Von Mäusen und Menschen Pandemie Kriegstagebücher

Gesellschaft

“Bücher helfen ei'm nich. Jeder Mensch braucht 'n andern - jemand, der in der Nähe is.' Weinerlich fuhr er fort: 'Ein Mensch geht kaputt, wenn er niemand hat. Macht keinen Unterschied, wer's is, wenn man nur jemand hat. Kann dir sagen', rief er erregt, 'man wird sonst zu einsam und wird elend.“ John Steinbeck - Von Mäusen und Menschen

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Warnschild zum Benutzungsverbot öffentlicher Spielplätze durch das Baureferat der Landeshauptstadt München, Deutschland. Foto: Octagon (CC BY 4.0 cropped)

22. Mai 2020
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Zwei Wochen, nachdem sich am 1. Mai Tausende in Berlin Kreuzberg trotz des Ausnahmezustandes versammelt hatten, was den Berliner Innensenator von einer gigantischen “Corona Party” sprechen liess, meldeten die Berliner Krankenhäuser einen starken Rückgang der Anzahl der Menschen, die aufgrund einer Covid 19 Erkrankung eine stationäre Behandlung benötigten.

Nun würde es wenig Sinn machen, an dieser Stelle in einen erneuten Diskurs über Infektionskurven einzusteigen, weil dieser Gegenstand der Erörterung, entgegen einer ersten, naheliegenden Annahme, sich weitgehend rationalen Erörterungen entzieht. Dies ist dem Kontext geschuldet, in dem diese Erörterungen stattfinden, in dem es um scheinbar sekundäre, in Wirklichkeit jedoch um primäre Interessen geht.

Da wäre zum einen das Interesse der staatlichen Stellen, das vorherrschende Narrativ der Alternativlosigkeit des ausgerufenen Ausnahmezustandes um jeden Preiszu verteidigen. Gebetsmühlenartig wird in jeder Talkshow, in jeder öffentlichen Stellungnahme die derzeitige positive Entwicklung als sich aus dem verhängten Ausnahmezustand begründend dargestellt.

Hinweise und auch wissenschaftliche Einwände, dass die Evidenz dieser Behauptungen nicht belegt wären, führen ein Schattendasein in der öffentlichen Darstellung (3). (Z.B. die unwiderlegbare Beobachtung, dass die berühmt-berüchtigte Reproduktionszahl sich schon zum Zeitpunkt der Verhängung des Ausnahmezustandes auf 1,0 eingepegelt hatte und sich seitdem auf ungefähr diesem Niveau bewegt.)

Zum anderen wäre da jenes Phänomen, dass ein bekannter Psychoanalytiker letztens so treffend beschrieben hat. Überspitzt gesagt handelt es sich bei “dem Virus” eigentlich um ein Geschenk, weil er es der Gesellschaft ermöglicht, all ihre unbewussten, verdrängten Ängste, besonders jene den Tod und Krankheit allgemein betreffend, auf diesen Virus zu projizieren. Gelingt es den Virus in einer kollektiven Kraftanstrengung zu besiegen, sind scheinbar auch all die inneren Geister gebannt. (Was natürlich nicht funktioniert, genausowenig wie Somatisierungen innerer seelischer Konflikte den Ursprungskonflikt auflösen, sie schaffen nur eine Symptomebene, die scheinbar besser zu realisieren ist, und, so verrückt es klingt, auch meistens besser zu akzeptieren und auszuhalten ist).

Nun wird der Virus aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wieder so schnell aus unserem Leben verschwinden. (Auch wenn diese Projektion gerade von vielen Linken in den letzten Wochen so geliebt worden ist. Noch ein paar wenige Wochen Ausnahmezustand und dann wäre es möglich, ALLE Infektionsketten in Deutschland zu verfolgen und dem Virus den Garaus zu machen. Wofür es weder wissenschaftliche Beweise gegeben hat, dass dies eintreten wird, noch dies eine realistische Perspektive dargestellt hätte. Doch auch wenn diese sehr gewagte Annahme zu realisieren gewesen wäre, was hätte darauf folgen sollen? Um ganz Deutschland ein Mauer bauen und darauf warten, bis es weltweit keine nachgewiesene Infektionen mehr gibt?)

Nein, das wahre Geschenk “des Virus” dürfte sein, dass der Tod wieder seinen angestammten Platz in unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung bekommt, wie Giorgio Agamben letztens feststellte. All die unsinnigen Geschäftigkeiten, die kollektiv aufgeladenen Neurosen, die tausend Fluchten in alle Arten von Konsum, nur um scheinbar dem Unentrinnbaren zu entrinnen. Der fürchterliche Preis, den wir dafür zahlen, die Zerstörung der Erde durch die dafür notwendige Ausplünderung der Rohstoffe, all die grotesken überfüllten Strände und riesigen Kreuzfahrtschiffe. Die Abermillionen von Flügen, das Hin-und Hergeschiebe von Menschenmassen in denen jeder verzweifelt nach Überresten von Individualität schürft. Der ständige Optimierungswahn, all die Botox Spritzen und Fitnessprogramme.

Während unsere Alten, abgeschoben in Alten- und Pflegeheime, unter sich bleibend, uns nicht länger mit der Zumutung der Spiegelung unseres eigenen Verfalls belästigend, vor sich hinvegetieren. “Betreut” von billigen Arbeitskräften, die man häufig aus anderen Ländern rekrutiert. (Das Elend der hohen Sterblichkeitsraten in Schweden: Private Alten -und Pflegeheimbetreiber, Personal in prekären Arbeitsverhältnissen, häufig aus Osteuropa stammend, das sich mit fehlender Schutzausrüstung, notgedrungen teilweise schon selber infiziert, zur Arbeit schleppt.)

Und man beachte, die “Applaus Maschine”, das sinnfreie Geklatsche in der Isohaft am Fenster und auf den Balkonen galt den Beschäftigten des “Gesundheitswesens”, wer redete denn schon von den Beschäftigten in den Alten- und Pflegeheimen, wer skandalisierte die ausgesprochenen Besuchsverbote, das einsame Sterben, die seelische Grausamkeit die es bedeutet, wenn demente Menschen keine Gesichter, nur noch verhüllte Marsmenschen erblicken, die so wichtigen Berührungen und Sinneseindrücke radikal minimiert oder ganz weggelassen werden.

Nun, “der Virus” hat eine Krise produziert, oder eigentlich hat er gleich mehrere Krisen produziert, oder soll man besser sagen, sie an die Oberfläche gebracht, offengelegt, was eh schon vorhanden ist an gesellschaftlichen Untiefen. Genoss*innen aus Italien stellten die zutreffende Frage, was denn die Massnahmen gewesen wären, wenn der Virus eine ganz andere, wesentlich höhere Mortalität generiert hätte. (Nehme man an der Virus würde in der Art und Weise wüten wie Ebola, das in Phasen eine Mortalitätsrate von 50-90% aufwies.

Hätte man ganze Stadtviertel abgeriegelt und mit Napalm belegt… Und man solle nicht annehmen, dieses System sei dazu nicht der Lage, man befasse sich nur mit den Planungsszenarien für einen atomaren Krieg in Europa, die in den 70igern und 80igern entworfen wurden.) Wir erleben also derzeit eine “Gesundheitskrise”, eine ökonomische Krise (die eigentlich schon da war, sagen viele), eine politische Krise, eine soziale Krise und letztendlich eine kollektive Sinnkrise (die eigentlich auch schon da war, sagen einige).

Ich schrieb ja schon vor ein paar Wochen, die Art und Weise wie das Empire auf die Corona Pandemie reagiere, das Drücken des Panik Knopfes deute auf eine vorrevolutionäre Situation hin. Wobei es sein könne, dass das Pendel auch nach rechts ausschlage. Die derzeitigen Mobilisierungen der sogenannten “Hygiene Demos” deuten darauf hin, das zumindest in Deutschland das Pendel nach rechts ausschlägt. Was es umso bedeutender macht, sich eine Begrifflichkeit der derzeitigen Situation zu erarbeiten.

Oder wie die Genoss*innen des Autonomie Magazin letztens schrieben: “Wir sollten vielleicht aufhören, uns an dieser Form von 'Corona-Rebellion' abzuarbeiten und beginnen, unsere eigene Erzählung zu stärken, indem wir wieder anfangen unsere Kritik didaktisch klug vorzubringen.”

Es folgt die Übersetzung eines aktuellen Beitrags des verehrten Wu Ming Kollektivs, mit der der Übersetzer diesmal nicht wirklich zufrieden ist, für die sich aber kein anderer gefunden hat.

Sebastian Lotzer

矛盾 (máo dùn). In welche Fallen wir bei der Diskussion über den “Coronaviren-Notstand " tappen

von Wu Ming

Vor mehr als zwei Monaten versuchten wir in der dritten Ausgabe des Virus Tagebuchs zu klären, was wir mit "emergency" (1) meinten. Wir sprachen über "ein zugrunde liegendes Missverständnis, ein konzeptionelles Missverständnis, bei dem wir uns in der Übersetzung gegenseitig verloren ansahen", und erklärten:

"Es gab diejenigen, die unter "Notfall" die Gefahr verstanden, von der der Notstand ausging, nämlich die Epidemie.

Stattdessen nannten wir und einige andere - in einer sehr kleinen Minderheit, aber in der Kontinuität einer mindestens vierzigjährigen Debatte - das, was auf der Gefahr aufbaute, "Notstand": das Klima, das geschaffen wurde, die Sondergesetzgebung, Aufhebung von Rechten, die sonst als unantastbar galten, die Neukonfiguration der Befugnisse...

Diejenigen, die, wann immer wir über all dies sprachen, wieder über das Virus als solches, seine Ätiologie, seine Letalität, seine Unterschiede zur Grippe usw. sprechen wollten, warfen uns sofort vor, “die Situation unterschätzten".

Jeder Ausnahmezustand “is here to stay”

Der "Ausnahmezustand” - immer wieder und wieder der “Anti Terror Ausnahmezustand” (2), der “Ausnahmezustand der öffentlichen Finanzen” und all die anderen “Ausnahmezustände”, die wir kennen - ist niemals irgendein altes Narrativ. Es handelt sich um eine grossartig projizierte Erzählung, die, einmal der Phantasie aufgezwungen, eine sehr starken Sogwirkung hat und der man sich nicht mehr nach Belieben entziehen kann.

Wenn der "Notfall" anfängt, dysfunktionale Auswirkungen zu haben, arbeitet man daran, seine Umklammerung zu lösen, die scharfen Kanten abzustumpfen, ihn zu verlangsamen und ihn sich setzen zu lassen, aber das braucht Zeit. Und in jedem Fall werden die Auswirkungen dauerhaft sein: alle Notfälle, die wir kennen, haben sich “angesammelt”, wir könnten fast eine "Stratigraphie" daraus machen.

Fast zwanzig Jahre später leben wir immer noch - wenn auch nicht mehr in einer akuten Phase - in dem Ausnahmezustand nach dem 11. September. Wir bemerken es zum Beispiel jedes Mal, wenn unser Gepäck am Flughafen aufgegeben wird. Damals wurden die heutigen Verfahren eingeführt, deren Logik nicht sehr klar ist und die mehr "theatralisch" als alles andere erscheinen.

Wir erfahren noch immer die “Krisen in den öffentlichen Kassen” der frühen 1990er Jahre und 2011, denn die Kürzungen, die Gegenreformen und die Sparmassnahmen, die sich dank dieser Krisen “aufgedrängt” haben, haben uns bis jetzt in die aktuelle Situation geführt.

Ein grosser Teil der besonderen Anti Terrorismus-Gesetzgebung der späten 1970er und frühen 1980er Jahre ist noch immer in Kraft.

Wolf Bukowski schrieb für uns über die rhetorische und "proxemische" Kontinuität zwischen dem weit verbreiteten "Degradation Notstand" des Jahrzehnts und dem Coronavirus-Notstand vom Frühjahr 2020.

Kein Notstand ist vorüber, sie alle lasten auf unseren Schultern.

Der Kapitalismus hat den Ball gefangen

Stellen Sie sich also vor, Sie könnten sich leicht aus der Notlage befreien, die zur Bewältigung dieser Pandemie auferlegt wurde. Wir sprechen über den einschneidendsten und allgegenwärtigsten Notfall seit Menschengedenken, und zwar auf planetarischer Ebene. Vieles von dem, was in diesen drei Monaten erlebt wurde - denken wir nur an den DAD (? d.Ü) - wird bleiben, wenn auch in weniger auffälliger (aber gerade deshalb durchdringenderer) Form. Denken wir auch an die Ausnahmeregelungen zum Arbeitsrecht oder die Ausnahmeregelungen im Umweltbereich, die dank der Notlage im Namen der "Genesung" beantragt und erhalten werden.

All dies in der Schwierigkeit, eine konkrete Opposition aufzubauen, denn die Bedingungen der "sozialen Distanzierung" werden noch lange bestehen bleiben, die, wenn sie die Kämpfe nicht unmöglich machen, jedoch noch mehr Vorwand und Instrumente als bisher bieten, um sie zu unterdrücken. Wolf Bukowski hat auch einen grundlegenden Artikel darüber geschrieben, wie die Idee der "sozialen Distanzierung" in unserem täglichen Leben verewigt werden könnte.

Der Pandemie die Schuld für eine Krise und eine Rezession geben zu können, die sowieso kommen würden, ist für das Kapital sehr bequem: für seine Sektoren, die von dieser Phase profitieren oder zu profitieren versuchen, und für diejenigen, die verlorenes Terrain wieder aufholen wollen.

Dank des Sars-Cov-2-Virus hatte das Kapital die Möglichkeit, bestimmte Dynamiken zu beschleunigen, um sie besser zu steuern. Angesichts der Unausweichlichkeit einer Rezession ist es bei weitem besser, sie zu bewältigen, indem man die Schuld auf ein als "natürlich" dargestelltes Ereignis, auf Pech, auf eine Katastrophe, auf "äussere" Bedingungen des Systems abwälzen kann (wir wissen, dass dies nicht so ist, dass die Schuld für die Pandemie beim System liegt, aber jedes Mal müssen wir sie erklären).

All dies, das wiederholen wir immer wieder, ist nicht das Ergebnis eines Plans, eines Komplotts des Kapitals. Das Kapital antwortet auf das, was passiert, natürlich auf kapitalistische Weise. Die politische Macht steuert das, was im Rahmen der kapitalistischen Kompatibilitäten geschieht. Ein einziger Notstand wird nie lange im Voraus geplant: Er besteht darin, den Sprung zu wagen.

Man kann nicht von "Phase 2", "Phase 3" und allem anderen sprechen, wenn man die Gefahr nur im engeren Sinne betrachtet, d.h. nur in virologischer und epidemiologischer Hinsicht. Wir müssen darüber reden, was uns dieser Notstand hinterlässt und wie wir handeln, wie wir in dieser vielschichtigen Realität Räume des Dissens und des Konflikts zurückgewinnen können.

Intermezzo: "Start/Abschaltung"

Das Ganze begann in China, nicht wahr?

Im Chinesischen wird der Begriff "Widerspruch" mit den beiden Ideogrammen 矛盾, "Lanze" und "Schild", wiedergegeben. Wenn Sie sich die beiden Zeichen genau ansehen, erkennen Sie die Stilisierung der beiden Objekte.

Es ist überliefert, dass die Kombination und ihr Konzept einer Geschichte entstammen, die bis ins dritte Jahrhundert n. Chr. zurückreicht. (Jìn-Dynastie).

Ein theatralischer Händler zog durch Dörfer im Staat Chu und verkaufte unter anderem Speere und Schilde. Auf einem Platz fragte ihn ein Mann, wie seine Speere aussähen, und er sagte plappernd, sie seien die besten der Welt und könnten jeden Schild durchbohren. Bald darauf fragte ihn ein anderer Typ, wie seine Schilde aussähen, und er sagte, immer noch übertrieben, dass sie die besten der Welt seien und dass kein Speer sie durchbohren könne.

Da fragte ihn ein dritter Schaulustiger, der beide Absätze gehört hatte: "Was würde also mit einem Ihrer Speere geschehen, wenn er einen Ihrer Schilde treffen würde? Unfähig zu antworten, verliess der Kaufmann das Dorf.

"Entweder unterschätzen Sie das Virus oder Sie unterschätzen den Notstand."

Es gibt einen grundlegenden Widerspruch in allen Diskussionen über den Coronavirus-Notstand, einen Widerspruch, der sich in Form eines “falschen Dilemmas” darstellt und eine Folge davon ist, dass wir alle - einige von uns, einige mehr oder weniger - in trügerische Dichotomien geraten sind, dass wir in rhetorische Fallen geraten sind wie die, in die der altchinesische Kaufmann geraten ist. Dieser Widerspruch muss theoretisiert und überwunden werden, um das zu übernehmen, was wir in einem anderen Beitrag als "ganzheitlichen Ansatz" bezeichnet haben - oder synthetisch, wenn Sie eine eher dialektische Terminologie bevorzugen, im Sinne der Suche nach einer Synthese, die die Gegensätze überwindet.

Negante hat einen schönen und effektiven Weg gefunden, diesen Widerspruch darzustellen. Er tat dies in einem Kommentar zum vorhergehenden Beitrag, von dem wir einen Auszug wiedergeben:

"Zuerst drückte ich es fast wie einen Witz aus, aber dann erschien es mir ernst: Es ist eine Art Unbestimmtheitsprinzip im heisenbergschen Sinne, zwischen Virus und Notstand. Man kann nicht auf beides schauen und die Augen offen halten, man unterschätzt entweder das eine oder das andere. Sie unterschätzen in den Augen des anderen. Das heisst: für denjenigen, der das Virus gut sieht (oder glaubt, es gut zu sehen), ist der Notfall nur eine Eventualität, die vorübergeht, wenn das Virus vorübergeht; für denjenigen, der den Notstand gut sieht (oder glaubt, es gut zu sehen), wird das Virus, wie ernst und gefährlich es auch sein mag, immer weniger tödlich sein als die Folgen, die die Notstandspolitik verursacht. Jede Diskussion hat diese Instabilität in sich, und sie an die Oberfläche zu bringen, kann nur gut sein".

Dies ist auch ein ausgezeichneter Hinweis, mit dem Sie Ihre Reaktionen auf alle Behauptungen über das Virus und/oder den Notfall überprüfen können. Wie viele Hinweise auf die Gefahren des Virus erwarten wir von denen, die über die Gefahren des Notfalls sprechen wollen? Und wie viele Etikettierungen der Sinnlosigkeit des Notstands wollen wir denen aufdrücken, die über die Sensibilität des Virus sprechen wollen?

Und dies gilt für konkretere Beispiele: Wenn ich glaube, dass sie Bibliotheken wieder öffnen müssen, wie oft muss ich dann noch sagen, dass ich Fabriken schliessen sollte? Und wenn ich die Fabriken schliesse, wie oft muss ich dann noch erklären, dass dies nicht bedeutete, alle im Haus einzuzuschliessen?

Es gibt zu viel binäres Denken, zu viel Manichäismus, zu einfach und das Schneiden von tertium non datur. Stattdessen gibt es nicht nur Tertia: Es gibt das Multiple mit seiner Komplexität. Dies zu leugnen, führt uns direkt in die Arme der "Doppelbindung", auf der der grösste Teil des Krisenmanagements beruhte und deren Logik von denen, die sich nur auf das Virus konzentrierten, als selbstverständlich angesehen wurde.

Doppelbindung: "Was wollen Sie tun? Wollen Sie aus dem Haus gehen?" Wenn Sie ja sagen, dann bedeutet das, dass Sie mit der Wiedereröffnung von Fabriken (und dem Krankwerden am Arbeitsplatz) einverstanden sind. Wenn Sie mit Nein antworten, dann nehme ich Ihnen die Bewegungsfreiheit (und mache Sie krank mit Depressionen und verschiedenen Pathologien). Wie Sie auch das anstellen, es ist falsch.

Von jetzt an

Wir werden weder Pandemien noch Notstände loswerden, die uns beide auch weiterhin betreffen werden. Nur wenn wir in diesen Begrifflichkeiten denken (das wir sie nicht loswerden, d.Ü.) , werden wir die Missverständnisse dieser Monate überwinden können. Zumindest diejenigen, die in gutem Glauben sich ereignet haben. Für die anderen können wir wenig tun.

Der Notstand hinterlässt uns auch die Trümmer der persönlichen und politischen Beziehungen. Ausserdem geschah es während und nach all den vorherigen Ausnahmezuständen. Die Notstände, indem sie neue Dichotomien aufzwingen, stören die Beziehungen, die Allianzen, die Freundschaften. Dies geschah mit ungeheurer Feuerkraft und mit fast unwiderstehlichen Schwung. Leider werden wir nicht all die Zusammenarbeit und all die Zuneigungen wiederfinden, die wir vorher hatten.

Wir werden damit leben müssen.

Übersetzung und Vorwort: Sebastian Lotzer

Fussnoten:

(1) Ich verwende in der Übersetzung verschiedene Begrifflichkeiten wie Notfall, Notstand, Ausnahmezustand, … anders gesagt in der Vieldeutigkeit der Begrifflichkeiten bildet sich genau das vom Wu Ming in diesem Artikel u.a. beschriebenen Problem ab.

(2) Siehe dazu auch den Artikel von FABIEN JOBARD in CILIP 112, März 2017: Ausnahmezustand in Frankreich - Vom Notstand zum “gewöhnlichen Bekämpfungsrecht”.

(3) Siehe auch das prominent unterschriebene wissenschaftliche Thesenpapier 2.0 http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona2.pdf