7. Klasse, Deutschunterricht Hirnwütigkeiten

Gesellschaft

Meine Deutschlehrerin war eine aufrecht gehende Schildkröte mit Brille & blumenbestickten Seidenblusen.

Feuerlöscher in einem Klassenzimmer.
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Feuerlöscher in einem Klassenzimmer. Foto: FreeclimbZurich (CC-BY-SA 4.0 cropped)

26. April 2023
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Sie brachte uns bei, dass „ig“ weich ausgesprochen wird, es also nicht „König“, sondern „Könich“ heisst. Sie hatte sechs Brüder. Uns Jungs in der hintersten Reihe nannte sie „die Herren der Schöpfung“. „Etwas mehr Ruhe bei den Herren der Schöpfung“, rief sie aus, wenn es bei uns mal wieder zu laut wurde.

Wir liefen rot an, wir krümmten uns vor Schmerzen, wir tauchten unter die Tische ab – es war unglaublich. An keinem anderen Ort auf der Welt habe ich so eine Lachlust wie in der Schule empfunden. Woran lag das? Zum einen daran, dass man nicht lachen durfte. Zum anderen an unserem Alter natürlich. Es ist eine seltsame Idee, Pubertierende, die einen ähnlichen Sinn für das Komische wie Helge Schneider oder Autisten haben, mit der Literatur des 19. Jahrhunderts bekannt machen zu wollen. Aber wir befanden uns eben auf einem humanistischen Gymnasium.

Theodore Fontane, Unterm Birnbaum. Vor Kurzem fand ich die alte Reclam-Ausgabe wieder: Ordentliche Anstreichungen mit Füller, kurze Zusammenfassungen der jeweiligen Inhalte am Rand in einer mir fremden winzig kleinen Schrift. Unlesbar. Ich gab sie ins Altpapier.

Georg Büchner, Woyzeck. Das Highlight war, dass wir uns nach der Lektüre den Film von Werner Herzog ansahen, die wohl getreueste Verfilmung eines Bühnenstücks schlechthin, mit Klaus Kinski in der Hauptrolle (den ich nicht kannte, für mich war er Woyzeck), alle Szenen ohne einen einzigen Schnitt durchgedreht. In der siebten fasst Woyzeck Marie in den Schritt, ein Eifersuchtsanfall. „Woyzeck: (…) O, man müsstʼs sehen: man müsstʼs greifen können mit Fäusten. – Marie (verschüchtert): Was hast du Franz? Du bist hirnwütig.“ Wir waren really shocked. Und wenn jemand in der Pause Scheisse laberte, hiess es nur: „Bist du hirnwütig, oder was?“

Was wir noch aus dem Stück prolongierten: „Es geht was.“ (1. Szene)

Es waren die 90er, wir wuchsen mit Rap-Videos und amerikanischen Sportarten auf. Und bekamen einen Lachflash – privat diesmal, in einem sogenannten „bürgerlichen“ Haushalt, wo man die Fernseher zuweilen noch in Holzschränken versteckte –, als Loriot von seiner Mutter „Pussy“ genannt wurde. Wohlgemerkt, wir lachten nicht über die ödipale Anspielung; so nannten wir denjenigen, der sich beim Basketball zu Unrecht über ein Faul mokierte.

Dasselbe im Lateinunterricht bei „facere“, machen, tun. Aber auch bei „oculum“, einfach weil es komisch klang. Im Geographieunterricht bei „Flöze“, das Wort war so schön doof wie wir. Dort wurde uns, wir gehörten zum bilingualen Zweig, eine griffige Definition der Tundra geboten: „Tundra – almost flat.“ Damit konnten wir die fehlende Oberweite bei unseren Mitschülerinnen kommentieren. Die uns im Gegenzug schwerwiegende kognitive Entwicklungsdefizite attestierten.

Ich fürchte, dass ich es war, der auf die Idee kam, dass man einfach viel lauter sein musste, um dem Aufmerksamkeitssensorium der Lehrer zu entgehen, da sie nur mit Getuschel rechneten. So blökten & husteten wir im hirnwütigen Überbietungstriumph Wörter wie „Oschkosch“, „Nepomuk“ oder „Rumbatrommel“ ins blanke Unterrichtsgeschehen herein. Und als Daniel der Streber plötzlich mit schriller Stimme „Nagasaki“ schrie und einen Lehrer-Anschiss erster Güte erfuhr, schmissen wir uns förmlich weg von den Stühlen.

Dann auch noch Lyrik! Annette von Droste-Hülshoff, Kinder am Ufer. Kurz nachdem die Zettel verteilt worden waren, stammelte Tim mit hochrotem Kopf zu uns rüber: „Zeile drei, Zeile drei.“

„O sieh doch! siehst du nicht die Blumenwolke Da drüben in dem tiefsten Weiherkolke? O! das ist schön! hätt' ich nur einen Stecken“ –

Zu allem Überfluss wurde das Gedicht von einigen Mitschülern vorgetragen. Ich blickte zu Andre herüber, er hielt sich die Ohren zu – es half nichts. Die Schildkröte schickte ihn und mich vor die Türe, geistesgegenwärtig, denn unserem Lachanfall war anders nicht beizukommen, eine Naturgewalt. Genauso im Auditorium während einer Theateraufführung, als Faust mit gepresster Stimme schrie: „Nein nein, die Hölle tut sich auf“ – auch da wären Andre und ich fast rausgeflogen, nur weil seine Stimme so bescheuert geklungen hatte.

Ich werde diese flüchtigen Blicke nie vergessen, die man sich zuwarf aus hochrotem Kopf und die Lachlust ins Unendliche potenzierten.

Letztlich sind solche Dinge nicht vermittelbar, kollektiver Autismus, Idiotie für Eingeweihte, höchstens der Stoff für spätere Klassentreffen. Manchmal, eher selten kam es vor, dass Albernheit solipsistisch sich verirrte. Ich erinnere den Fall, als wir uns mit der Klasse Schindlers Liste im Kino ansahen. Jedem war klar, dass dies keine Spassveranstaltung sein würde, doch einer der Jungs lachte kurz auf, als eine jüdische Gefangene erschossen wurde. Er bekam die Abreibung seines Lebens und musste den ganzen Film über neben der Schildkröte sitzen. Seine hilflose Erklärung, die Frau habe in diesem Moment „so komisch gezuckt“, liess die Pädagogin nicht gelten. Wahrscheinlich hatte sie weniger Plessners phänomenologische Analysen über das Lachen und Weinen, als zeitgenössische Thesen über die Spassgesellschaft präsent. Und wollte ein Exempel statuieren.

Im Anschluss fand eine Nachbesprechung im Lehrerzimmer statt. Es war ein trüber Samstagnachmittag, in dem grossen Raum herrschte bedrückendes Schweigen. Die Schildkröte fragte nach unseren „Eindrücken“. Doch ausser den üblichen Verdächtigen, die sehr genau wussten, was die Lehrer so hören wollten, hatte keiner von uns Lust, bei einem abgekarteten Spiel mitzumachen. Natürlich hatte es mich berührt, wie Itzhak Stern zum Schluss den Ring überreichte – in der Szene kam so viel Gutes und Menschliches zum Vorschein. Wie tief die Gefühle reichten, trat umso deutlicher hervor, je mehr beide Seiten ihre innere Bewegung zu verbergen versuchten; und als Schindler dann in Tränen ausbrach, sich fragte, ob er nicht noch mehr Menschen hätte retten können, musste auch ich weinen. Peinlich darauf bedacht, dass niemand meine Tränen bemerkte, ging mir nicht in den Kopf, wieso ich meine Betroffenheit nun vor allen anderen zur Schau stellen sollte.

Wir, die wir da im Lehrerzimmer sassen und schwiegen, waren Teil von jenem Wiedergutmachungsspektakel, das sich seit den 80er Jahren allmählich zum Kult entwickelte in Deutschland, in dem Land, wo, Elke Geisel zufolge, „Erinnerung (..) die höchste Form des Vergessens darstellt.“ (1) Aber das wusste ich damals nicht, ich spürte nur deutlich, dass unsere Albernheit auf eine absolute Grenze gestossen war. „There's no Buisiness like Shoa-Business“ – das in die Stille hineinzusagen wäre gewiss ein treffsicherer Kommentar gewesen, den unsere Deutschlehrerin aufgegriffen hätte. An ironische oder sarkastische Bemerkungen ist inhaltlich anzuknüpfen, an die Albernheit nicht. „Gegen Albernheit lässt sich nicht argumentieren, weil sich gegen den Sog des Kitzels, in dem hier aller Sinn verschwindet, keine Gründe ins Feld führen lassen. Der alberne Strudel macht vor Nichts halt, d. h. er hält nicht eher ein, als bis das Nichts erfahren worden ist. In den Krämpfen der Albernheit wird das Bedeutende aus dem Körper geschüttelt und geschwemmt bis zur körperlichen Erschöpfung; eine Vernichtung alles bürgerlich Repräsentativen nicht nur, sondern – weit radikaler – der Ordnung von Repräsentation. Es gibt nur noch Zeichen, kein Bezeichnetes, nur Worte oder Gesten, keinen Sinn.“ (2)

MAS

Fussnoten:

(1) Elke Geisel: „No Businuess like Shoabusiness“, In: Ders.: Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Klaus Bittermann. Edition Tiamat: Berlin 2015, S. 32-42, hier: 39.

(2) Gert Mattenklott: „Versuch über die Albernheit.“ In: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln. Syndikat: Frankfurt am Main 1986, S. 210-223, hier: 211.