Eine antipolitische Romanze Malatesta erweist mir die Ehre

Gesellschaft

„Lasst euch nicht erzähl'n, ihr hättet ein Problem! Propaganda der Yuppi-Schweine, Arbeit hat man besser keine!“ höre ich, während ich am See liege, ein Seminar vorbereite, daran denke, dass ich Freitag wieder mal einen Vortrag halten werde und auch daran, dass ich meine Diss in ein handliches, verständliches Buch umschreiben müsste.

Errico Malatesta.
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Errico Malatesta. Foto: PD

18. Mai 2022
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Korrektur
Also ein neues Buch, dessen Lohn darin bestünde, dass vielleicht ein paar hundert Menschen mehr sich mit meinen Gedanken auseinandersetzen und weiterbilden könnten.

Machen wir uns nichts vor: Meine Tätigkeiten sind extrem unsexy und stellen ja vor allem eine Prokrastination von Verantwortungsnahme und Lebensgenuss dar. Wieder einmal beschleicht mich dieses erschreckende Gefühl, dass mein Leben an mir vorbei zieht und immer schneller läuft. Und auch wenn ich denke, dass dies vielleicht allen bisweilen mal so geht, frage ich mich doch, ob sich hier nicht der Schraubschlüssel rein werfen liesse. Doch Leben ist Wandel und Stillstand ist Tod – die Konsequenz daraus wäre also das Gegenteil von dem, was ich anstrebe.

Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ja nur meine Ruhe. Und ja, ich beneide auch die Menschen, die ihre Arbeit, ihre Familie, ihren geregelten Alltag, ihren Kleingarten haben. Sie sind damit im Durchschnitt sicherlich nicht mehr oder weniger zufrieden als ich, der ich permanent herum renne in meiner kleinen Welt. Oftmals auch nur innerlich. Naja klar, da fehlen eben Dinge. Sie fehlten schon immer, ebenso wie das Zutrauen darin, dass es besser werden könnte und mein Leben mehr wert sein sollte. Gegen einen gesunden Pessimismus ist nichts einzuwenden, denke ich mir. Gegen funktionale Depression schon. Denn andere können die Dinge eben etwas leichter nehmen oder lassen sich das eigene Glück zumindest nicht vermiesen, weil sie es sich wert sind.

Ich weiss, das klingt wohl ganz schön niederschmetternd. Besser aber die Dinge klar zu benennen, als die ganze Zeit um den heissen Brei herum zu reden. Es hat ja Gründe, warum ein Mensch zum Theoretiker und Anarchisten wird. In meinem Fall als anarchistischer Theoretiker kommen dann noch zwei ungünstige Dispositionen zusammen. Da will ich voranschreiten, doch die Meta-Reflexion hindert mich am unmittelbaren Leben, wie ich unterstelle, dass es meine Gesinnungsgenoss*innen könnten. Und als Theoretiker bin ich eben auch nicht mit mir im Reinen, weil ich wieder das Gefühl habe, ich müsste das erwähnte oder ein anderes Buch schreiben. Doch wozu, wenn es niemanden in der eigenen Szene interessiert und es im akademischen Raum ebenfalls nicht gewertschätzt wird?

Doch nun gut, was soll ich resignieren? Immerhin ist das Wetter wirklich schön, denke ich mir. Und gerade als ich auf das Fahrrad steigen will, erhalte ich eine SMS. Sie ist von Malatesta. Oh mein Gott! Merklich steigt mein Puls an und ich werde direkt faserig. Lange war es her, dass ich ihn getroffen hatte. Zuletzt war es auf einer Konferenz. Er wäre gerade in der Stadt, hätte was zu klären, aber auch etwas Zeit. Ob wir uns für einen Waldspaziergang treffen wollen? Ohne Handys versteht sich. Ich hatte heute keine Termine oder sonstigen Verabredungen mehr, aber wenn hätte ich sie sofort abgesagt. Oder einfach vergessen. Hoch erfreut antworte ich ihm also, fahre nach Hause und von dort zur vereinbarten Stelle mit der Bank vor den grossen Platanen.

Dort steht der kleine Mann im Sommermantel bereits an einen Baum gelehnt. „Hallo Errico“, sage ich verlegen-erfreut und er kommt mir entgegen – doch wir umarmen und nicht, sondern schütteln uns nur die Hände. Doch blickt er mir mit seinem scharfen, verschmitzten Blick kurz tief in die Augen. „Lange war's her, das wir uns gesehen haben... Ich glaube auf diesem Kongress in...“, spricht er. Und selbstverständlich erinnert er sich, weil er eben so ein aufmerksamer, pfiffiger Kerl ist. Damit beginnen wir unseren Spaziergang und sprechen über das Naheliegende: Über die (Anti-)Politik.

Malatesta erkundigt sich, wie es lokal und regional so läuft im anarchistisch-autonomen-antiautoritären Lager. Ob wir es hinbekommen eine gute Propaganda- und Kommunikationsarbeit zu machen. Ob wir neue Leute dazu gewonnen haben. Ob sich die Subkultur weiter entpolitisiere oder wieder ein rebellisches Refugium werden könnte. Wie der Stand unserer Debatte ist in Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen von Kapitalismus, Klimakollaps, Pandemie und Krieg. Ob wir eine vernünftige Bündnisarbeit mit anderen emanzipatorischen Strömungen hinbekämen und es schaffen würden, ausserhalb unserer Blase aktiv zu sein. Geflissentlich beantworte ich alle seine Fragen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, mit einem Blick dafür zu unterscheiden, was ich generell feststellen kann und was meine persönliche Einschätzung ist. Denn warum sollte ich ihm etwas vormachen? Immerhin können wir nur Veränderungen bewirken, wenn wir die Gegebenheiten klar benennen und deuten.

Eine gute Weile sprechen wir auch darüber, was es bedeutet im Widerspruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung zu leben und die Widersprüche in unserer Bewegung und in uns selbst auszuhalten. Denn wenn wir keine absoluten Wahrheiten haben, wie können wir dennoch darauf vertrauen, dass unsere Wege schon die richtigen sind? Und er erzählt auch von sich. Wie er die Dinge sieht; dass ihn bedrückt keine Zeit für seine Freundschaften zu haben, weil er so viel unterwegs ist für die Sache. Und das er es nicht mag, dass ihm sein Ruf vorauseilt – auch wenn ihn etliche Genoss*innen aufgrund seiner selbstkritischen Art und weil er den Finger in die Wunden unserer Bewegung legt, verfluchen.

„Heute wirst du von der Masse gefeiert, morgen von ihr fallen gelassen. In einer Phase hast du Macht in der Bewegung aufgrund deines Engagements, in einer anderen mindert sich deine Anerkennung, weil irgendein von seinem Ego eingenommener Genosse plötzlich grossspurige Reden von sich gibt und die anderen sich davon blenden lassen. Es bleibt kompliziert unter diesen Bedingungen eine langfristige Strategie zu entwickeln“, klagt mir Errico sein Leid. Und ich bestätige ihn fortwährend, weil ich den Eindruck habe, ich wisse genau. Denn ich denke, es wäre ohnehin alles so scharfsinnig, reflektiert und durchdacht, was er erzählt.

Es ist eben leider so. Ich bin etwas in ihn verknallt, glaube ich. Schon komisch, denn auch wenn ich mir meine homoerotischen Neigungen stets eingestehen konnte, hatte ich nie den Mumm, sie weiter zu verfolgen. Ein Begehren überkommt mich bei Männern sehr viel seltener als in Hinblick auf Frauen. Darüber hinaus fühlt es sich aber auch merkwürdig anders an. Geheimnisvoller, würde ich sagen. Und ich weiss nicht, ob ich nicht sogar bedauere, als junger Erwachsener nicht einfach andere Erfahrungen gemacht zu haben... Wie auch immer, ich hänge Malatesta an den Lippen. Also leider nur im übertragenen Sinne, nicht im wörtlichen. Denn dazu habe ich offenbar nicht den Mut.

Mal abgesehen davon, dass ich ohnehin ziemliche Probleme mit dem Thema Erotik und Liebe habe, hat es auch bestimmte Gründe, dass ich mich nie mit Genoss*innen eingelassen habe. Ich vermute, es erschien mir intuitiv immer besser (Anti-)Politik und Romantik zu trennen, weil beides schon für sich genommen verwirrend genug ist und schnell zu Streit führt. Doch bei Errico könnte ich mir vorstellen eine Ausnahme zu machen... Sein Scharfsinn und seine Empathie verzücken mich. Ich halte ihn für weich, aber bestimmt. Er kennt seine Grenzen und kann führen. Ich würde mich gerne bei ihm fallen lassen...

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt er mich, offenbar bemerkend, dass ich arg verträumt vor mich hinstarre. „Oh, ähmm, ähh“, stammle ich, „ich – ähhh – habe anknüpfend an das was du zu populären Mobilisierungen gesagt hast, darüber nachgedacht, in welchen Situationen ich mich habe begeistern lassen für … die Anarchie … und – ähm – mich dann eben zu organisieren. Letztendlich sind es doch immer die konkreten Menschen, die einen faszinieren und mitreissen, oder?“. „Eben“, entgegnet Malatesta milde. Und weiter: „Siehst du und du bist auch ein toller, reflektierter und kluger Mensch.

Du kannst denken, aber koppelst das nicht von deinem Gefühl ab. Du kannst beurteilen, aber weisst um die Grenzen und Relativität deiner Einschätzungen. Du kannst Menschen auf deine Weise begeistern, ohne, dass du ihnen irgendwas vormachen brauchst. Das ist viel wert. Nutze diese Fähigkeiten und bring sie für unsere Sache ein“. Tja und was soll ich sagen? Ich glaube es war der schönste, unausgesprochene Korb den ich im letzten Jahr bekommen habe. So trennten sich unsere Wege und wir vereinbarten, uns wieder beieinander zu melden beziehungsweise gegebenenfalls per Email in Kontakt zu treten, falls es etwas Bestimmtes gibt.

Jonathan Eibisch