmend, asiatische hingegen als perfekt submissive Partnerinnen. Der Massstab bei der Betrachtung von Frauen wie Männern ist dabei wie gewohnt Weiss.

9 Hierbei identifizieren Incels die Wirkung, die etwa „das Glück“ der anderen auf sie hat – sie fühlen sich als ‚Versager' gedemütigt – als unmittelbar bezweckt, eben als den Willen, sie zu schädigen und zu diskriminieren. So verkehren sie ihren Neid und in das Selbstbewusstsein, Opfer ständiger Diskriminierung zu sein. Ihr Kreisen um den Wert ihrer Person nehmen sie so wahnhaft als eine unmittelbar erlebte „objektive“ Realität.

10 Während Incels die „Chads“ für ihre ‚Animalität' und Brutalität gegenüber Frauen verachten, betrachten ausgerechnet sie – die sich v.a. in Frauenverachtung üben – sich selbst gern als ganz ‚liebe Kerle'.

11 Passend zum Selbstbild des unangepassten Aussenseiters wurde in der Incel wie in anderen rechten Szenen die Filmfigur des „Jokers“ extrem gefeiert. In der Figur des von der Gesellschaft ausgestossenen, ungeliebten Fieslings, der seine Kränkung von der Gesellschaft mit Verachtung und Rache begegnet, sehen Incels anscheinend ihre Position stilisiert und feiern im Nihilismus des Jokers sich selbst. So werfen sie sich in die Pose der Drüber-Stehenden, die die Belange der Restgesellschaf einfach nicht ernst nehmen können, weil sie sie längst als lächerliche „durchschaut“ hätten. Das Dumme und gar nicht ungewöhnliche an dieser Pose: Statt irgendeine bestimmte Kritik an gesellschaftlichen Praxen, Prinzipien oder Ideologien vorzutragen, wird einfach das ganze gesellschaftliche Treiben für Quatsch erklärt, ebenso wie der Wille nach den Regeln der Gesellschaft sein Leben auszurichten: Das sind dann Normies. Somit wird und soll gar nichts kritisiert, sondern lediglich das Selbstbild gepflegt werden, nicht zum angepassten Normalhaufen zu gehören.

12 Feminismus und die ‚Sexuelle Revolution' hätten „Frauen dazu bewogen, eine lebenslange Ehe mit ihrem ‚Looksmatch' gegen einen Ritt auf dem Schwanzkarussel einzutauschen.“ (Kracher, S. 101)

13 Dass all diese Rechte wie sonst auch durch einen gesetzlichen Rahmen geregelt und mit ihm jeweils bestimmte Bedingungen verknüpft sind, die die Nützlichkeit des weiblichen Geschlechts für Staats- und Wirtschaftsordnung garantieren, interessiert Incels nicht. Sie sehen mit der etwas gleichgestellteren Position von Frauen stattdessen gleich das ganze Gesellschaftsgefüge unter weibliche Kontrolle gebracht – zu dem inhaltsleeren selbstzweckhaften Ziel, Männer zu beherrschen.

14 Als Nationalisten sind zudem anscheinend viele in der Incelszene davon überzeugt, dass die (US-)Politik eine Art ‚Umvolkung' betreibe: Per Zulassung von Einwanderung und Erlassung von Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung widme die Politik bzw. die ‚linksliberalen Eliten' ihre gesetzgebende Macht ‚volksfremden' und damit ‚unberechtigten' Personengruppen und anderweitig abweichenden ‚Minderheiten'. Das zeige wiederum einen Missstand fundamentaler Art an: Den nämlich, dass die Politik gar nicht mehr dem (‚angestammten') Volk diene, es nämlich für allerlei verabscheuungswürdige Zwecke verrate. So stellen sich also auch Teile der Incel community im Streit der US-Öffentlichkeit um die Frage, wer zum (amerikanischen) Volk gehöre und wer nicht, auf die Seite derer, die zum eigentlichen und einzig anspruchsberechtigten Volk im Staat nur den Weissen, heterosexuellen Cis-Mann zählen wollen und meinen, dass genaue dieser von lauter nicht-weissen und queeren Minderheiten bedroht würde und zum Unterprivilegierten gemacht werden solle.

15 Im „Rapepill-Manifest“ heisse es in dem Zusammenhang, „dass Vergewaltigung ein natürliches männliches Bedürfnis und ausserdem die einzige Möglichkeit für Incels sei, an Sex zu gelangen.“ (Kracher, S.105)

16 Manche versteigen sich dabei sogar bis zu Verschwörungsideen wie jener eines beabsichtigten „Incelocausts“ seitens des Feminismus. So phantasieren sich ausgerechnet Leute, die Frauen umbringen oder der tödlichen ‚Rache' an ihnen zumindest positiv gegenüber stehen dazu, dass ihr Wille zur Gewalt nichts als Gegenwehr gegen einen gegen sie gerichteten Vernichtungswillen sei. 17 Dabei werden anscheinend Ohnmacht und Demütigung als Unrecht am Mann definiert, wenn sie sich an weiblicher Zurückweisung festmachen und Frauen zum vorrangigen Strafobjekt haben: denn sie sind es, die Incels v.a. umbringen.