Den rechten Augenblick
ein jedes Mal verpassen,
nennt Ihr, die Dinge sich
entwickeln lassen?
I.
Dieser Beitrag ist eine erste Skizze. Sie könnte auch unter der Überschrift Zukunftsvision Stadtverkehr stehen. Es geht in der Tat um ein neues städtisches und sicherlich zuerst in Grossstädten zu erprobendes Verkehrs(leit)system. Das bedeutet nicht nur ein allgemeines planungsbezogenes Denken in Perspektiven (1) und im speziellen die Annäherung an ein perspektivisches MetaSystem zur Verkehrsproblematik, die immer das gegenständliche, raum-zeitlich bezogene Bewegungs- und Moblitätsfeld bezielt. Dies meint auch: Durch Veränderungen bisheriger Sichten eine Perspektive zu entwickeln, die über den systemisch-technisch-gegenständlichen Bereich hinausweist und Menschen mobilisieren will, hier: für ihre neue offene Zukunft als Teilnehmer/innen am städtischen Verkehrsgeschehen. Und drittens meint diese Perspektive, wie ich früher am Beispiel der Raumplanung gezeigt habe, für Planungswissenschaftler/innen selbst: "Die Subjekt-Objekt-Spaltung wird erst dauerhaft und wirksam aufgehoben werden können, wenn das lebendige Subjekt schon in der gedanklichen Vorwegnahme dessen, was für möglich und wünschenswert für die Vielen gehalten wird, zu seinem Recht kommt."(2)Inzwischen ist nicht nur theoretisch beschrieben, sondern praktisch-erfahrungsbezogen mehr als deutlich: Die sogenannte positioneile Ökonomie hat gerade im grossstädtisch-verkehrlichen Bereich ihren strukturellen Raschenhals-effekt (bottleneck-effect) produziert(3). Das zum Stauto umfunktionierte Automobil als Fortbewegungsmittel der "klassischen Moderne" und des fordistischen Kapitalismus kann inzwischen den zeitgenössischen Mobilitätsforderungen und Fortbewegungsbedürfnissen nicht mehr angemessen entsprechen. Insofern wird sich, mit zunehmender Tendenz, gerade im privatautomobilistischen Strassenverkehr in und um Grossstädte(n) noch mehr, noch stärker und noch schneller gleichsam alles ins Gegenteil verkehren. Der wirkliche Gebrauchswert des privaten Personenkraftwagens (PKW) geht zunehmend, gemessen am Anspruch und beabsichtigten Zweck, gegen Null. Verstopfte Innenstädte, Stop-and-Go auf Autobahnringen vormittags, mittags, nachmittags und abends sind nur ein, freilich besonders beredter, Ausdruck dieser Entwicklung.
Hier liegt denn wohl auch, besonders im so dichtbesiedelten wie hochmotorisierten Westeuropa und nicht zuletzt in Deutschland, die entscheidende Ursache für die nächstangesagte strukturelle Branchenkrise — die der PKW-Automobilindustrie. Insofern geht es auch in meiner Skizze nicht mehr um die alten Gefahren und die neuen Risken einer aus vergangener Gegenwart nur verlängerten Zukunft, weil diese Vergangenheit keine Zukunft haben kann. Mir geht es vielmehr um Möglichkeiten einer neuen — und offenen — Zukunft am Ende dieses "rasenden Jahrhunderts "(4) - Und damit auch um eine humane, sozial und ökologisch fundierte, neue Systemtechnik in Form eines alternativen und zunächst grossstädtisch zu entwickelnden und zu erprobenden Verkehrs(leit)-systems. Dies bedeutet nicht nur die Mobilisierung einer produktiven menschlichen Gattungseigenschaft, die der österreichische Romancier Robert Musil zutreffend Möglichkeitssinn nannte (5). Sondern dies meint auch die Auflösung eines scheinbaren Paradoxes, das ich früher einmal als radikalen Pragmatismus oder pragmatischen Radikalismus (am Beispiel grossstädtischer, sozial und ökologisch ausgerichteter, Quartiersplanung) ausgelotet hatte und das der britische Sozialwissenschaftler Anthony Giddens kürzlich als utopischen Realismus kennzeichnete (6).
Im Feld technisch-systemischer Neuerungen, die immer auch gesellschaftliche Veränderungen oder soziale Innovationen bewirken, also immer schon und recht unmittelbar in alltäglichen Lebenswelten und Lebensweisen vieler eingreifen (ein grosses Beispiel wäre die kleine Fernbedienung des Fernsehgerätes) — hier kann eben nicht von einer gerade bei Technikern ideologisch verbreiteten Neutralität ausgegangen werden. Die alte Leitfrage Robert Lynds — Knowledge for What? (71) — greift nämlich auch und besonders im Feld systemisch-technischer Neuerungen. Und soziale Innovationen, die diesen Namen verdienen sollen, können so wenig gesellschaftlich frei über den gegebenen und zu benennenden Interessen und Gruppen schweben wie ihrer Struktur nach wertneutral sein. Sie sind immer schon konkreten, angebbaren Interessen — gegenwärtigen und zukünftigen — verpflichtet. Insofern geht es mir auch nicht um einen Beitrag zum technisch-innovativen mainstream: Die Weiterentwicklung eines Systemelements, des privaten Automobils (PKW), etwa in Gestalt relativ energiesparender Stadtautos. Vielmehr geht es mir um ein neues städtisches Verkehrssystem, das versucht, auf einer neuen oder Meta-Ebene Elemente des herkömmlichen privaten Auto- bzw. PKW-Systems mit solchen des traditionellen schienengebundenen Verkehrsystems zu verbinden und als "schienen"-gebundenes Autoverkehrsleitsystem zu kombinieren.
Das bedeutet also nicht die Weiterentwicklung eines einzelnen Elementes, das als privates Auto ins System der individuellen Bewegungsmobilität strukturell eingelagert ist und nicht das privatautomobilistische Verkehrssystem selbst verändern, sondern nur sein zentrales Element selbst technisch verbessern will. Insofern nehme ich einen Hinweis, den Wolfgang Zapf, der derzeit amtierende Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin gab, ernst. Auch mir gelten technisch-systemische Innovationen als Versuch der Entwicklung "neuer materieller und sozialer Technologien, die helfen, unsere Bedürfnisse besser zu befriedigen und unsere sozialen Problem besser zu lösen.(8)
Und so gesehen, würde ein nur technisch weiterentwickeltes sogenanntes Stadtauto nur wieder der alte Pfad sein — gleichsam die industrialistische Antwort auf die drohende Politik der Sperrung von Innenstädten für allen privaten PKW-Verkehr. Mir aber geht es nicht um begrenzten Umweltschutz im Interesse von Automobilproduzenten (also grossindustrieller Herrschaft), sondern um einen Versuch, bei der Entwicklung materieller und sozialer Technologien wirkliche Bedürfnisse (nach Mobilität und Bewegung) angemessener zu befriedigen und j zugleich soziale und ökologische Momente in das neue städtische Verkehrs(leit)system strukturell einzulagern. Mit anderen Worten: Es geht um solche gesellschaftlichen Veränderungen, die — als soziale Innovationen — "Probleme besser lösen als frühere Praktiken" und die deshalb, so Zapf verallgemeinernd, auch "die Richtung des sozialen Wandels verändern".(9)
II.
Den Stand der aktuellen Verkehrsprobleme in den metropolitären westlichen | Gesellschaften und bisherige Versuche, sozialtechnische Innovationen anzuregen, hat Wolfgang Zapf kürzlich knapp und präzise zusammengefasst: Es sind vor allem "die städtische Verkehrsbelastung, die hohen Energiekosten, Umweltbelastungen und hohe Pendelzeiten, sowie der Landverbrauch und die wuchernden Siedlungsstrukturen, die mit der "Autokultur" zusammenhängen. In den 1970er Jahren gab es heftige Angriffe auf das Marktmodell des privaten Automobils, insbesondere nach den Ölpreisschocks. Der öffentliche Nahverkehr wurde als Alternative angepriesen, als eine öffentliche Dienstleistung "wie Feuerwehr, Polizei oder öffentliche Bildung".Grosse Summen wurden für Nahverkehrssysteme ausgegeben, und tatsächlich konnte die Zahl der Benutzer dieser Verkehrsmittel etwas erhöht werden. Aber keine der grossen Hoffnungen auf Massenverkehr — ein öffentliches System mit individuellem Zugang und Komfort, z.B. computergesteuerte Kabinen, Femsteuerungen von Automobilen — hat sich erfüllt. Statt dessen mussten die Experten den Ansatz des öffentlichen Nahverkehrs noch einmal durchrechnen, denn er erweist sich, selbst pro Kopf oder pro Verkehrsteilnehmer, als extrem teuer; trotz aller Investitionen umfasst er nur 7% aller Verkehrsfälle in Ballungsgebieten; und der Bau der Infrastruktur verbraucht mehr Energie als der Privatverkehr und begünstigt letzten Endes die wohlhabenden Vorstadtbewohner.
Deshalb wird heute eine alternative Innovationsstrategie verfolgt: die Regulierung des Automobils bereits beim Produzenten und die Implementierung "weicher" an der Stelle von "harter" Technologien im Verkehrssystem als ganzem. Geschwindigkeitsbegrenzungen, Benzinverbrauchsstandards, bleifreies Benzin, Emissionskontrolle haben einige der Energie- und Umweltprobleme erleichtert. Was die "weichen" Technologien betrifft, gehen die Innovationen in die Richtung "einer Verbindung der besten Eigenschaften des Autosystems und des Systems des öffentlichen Nahverkehrs". Darunter fällt der sogenannte Para-transit, einschliesslich "nachfragegesteuerter Angebote:Taxis, Gemeinschaftstaxis, Abruf-Busse und Spezialdienste für die Älteren und Behinderten. Dazu gehören auch Sammelfahrten — Fahrgemeinschaften mit Personenwagen und Bussen." Darunter fällt andererseits das Verkehrmanagement, um den "Durchlauf der Passagiere auf den gegebenen Strassen und Autobahnen durch Verkehrsverbesserungen (koordinierte Signale, Wendemöglichkeiten) zu erhöhen, Vorzugsbehandlung für vollbesetzte Fahrzeuge, eigenen Wege für Radfahrer und Fussgänger, Parkkontrolle, Veränderung der Arbeitsanfangs- und endzeiten, Gebührenschemata zum Anreiz für verkehrsarme Zeiten und zur Reduktion der Verkehrsspitzen und andere vergleichbare Aktivitäten". Eine Reihe dieser Massnahmen erfordern keinerlei Veränderung der Hardware: "Schnellbusse auf eigenen Fahrspuren anstelle von aufwendigen Hochbahnsystemen."(10) Gegen den Strich gelesen — könnte, was hier als Fortschreibung der Hardware ausgelobt wird, freilich auch als Versuch der ökologischen Anlagerung des real-existierenden Metropolenkapitalismus ohne grundlegenden Bruch mit seiner Produktions-, Akkumulations- und Entwicklungslogik gewertet werden.(11) Und auch die Hinweise auf Kosten neuer Systeme sind nicht (gesamt-) gesellschaftlich, sondern betriebswirtschaftlich ermittelt, haben damit die sozialen Kosten, die teils ökonomisierbar, teils bisher überhaupt nicht gesellschaftlich, sondern betriebswirtschaftlich ermittelt, haben damit die sozialen Kosten (die teils ökonomisierbar, teils bisher überhaupt nicht gesellschaftlich verrechenbar sind) immer schon unterschlagen.(12)
III.
Bisher entwickelte zukunftstorientierte (Stadt-) Verkehrsleitsysteme bauen auf überkommenen Verkehrsvorstellungen auf. Sie versperren sich vor allem deshalb selbst den Zugang zu einem neuen und erweiterten Verkehrssystem, weil sie die Trennung von individueller und öffentlicher Nutzung, privatem Einzelnen und vergesellschaftetem Subjekt, beibehalten und fortschreiben. Während einerseits weiterhin eine Zukunftsperspektive des traditionellen Automobils unterstellt wird und in diesem Rahmen dann einzelne technischen Verbesserungen — Senkung des Kraftstoffverbrauchs, Änderung der Komponenten des Kraftstoffes, Abgassenkung und -reinigung, Fahrerleitsystem zur Steuerung von PKW-Verkehr etwa — entwickelt werden, wird andererseits Erhalt und Ausbau des bestehenden öffentlichen Verkehrssystems vorgezogen, vorwiegend in seiner schienengebundenen Form — also Bahnen verschiedener Typen, gegebenenfalls mit neuen Antriebsarten. Beide Grundkonzeptionen versuchen bisher freilich nicht, die grundlegenden Nachteile beider Verkehrssysteme aufzuheben und/oder die möglichen Vorteile beider zu verbinden und in einem neuen Gesamtsystem zu entwickeln. So gesehen können, weil das Mögliche unterbleibt, beide Entwicklungsvarianten, gesamthaft gesehen, nur verschlimmbessern.Idealtypisch betrachtet liegen beim herkömmlichen Autosystem Vorteile in der je individuellen Nutzbar- und Verfügbarkeit. Der schienengebundene Verkehr hingegen weist Vorteile in der volkswirtschaftlichen und insofern auch gesamtgesellschaftlichen Nutzebenen auf. Einem neuen Verkehrsleitsystem nun geht es vor allem um die "Verbindung der besten Eigenschaften des Autosystems und des Systems des öffentlichen Nahverkehrs" (James A. Dunn Jr.). Dies lässt sich dann so zusammenfassen: Vorteile des privaten PKW-Verkehrs liegen vor allem in acht Komponenten: der freien Wahl (ob, wann und wohin fahren), der geringen Zeit und dem kleinen Weg zur Abfahrtstelle, der Fahrt selbst, die vor. extremen Witterungsbedingungen schützt, dem je individuellen Wissen, mit dem PKW fahren und der Gewissheit, während der Fahrt sitzen zu können, z. B. Radio oder Kassetten hören, sich unterhalten. Vorteile der Bahn und des Schienenverkehrs im allgemeinen gesehen, in den fünf Dimensionen: geringerer Flächenverbrauch des Verkehrsweges, Nutzung der Fahrzeit für nicht fahrgebundene Tätigkeiten, geringere Schadstoffausstoss, geringerer Kraftstoff- und Energieverbrauch pro gefahrener Strecke (km) und fahrender Person und schliesslich, in der geringeren Verantwortung des/der Fahrenden, damit in ihrer gegenständlichen, affektiven und auch moralischen Entlastung.
In einer entwickelten Metropolengesellschaft, die sich, wie bekannt (13), zunehmend auch äusserlich differenziert und pluralisiert, segmentiert und individualisiert (14), wird ein auf Massentransport ausgelegter schienengebundener Verkehr in der herkömmlichen Weise flächig auf Dauer nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Diese Tendenz veranschaulicht die rapide Entwicklung von Hochgeschwindigkeitszügen (in Japan, Frankreich, Deutschland). Aber auch die dem PKW-Verkehr unterliegende Leitvorstellung individueller Verkehrswahl und persönlicher Verkehrsverantwortlichkeit erweist sich angesichts zunehmender gesellschaftlicher Interdepenzen, Abhängigkeitsverhältnisse und Bindungssystem als fiktiv: Die idealtypisch genannten Vorteile individueller Automobilisie-rung verkehren sich zunehmend ins Gegenteil (Staus, Geschwindigkeitsbegrenzungen, zunehmende verkehrliche Reglementierung etc.).
Erforderlich erscheint damit eine Kombination der realen oder entwickelbaren Vorteile beider verkehrlichen Systeme.
IV.
Diese Kombinatorik versucht das Modell des "schienen'-gebundenen Autokabinenleitsystems, das sich — insofern nicht voraussetzungslos — auf ein Projekt in den USA (Ministerium für Wohnungswesen und Stadtentwicklung 1966 (15) rückbezieht, in dem es um neue städtische Verkehrssystem ging.Als Modell stellt das "schienen"-gebundene Autokabinenleitsystem ein neues Strassenverkehrsystem dar, dessen Verkehrswege "Schienen" sind. Sie sollen zunächst im vorhandenen Strassensystem verlegt und grundsätzlich über Parkschleifen und Weichen alle Gebäude- und Grundstückseinheiten erschliessen. Das sei's vier-, sei's sechs, sei's achtsitzige Fahrzeug wird auch in Formgebung und Ausstattung vom realexistierenden privaten PKW verschieden sein. Es wir automatisch gesteuert und mit einem öffentlichen Verkehrsleitsystem verbunden, über welches optimale Fahrtrouten zum Ziel des Benutzers festgelegt werden. Diese Komponenten bedeuten Optimierung von Fahrtzeit, Wegstrecke und damit die zu verausgabenden Kosten.
Das Leitsystem ist mit Start-' und Zielort (Haushalte, Betriebe, öffentliche Einrichtungen) vernetzt — vergleichbar dem Telefonsystem. Benutzung des Fahrzeuges bzw. der Kabine durch Mitfahrer/innen erfolgt über eine Scheckkarte. Diese dient zum einen als Schlüssel zur Öffnung der Kabinentür und zum anderen zur Ermittlung und personalen Zuordnung der Fahrtkosten. In der Kabine selbst wäre ein Eingabegerät zu installieren, über das Benutzer ihre Ziele eingeben. Dieser Endterminal ist mit einem kommunalen Zentralleitverkehrscomputer verbunden, der, was heute rechentechnisch als leichte Übung gelten sollte, die optimale Wegroute rasch ermittelt, Antrieb und Steuerung des Kabinenfahrzeuges übernimmt und Mitbenutzer so koordiniert, dass auch die optimale Ausnutzung des Systems möglich würde.
Am Beispiel veranschaulicht: etwa fünf Minuten bevor ich gegen 7 Uhr morgens Haus oder Wohnung verlassen will, fordere ich über einen besonderen Telefonanschluss eine Fahrkabine an und nenne gleich mein Fahrziel. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich meine Scheckkarte dabei habe, ziehe ich mich an und verlasse Wohnung oder Haus und gehe zur hauseigenen oder hauszugeordneten Park- und Wendebucht. Dort ist das Fahrzeug inzwischen eingetroffen. Der Zentralcomputer hat inzwischen ermittelt, dass mein individuelles Fahrziel, das ich telefonisch durchgegeben hatte, mit dem eines anderen Fahrers, der drei Strassen weiter wohnt, raum-zeitlich identisch oder vereinbar ist — auch wenn um diese Ziel zu erreichen, eine andere als nur meine je individuell optimale Wegführung nötig wird. Nun kann ich mithilfe der Scheckkarte die Kabinentür öffnen, den Mitfahrer begrüssen, und wir können uns unterhalten oder auch, was ich an diesem Tag vorziehe, Zeitung lesen oder dösen. Sobald ich auf einem freien Platz sitze, setzt sich das Kabinenfahrzeug in Bewegung.
Da ich heute nicht gut drauf bin, war ich ziemlich tapsig: die Scheckkarte fiel erstmal auf den Boden, dann habe ich sie seitenverkehrt eingeschoben, und auch bei der Wahl meines Sitzplatzes in der Fahrkabine habe ich gezögert, also hat es mehr als eine Minute gedauert, ehe sich das Fahrzeug wieder in Bewegung setzte. Trotzdem murrt der Mitfahrer, der schon vor mir die Kabine anforderte, nicht, denn er weiss: wir fahren nun sanft und in mässigen Tempo — etwa 30 bis 40 km/h — und/ohne jedes Stop and Go, freilich mal langsamer, mal schneller, unbehindert weiter. Nach etwa zehn Minuten ruhiger prozessgesteuerter Fahrt schwenkt die Kabine vor einem Bürohaus in eine Parkbucht. Mein Mitfahrer verabschiedet sich, nimmt seine individuelle Scheckkarte heraus und steigt aus. Das Kabinenfahrzeug fährt sogleich weiter, biegt nach drei Minuten in eine Parkbucht ein, wo drei Schüler warten. Die entern, schneller als ich selbst vorhin, die Kabine, werfen ihre Scheckkarten ein, und die Fahrt geht weiter. Wir vier haben das gleiche Fahrziel, denn die Buchhandlung, die mich beschäftigt, liegt gegenüber der Schule, die die jungen Leute besuchen. Und wir vier kennen uns schon von anderen gemeinsamen Fahrten und blödeln manchmal — so auch heute morgen — bevor wir unser Fahrziel erreichen. Dort angekommen, entnehmen wir unsere Scheckkarten, steigen nacheinander aus und ich verschliesse als Letztaussteigende die Tür, so dass das Kabinenfahrzeug von der Zentrale zunächst leer zum nächstgelegenen Platz gesteuert werden kann, wo andere Benutzer es. zwischenzeitlich anforderten.
Am Parkplatz vor der Schule ist um diese Zeit natürlich grosser Betrieb. In stetiger Abfolge nähern sich den zehn Haltebuchten vier, sechs- und achtsitzige Kabinen, so dass in gut einer Viertelstunde; alle Schüler/innen rechtzeitig vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde ankommen. Seit dieses Kabinenleitsystem in der Grossstadt, in der ich fast zwei Jahrzehnte lebe, eingeführt wurde, hat sich das motorisierte Strassenaufkommen erheblich vermindert, und auch insgesamt hat das Verkehrsaufkommen abgenommen. Inzwischen sind auch auf nicht mehr benutzten zahlreichen Parkplätzen teils Grünflächen, teils Wohnungen, teils Büroräume entstanden. Der private PKW gilt als Fossil, vorsintflutlich, out. Und auch die zunächst häufigen SachbeSchädigungen an und in den Kabinen sind inzwischen, nachdem das neue Verkehrssystem mehrheitlich angenommen" wurde, zurückgegangen und kommen 'nur noch gelegentlich vor, weil mittels Nutzungsform durch individuelle Scheckkarte die verursacher ermittelt und zur Kostenerstattung angehalten werden konnte.
V.
So utopisch das Modell zunächst erscheinen mag — so realistisch sind seine einzelnen Komponenten.Erstens die Leitsysteme. Am entwickeltsten sind derzeit Elemente von Leitsystemen wie Reiserechner, Bordcomputer und Navigationssysteme. Sie sind inzwischen schon serienmässig in sogenannte "Mittelklasse"-PKW eingebaut. In 1 ihrer gegenwärtigen Anwendung freilich stellten sie entsprechend ihrer strukturellen Anlage kein Element eines neuen Verkehrssystem dar, sondern sollen, entsprechend der Logik privaten Automobilismus, lediglich zur Optimierung des motorisierten individuellen PKW-Verkehrs beitragen helfen. Dies gilt im Grunde auch für ein Projekt wie den EG-Prometeus, weil dieses Projekt zuallererst als Verkehrssicherheits- und Stauentzerrungssystem zur Verflüssigung des stockenden PKW-Verkehrs ausgelegt war. Die auch erkennbaren Ansätze zu einem umfassenden Verkehrsleitsystem sind wenig entwickelt.
Ich vermag jedoch nicht einzusehen — weder technisch noch politisch -, wieso die Entwicklung dieser Leitsysteme nur begrenzt, halbherzig oder borniert geschieht und nur für Teilbereiche der Verkehrsproblematik vorgenommen wird. Vielmehr bietet es sich, sobald die unterliegende Verkehrslogik nicht mehr anerkannt und versucht wird, ein neues Meta-System vorzustellen, geradezu an, solche Leitstellen technisch, organisatorisch und raumzeitlich zu entwickeln und zu erproben (auch zum Beispiel in der Form kommunaler Eigenbetriebe, die derzeit, gerade angesichts des säkularen Trends zur "abstrakten Gesellschaft",(16) noch am ehesten die Möglichkeit aktiver demokratischer Kontrolle und Beteiligung von Betroffenen bieten könnten).
Zweitens die Schienenführung. Ich halte hier grundsätzlich an der Schienenführung des motorisierten Verkehrs fest. Das Schienensystem darf freilich nicht nur Gleitfläche sein, sondern muss auch Elemente oder das gesamte Antriebssystem und die Elektronik für das Verkehrsleitsystem in kompakter Form enthalten. Hier könnte schon heute in der Beleuchtungsindustrie entwickelte Leuchtsysteme durchaus anregend wirken. Wie auch immer: Für die Entwicklung eines neuen Schienensystems zur Verkehrsführung gibt es ein breites, bislang relativ wenig bearbeitetes und entwickeltes Forschungsfeld. Und selbstverständlich wäre hier auch zu erkunden, ob und in welchem Mass alternativ produzierte Energieformen praktisch werden könnten.
Drittens das Kabinenfahrzeug. Das Fahrzeug richtet sich bis heute im Grundsatz am Prinzip der motorisierten Postkutsche aus. Es ist als hätten nunmehr achtzig Jahre Fahrzeugentwicklung seit Henry Fords massenindustriell gefertigter Tin Lizzy, systemisch gesehen, auf der Stelle getreten. Und als wären neue Anforderungen, die gegebenen und sich verändernde Fortbewegungs- und Mobilitätsbedürfnisse möglicherweise angemessener befriedigen könnten, grossindustriell noch kaum zur Kenntnis genommen worden.
Allerdings scheint es inzwischen auch erste Ansätze zu geben, die den herkömmlichen Blechkutschentyp tendenziell in Frage stellen könnten. Frederic Vester hat diese Anforderungen an künftige Fahrzeuge systematisiert und das mögliche Individualfahrzeug (PKW) der Zukunft so skizziert: "Die Forderungen an ein zukünftiges Individualfahrzeug lauten kurz gefasst, dass es sicher (das heisst langsam) sein muss, dadurch hoch (also bequem) sein kann und kurz sein muss (zur Querverladung auf der Bahn). Es sollte geringes Gewicht haben (superleichte Werkstoffe), lautlos und abgasefrei fahren (das wäre das Ende des Explosionsmotors) und voll recyclingfähig sein. Das Prestige verlagert sich damit vom Leistungssymbol der PS auf clevere Ideen, High-Tech und Umweltfreundlichkeit. Als Stadtmobil sollte das Fahrzeug voll wendig sein (Räder bis 90 Grad lenkbar) oder steuerbare Hinterräder haben (seitwärts einparken).(17)
Sicherlich nimmt Vester auch innovationssoziologische Hinweise von Zapf auf und skizziert "weiche" Technologien — aber auch Frederic Vester kann sich, wie zitiert, das Ergebnis bisher nur als individuelles Automobil (PKW) denken, das noch immer auf Rädern rollt. Schon das kleine Achteck-Kabinenfahrzeug wäre, so gesehen, ein auch technisch-verkehrlich erkennbarer systemischer Sprung, weil es auf Rundkugellager und nicht mehr auf Rädern fährt.
Viertens die Finanzierung. Anlage und Finanzierung des hier konzipierten "schienen"-orientierten Kabinenleitsystems, das in der Tat ein "integriertes Leis-tungs- und Nutzungssystem" als "Systemangebot(18) meint und von daher nicht mehr auf das Element Auto abzielt, könnten sich an den öffentlichen — technischen — Infrastruktureinrichtungen (Wasser, Strom, Abwasser etc.) ausrichten. Ein Teil der technischen Infrastrukturkosten wären auf Haus- und Grundeigentümer umzulegen und böten diesen gesonderte Halteschleifen als direkte Anbindung an das neue Verkehrsleitsystem. Die Fahrzeug- und Fahrtbetriebskosten wären über die Fahrtkosten einzubringen. Die Nahrechnung selbst könnte, wie z. B. bei öffentlichen und privaten Gebühren für Wasser, Abwasser, Elektrizität., Telefon etc., haushalts-, betriebs- und nutzungsbezogen erfolgen, wobei Grundgebühren und je individuelle Nutzungskosten gesondert auszuweisen und sei's monatlich oder sei's vierteljährlich zu zahlen wären.
VI.
In einer Zusammenschau von technik-, industrie- und verhaltenssoziologischen Aspekten zur "Krise des Automobils" hat Friedrich Fürstenberg vor einigen Jahren betont, dass es zunehmend nicht mehr um Einzelangebote zur technischen Verbesserung des Autos, sondern immer mehr um die "Planung und Realisierung entsprechender Verkehrssysteme" gehen wird. Aus seiner Sicht wird es ein "Zielkonzept für die Entwicklung zukünftiger Autos sein, Produkte und Anwendungsfelder zu entwickeln, die nicht nur effizient und rentabel, sondern auch sozial angemessen sind, so dass sie von möglichst vielen Beteiligten als sinnvoll erfahren werden."(19)So wichtig diese Grundüberlegung auch perspektivisch ist — sie greift insofern zu kurz und bleibt damit unterhalb der Schwelle des künftig Möglichen im Verkehrssystem, weil sie am Medium "Auto" als nach wie vor systembestimmender Bewegungskomponente festhält.
Die Vorteile meines neuen (gross-) städtischen Verkehrsleitsystems, das eben nicht mehr auto-zentriert ist, liegen aber nicht nur in der Überwindung der starren Schienenorientierung von Verkehrs- und Fortbewegungsmitteln. Das neue Meta-Sytem eines (gross-) städtischen "schienen'-gebundenen Autoverkehrsleitsystems würde nämlich mindestens fünf Auswirkungen haben, die zunehmend als gesellschaftlich wünschenswert angesehen werden:
Erstens Reduzierung des Flächenverbrauches für motorisierten Verkehr (bewegend und ruhend): Schienen sind schmäler als Strassen, Stellplätze können erheblich abgebaut werden. Der Sinn des neuen Systems ist nämlich fahren (und nicht stehen/parken). Und die anfallenden Wartungsarbeiten können flexibel in sogenannten "verkehrsarmen" Zeiten durchgeführt werden.
Zweitens Optimierung des Energieverbrauches und Minimierung des Schadstoffausstosses: Ein gleichmässiger Verkehrsfluss und geringe, jedoch relativ konstante Realgeschwindigkeiten ermöglichen optimale Energieausnutzung. Erfolgte der Antrieb zusätzlich mithilfe, bis heute grosstechnisch noch nicht erprobten, alternativ gewonnener Energieformen — liessen sich auch die Schadstoffmengen erheblich reduzieren.
Drittens die Verhinderung und Verminderung von Verkehrsunfällen: Schon derzeit sollen Leitsysteme Verkehrsunfälle verhindern. Diese Wirkung würde sich dann potenzieren, wenn sie ins neue System strukturell eingelagert würde.
Viertens neue Stadtplanungsmodelle: Das neue (gross-) städtische Verkehrsleitsystem müsste mit der Erarbeitung und Anwendung neuer, an der Optimierung des Verkehrssystems ausgerichteter Stadtmodelle einhergehen. Es geht um Auflockerung und Verdichtung und besserer Zuordnung von Arbeiten, Wohnen, Konsum, Kommunikation und Erholung/Rekreation.
Fünftens schliesslich geht es um die Senkung der volkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Kosten für motorisierte Bewegung und ein zukünftig vertretbares neues Kosten-Nutzen-Verhältnis, das sowohl direkte und aktuelle als auch und vor allem indirekte und zukünftige Kostenkomponenten bilanziert und vermindert.