Derealisations- und Depersonalisationsphänomene Der Augenblick meines Todes

Gesellschaft

Vor zwölf Jahren glaubte ich, sterben zu müssen. Jetzt,schoss es mir durch den Kopf, jetzt stehtes wirklich bevor.

Der Augenblick meines Todes
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Der Augenblick meines Todes Foto: Mario Sixtus (CC-BY-NC-SA 2.0 cropped)

17. Januar 2023
2
0
3 min.
Drucken
Korrektur
Ich wählte den Notruf. Eine Panikattacke, wie man mir sagte. Den Sanitätern schüttelte ich konfus die Hand. „Nein, Du bist nicht tot. Du bist lebendig.“

Die mündlichen Prüfungen hatte ich absolviert, die Diplomarbeit war geschrieben; mein damaliger Analytiker sprach von Passagenangst. Zumindest hatte er, was mich betraf, eine Idee, eine Arbeitshypothese: Da nun eine neue Lebensphase beginne, die für mich mit grosser Unsicherheit verbunden sei, agiere mein Körper diesen unbewussten Konflikt auf derart beängstigende Weise aus. In der Tat hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich nach dem Studium machen sollte.

Ende November kam ich in eine psychosomatische Klinik. Und dann, Mitte Dezember, versank das Land im Schnee. Es war der vielleicht letzte grosse Winter in Deutschland, weisse Matten überall, ich erinnere mich an meine täglichen Spaziergänge im Tierpark: diese Reinheit und Weisse, das Knarzen meiner Schritte, die verblüffende Leere in meinem Kopf. Draussen Minusgrade, Minussymptomatik im Gebäude. Ich gewöhnte mich rasch an den Klinikalltag, ich war der Freiheit endlich entledigt. Es ging mir fast wieder gut.

An einem Sonntag, kurz vor Weihnachten, bekam ich Ausgang. Ich durfte die Nacht zuhause verbringen – zur „Belastungserprobung“. S. hatte mein Lieblingsgericht gekocht, wir tranken Sekt in der Badewanne und schliefen miteinander; ich dachte an das Wort „Belastungserprobung“, dann verlor ich Raum und Zeit.

Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Handyklingeln geweckt. Ich ging ran und hörte die kalte Stimme eines Oberarztes, der seine Aufregung nur schlecht verbarg:

„Wo sind Sie denn? Sie sollten um neun Uhr wieder zurück sein. Das Pflegepersonal hat inzwischen die Polizei verständigt.“

Man war also davon ausgegangen, dass ich mich suizidiert hatte.

In der Klinik sahen mich alle an wie ein Gespenst, Gratulationen mit schiefem Grinsen. Es war mein 30. Geburtstag.

Alles kam mir unwirklich und fremd vor an diesem Tag, auch ich mir selbst, mit meinem lächerlichen Leben. Derealisations- und Depersonalisationsphänomene können, wie mich die Therapeutin der Station aufklärte, im Zuge einer Angststörung oder Depression auftreten.

War es das Gefühl von Leichtigkeit, von dem Blanchot sprach, als die Deutschen das Gewehr auf ihn richteten und er nur noch auf das letzte Kommando wartete? „Als ob der Tod ausserhalb von ihm von nun an nur auf den Tod in ihm stossen konnte. „Ich bin lebendig. Nein, Du bist tot.“[1]

Ich weiss es nicht. Doch von da an versuchte ich allein in Texten, in der Schrift zu leben; schriftlich zu existieren, in einer hermetischen Welt aus Wörtern, „makellos angeordneten Wörtern, die kaum etwas zu besagen hatten, das blosse Dasein, Buchstabe für Buchstabe, Zeile für Zeile sollte genügen.“[2]

MAS

Fussnoten:

[1] Maurice Blanchot: Der Augenblick meines Todes. Deutsch von Hinrich Weidemann. Merve Verlag: Berlin 2003, S. 38.

[2] Thomas Stangl: „Abwesenheiten“, in: Ders.: Reisen und Gespenster. Literaturverlag Droschl: Graz/Wien 2012, S. 7-16, hier: 7.