Obdachlosigkeit in Berlin: Rückblick - Gegenwart - Auswege Obdachlosigkeit im historischen Rückblick
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Das Berlin, wie wir es heutzutage kennen, entstand seit den 1830ern. Zu diesem Zeitpunkt setzte hier die Industrialisierung ein.
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12. Mai 2020
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Um den alten Stadtkern legte sich ein Gürtel aus sogenannten Mietskasernen, der grösstenteils immer noch besteht. Heutzutage wohnt es sich angenehm in diesen zumeist vierstöckigen Bauten. Damals aber waren die dortigen Lebensbedingungen von grossem Elend gekennzeichnet: Oft lebten mehrere Menschen in einem Zimmer, die Betten mussten sie sich in der Regel teilen. Krankheit, Alkoholismus, Gewalt und sexueller Missbrauch gehörten zu den Begleiterscheinungen dieser Misere.
Die in den Fabriken unter sehr harten Umständen tätigen Arbeiter wurden oft von ihren Vermietern rigoros ausgebeutet und genossen kaum Schutz. Wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren oder aus anderen Gründen die Miete nicht mehr zahlen konnten, landeten sie auf der Strasse. Hinzu gesellten sich Menschen, die nach Berlin gekommen waren, um dort zu arbeiten – und dann keine Beschäftigung fanden. Diese Gefahr betraf vor allem niedrigqualifizierte oder gar ungelernte Arbeiter, die mit wenig Geld in die Stadt kamen und dort auch über keine sozialen Kontakte verfügten.
Eine weitere obdachlosigkeitsgefährdete Gruppe waren Landarbeiter, die saisonal bedingt nach ihrem Einsatz auf den Höfen wieder in die Stadt strömten. Ein System der staatlichen sozialen Absicherung existierte damals noch nicht. Und weil die Entstehung des städtischen Industrieproletariats auch zu einer Zersplitterung der traditionellen Grossfamilie geführt hatte, gab es zumeist keine – wie es in ländlichen Regionen oft noch der Fall war – in der Nähe lebende Verwandtschaft, bei der man unterkommen konnte.
In der öffentlichen Wahrnehmung wurden Obdachlose oft als Menschen betrachtet, die an ihrem Schicksal selbst Schuld waren: Man stellte sie als Faulenzer dar, die gängige Bezeichnung „Pennbrüder“ war symptomatisch für diese Sichtweise. So beschrieb sie zum Beispiel die „lllustrirte Zeitung“ 1886 als Personen, die „jede Arbeit ängstlich vermeiden und sich vom Himmel, vom Zufall und dem durch Bettel erregten Mitleid ernähren lassen“. Schlimmer war noch, dass man sie häufig als kriminell darstellte: Obdachlose waren Taschendiebe, Räuber, Trickbetrüger, Einbrecher – und sogar eine Gefahr für die öffentliche Ordnung.
Zudem wurden sie oft als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit angesehen. Deswegen setzte der Staat primär auf Repression: Obdachlosigkeit beziehungsweise „Landstreicherei“ war damals ein Straftatbestand und die Betroffenen landeten oft in sogenannten Arbeitshäusern, in denen sie strenger Reglementierung unterworfen waren. Erste Ansätze einer humanistisch ausgerichteten Obdachlosenfürsorge entstanden in den 1860ern durch private Vereine.
Ein wichtiger Akteur war in diesem Zusammenhang der 1868 gegründete „Berliner Asyl-Verein für Obdachlose“, der mehrere Unterkünfte für Obdachlose betrieb. Die Verantwortlichen, teilweise sehr wohlhabende Personen, handelten dabei möglicherweise nicht nur aus humanistischen Beweggründen, sondern auch mit der Motivation, den sozialen Sprengstoff, den Obdachlosigkeit darstellte, zu entschärfen. Eine wichtige Rolle spielte bei der Betreuung Obdachloser auch die Kirche. Von grosser Bedeutung war dabei zum Beispiel der 1882 gegründete „Verein Dienst an Arbeitslosen“, dessen legendäre „Schrippenkirche“ Ausgangspunkt eines mehrgliedrigen Betreuungsangebotes wurde. Der Journalist Constantin Liebich spielte bei der Arbeit dieses Vereines eine tragende Rolle.
Seit den 1880ern entstanden als sozialpolitische Massnahme auch städtische Unterkünfte. Eine traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang die 1886 eröffnete „Palme“, die bis zu 5600 Personen aufnehmen konnte und sich durch ein drakonisches Regime auszeichnete. Andere Namen, die im Kontext der Berliner Obdachlosigkeit immer wieder auftauchten, waren das „Wiesenburg“-Asyl, das Arbeitshaus Rummelsburg und die Wärmehalle am Alexanderplatz. Während die Behörden im Umgang mit Obdachlosen bei Familien noch eine gewisse Rücksicht nahmen, traf es alleinstehende Männer besonders hart: Sie konnten zwar in städtischen Obdachlosenasylen unterkommen, aber die Zustände dort zeichneten sich durch Bevormundung und Gängelung aus.
Die Betroffenen sahen sich oft der unbarmherzigen Willkür des Personals ausgeliefert. Und nach kurzer Zeit – etwa ein bis zwei Wochen – mussten sie das Asyl verlassen, um nicht in Polizeigewahrsam beziehungsweise ein Arbeitshaus zu kommen. Letzten Endes ging es bei den staatlichen Massnahmen nur darum, Obdachlose praktisch zu kasernieren, sie einzuhegen. Aus diesem Grunde mussten Obdachlose, die nicht ihrer Freiheit beraubt werden wollten, unsichtbar bleiben, sich nachts verstecken und auf Baustellen, Güterbahnhöfen, in verlassenen Häusern oder „im Gebüsch“ schlafen – wo sie bei grosser Kälte oder im Krankheitsfalle einen einsamen, elenden Tod riskierten.
Als frühe Form der Selbstorganisation entstanden dann am Anfang der 1870er von vormaligen Obdachlosen bewohnte informelle Siedlungen, die aber alle von der Polizei abgerissen wurden. Eine gewisse Berühmtheit erlangte dabei das „Barackia“-Hüttendorf, das sich als eine Art Freistaat verstand und bis zum heutigen Tage einen Bezugspunkt für „Stadt von unten“-Aktivisten und Hausbesetzer darstellt. Auch diese Siedlung wurde schliesslich abgerissen. Das harte Vorgehen der Obrigkeit in solchen Fällen konnte, ebenso wie bei Zwangsräumungen, zu Zusammenstössen zwischen Polizei und aufgebrachter Bevölkerung führen – wie zum Beispiel bei den „Blumenstrassenkrawallen“ nach einer Zwangsräumung im Juli 1872.
Eine wertvolle Quelle zur Situation der Berliner Obdachlosen ist der 1894 erschienene Band „Obdachlos“ des bereits erwähnten Constantin Liebich, der die Problematik umfangreich darstellt. Zuerst beschreibt der Verfasser darin anhand mehrerer Fallbeispiele, wie Menschen obdachlos werden. Meistens ist Arbeitslosigkeit die Ursache. Sie kann verschiedene Gründe haben: Konflikte mit Vorgesetzten, Mobbing, wirtschaftliche Probleme des Betriebes, eine Kündigung aufgrund finanzieller Unregelmässigkeiten oder keine „Übernahme“ nach dem Ende der Lehrlingszeit. Und ganz egal, ob man gekündigt wird oder das Arbeitsverhältnis selbst beendet: Der Versuch, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, scheitert.
Selbst in einer Stadt wie Berlin gestaltet sich die Suche ausserordentlich schwierig. Bestenfalls gibt es schlecht bezahlte Jobs als Aushilfe oder Tagelöhner. So erfolgt ein Absacken in soziales Elend, gekennzeichnet von Alkoholismus, Verwahrlosung, Abstumpfung, Verrohung – und der damit einhergehenden Stigmatisierung. Schliesslich leben die Obdachlosen in einer eigenen Welt, die sich durch permanentes „Durchlawieren“ und Kleinkriminalität auszeichnet. Dabei können die Betroffenen sich noch nicht einmal auf die Solidarität ihrer Schicksalsgenossen verlassen: Oft gibt es Streitereien, Diebstähle oder Verteilungskämpfe.
Die Tatsache, dass Berlin auch ein „Fluchtort“ für Menschen ist, die häuslichen Konflikten entkommen wollen oder ihre Unterkunft verlassen mussten, vergrössert die Anzahl der Obdachlosen noch, denn auch diese Personen finden oft keine Arbeit. Liebich schätzt die Anzahl der Obdachlosen auf 6000 bis 10 000. Dieser Wert ist mit der heutigen geschätzten Zahl Berliner Obdachloser vergleichbar – wobei die Stadt damals aber nur etwa 1 600 000 Einwohner gegenüber der heutigen Anzahl von circa 3 600 000 hatte. Der Staat regiert auf Obdachlosigkeit mit einer Mischung aus Unterdrückung und Hilfsangeboten.
Dabei sind alle „Massnahmen“ – wie auch die Angebote karitativer Organisationen – bis ins Detail bürokratisch durchorganisiert und reguliert. Mitleid findet sich in dieser Welt nur selten, zumeist lässt sich der Umgang mit Obdachlosen als streng und schroff bezeichnen, in der Regel können sie bestenfalls auf „paternalistische Barmherzigkeit“ hoffen. Während Liebich den Obdachlosen grundsätzlich emphatisch gegenübersteht, geht er zugleich davon aus, dass ein Teil von ihnen arbeitsunwillig und somit für die eigene Situation verantwortlich ist. Zur Lösung des Problems der Obdachlosigkeit schlägt er ein grosses agrarwirtschaftliches Programm zur Urbarmachung öder beziehungsweise „unrentabler“ Flächen vor.
Für dieses Vorhaben sollten Obdachlose eingesetzt werden, die damit ein Einkommen und eine Unterkunft hätten. Die mit dem Programm verbundenen Kosten würden wesentlich geringer sein als die durch Obdachlosigkeit für die Gesellschaft entstehenden Lasten. Zudem könne es so auch zu einer Stimulierung der Wirtschaft kommen. Liebich plädiert zugleich dafür, arbeitsunwillige Obdachlose mit schärfsten Mitteln zu bekämpfen. Wenngleich diese Lösungsansätze uns heutzutage befremdlich erscheinen, so hatte der Verfasser doch zwei wesentliche Defizite der vorhandenen Hilfsangebote treffend benannt: Zum einen, dass sie nur die Symptome der Obdachlosigkeit bekämpfen halfen – und zum anderen, dass eine örtliche Verbesserung dieser Angebote eine Art Sogwirkung entfalten würde, ohne die Ursachen des Problems zu beseitigen.
Zusammen mit der Arbeitslosigkeit stellte die Obdachlosigkeit im Berlin des 19. Jahrhunderts eine erste Form des „modernen städtischen Massenelends“ dar. Und deswegen wurde sie nicht nur zum Kristallisationspunkt bürgerlicher Ängste und damit einhergehender staatlicher Repression, sondern auch zum Objekt voyeuristischer Begierde: Wer wissen wollte, was es mit der Berliner „Unterwelt“ auf sich hatte, musste einfach nur zum nächsten Obdachlosenasyl gehen, um schnell und relativ gefahrlos entsprechende Einblicke zu bekommen. Auch für die neuen Massenmedien – wie die in hoher Auflage produzierten Tageszeitungen – stellte das Elend der Asyle ein ergiebiges Thema dar. In der Weimarer Republik sollte Obdachlosigkeit dann in Berlin weit verbreitet sein.
Der erste „Schub“ kam direkt nach dem Ersten Weltkrieg: Ein grosser Teil der heimgekehrten Soldaten hatte erhebliche Probleme damit, sich wieder in das „normale“ Leben der Zivilbevölkerung einzugliedern. Die Veteranen waren oft traumatisiert, der Gesellschaft entfremdet und häufig auch körperlich versehrt. Diejenigen, die es nicht mehr schafften, Arbeit zu finden und sich ein neues Leben aufzubauen, landeten oft auf der Strasse. Mitunter sollte die Heimkehr der Soldaten auch zu massiven innerfamiliären Konflikten führen: Die durch den Krieg verrohten Väter waren für ihre Kinder oft nicht mehr erträglich – mit dem Ergebnis, dass es zahlreiche junge Ausreisser gab, die auf der Strasse endeten.
Bei den so in Berlin herumstreunenden Jugendlichen handelte es sich nicht nur um „Einheimische“, sondern auch um aus der Provinz Gekommene, die in der Stadt untertauchen wollten und hofften, dort Arbeit zu finden. Zu den „neuen Obdachlosen“ gehörten aber auch mittellose Flüchtlinge, die vor dem russischen Bürgerkrieg beziehungsweise den anderen Kriegen in Osteuropa geflüchtet und in Berlin gelandet waren. Auch Deutsche aus den an Polen gegangenen Territorien kamen in die Stadt und fanden dort keine Unterkunft. Die ruinöse Inflation der Jahre 1923/24 und die damit einhergehende Verarmung grosser Bevölkerungsteile sollten für eine weitere Zunahme der Obdachlosigkeit sorgen.
Die kurze wirtschaftliche Blüte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre schuf nur bedingt Abhilfe. Und mit der vom Absturz der amerikanischen Börse verursachten Weltwirtschaftskrise betraf Obdachlosigkeit ab 1929 erneut unzählige Menschen. Der Staat war nicht in der Lage, die immense Not zu lindern. Einen plastischen Eindruck vom Elend der Obdachlosen am Anfang der dreissiger Jahre vermittelt Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“. Er schildert die Lebensumstände einer Clique obdachloser Jugendlicher, die sich jeden Tag irgendwie durchschlagen müssen: Sie stehlen, verkaufen ihre Körper, begehen Einbrüche oder verrichten Gelegenheitsarbeiten. Sie kommen aus kaputten Familien, sind aus Heimen geflüchtet und müssen sich permanent vor der Obrigkeit in Acht nehmen.
Ihr Denken kreist permanent um die selben zwei Fragen: Wo kommt die nächste Mahlzeit her und wo werden sie die nächste Nacht verbringen? Erlösung bieten nur Alkohol, Zigaretten und das gelegentliche Rendezvous mit einer Prostituierten. Mit der Machtergreifung der Nazis sollte sich 1933 die Situation für Obdachlose einschneidend verändern: Das Kernstück nationalsozialistischer „Obdachlosenpolitik“ war massivste Repression: Obdachlose wurden als minderwertige, asoziale und „arbeitsscheue“ Menschen angesehen. Die Nazis gingen im Rahmen ihrer pseudowissenschaftlichen Genetiklehre davon aus, dass Obdachlosigkeit keine sozialen Ursachen hatte, sondern das Ergebnis einer individuellen, vererbbaren Pathologie war – womit Obdachlose praktisch „zum Abschuss freigegeben“ waren.
Sie sollten auch insofern von der Strasse verschwinden, als dass das NS-Regime demonstrieren wollte, dass es für geordnete Verhältnisse gesorgt und die sozialen Probleme der Weimarer Republik gelöst hatte. Als Auftakt der Repression gab es im September 1933 grössere „Bettlerrazzien“. Im Rahmen der dann einsetzenden systematischen Verfolgung kamen Obdachlose in geschlossene Anstalten, Arbeitslager, Gefängnisse und Konzentrationslager. Mitunter wurden sie auch sterilisiert oder im Rahmen des „Euthanasie“-Programms ermordet. Bestenfalls konnten sie darauf hoffen, dass die Nazis sie als billige Arbeitskräfte brauchten – wobei die oftmals körperlich bereits geschwächten Obdachlosen die damit verbundenen Belastungen kaum überstehen konnten.
Es ging den Nazis also nie um sozialpolitische Massnahmen gegen Obdachlosigkeit, sondern um einen brutalen Krieg gegen Obdachlose. Die Überlebenden gehörten übrigens zu jenen NS-Opfergruppen, die keine Entschädigung für die an ihnen begangenen Verbrechen erhielten. Ab 1943 zeigte sich verstärkt eine neue Form der Obdachlosigkeit: Die alliierten Luftangriffe auf Berlin nahmen an Schlagkraft immer weiter zu. Es war der „Reichsluftverteidigung“ nicht mehr möglich, die Bomberströme abzuwehren. Und so fielen zahlreiche Berliner Stadtviertel dem Luftkrieg zum Opfer. Als Reaktion auf diese Ereignisse wurde ein Teil der Bevölkerung aufs Land verschickt. Aber spätestens mit dem Eintreffen zahlreicher Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten und der folgenden Schlacht um Berlin mit den daraus resultierenden Zerstörungen waren 1945 alle Bemühungen hinfällig: In der Stadt gab es eine immense Wohnungsnot!
Die Menschen lebten in überfüllten Häusern, mussten eng zusammenrücken, schliefen in Kellern oder wo immer es irgendwie ging. Durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den osteuropäischen Staaten kamen viele neue Menschen hinzu, die mit dem Wichtigsten versorgt und dann „weitergeschleust“ werden mussten. Über mehrere Jahre hinweg war Obdachlosigkeit in Berlin ein Massenphänomen. Im Rahmen des Wiederaufbaus der fünfziger und sechziger Jahre sollte Obdachlosigkeit dann zum grossen Teil verschwinden: Der Bau neuer Wohnungen und die Instandsetzung kriegsbeschädigter Häuser gehörten damals zu den vorrangigen gesellschaftlichen Aufgaben. Wenngleich die Wohnverhältnisse im Vergleich zu heutigen Standards sehr beengt waren, gelang es doch irgendwie, den meisten Menschen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen.
Das galt besonders für eine Stadt wie Berlin, in der zwei verschiedene gesellschaftliche Systeme gegeneinander antraten und jeweils ihre „sozialpolitische Konkurrenzfähigkeit“ beweisen mussten: West-Berlin konnte den Wohnungsbau aufgrund der Unterstützung durch die Bundesrepublik und die westlichen Besatzungsmächte kraftvoll in Angriff nehmen. Der in den 1950ern auf den Weg gebrachte soziale Wohnungsbau sorgte zusammen mit der guten wirtschaftlichen Lage dafür, dass Obdachlosigkeit weitgehend verschwand. Obdachlos waren nur noch ein paar „Tippelbrüder“, oft Menschen, die nach dem Kriege nicht mehr richtig auf die Beine gekommen waren.
Die DDR wiederum wollte zeigen, dass sie die alten sozialen Probleme der Vorkriegszeit gelöst hatte, somit gehörte staatlicher Wohnungsbau zum Pflichtprogramm. Die Schattenseite dieser Politik war, dass Obdachlose das Ziel staatlicher Repression wurden: Sie waren in der durchreglementierten stalinistischen Gesellschaft nicht erwünscht. Im Sozialismus hatte es keine Obdachlosen zu geben, der Paragraf 249 des DDR-Strafgesetzbuches kriminalisierte Obdachlosigkeit. Und auch im Westen Berlins konnte sie nach wie vor strafrechtlich geahndet werden.
Auf jeden Fall verschwand Obdachlosigkeit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten weitgehend von der Strasse. Im Rahmen der „Relikttheorie“ ging man damals davon aus, dass sie nur ein Überbleibsel des Zweiten Weltkrieges darstellte und bald endgültig verschwinden würde. Ab Ende der 1960er zeigte sich jedoch im Westen Berlins, dass diese Sichtweise nicht der Realität entsprach: Es gab immer wieder „Nachrücker“, die die Asyle, in denen Obdachlose damals untergebracht waren, aufs Neue bevölkerten. Dabei handelte es sich zumeist um kinderreiche Familien aus sozial schwachen Verhältnissen. Mitunter waren sie auch Opfer der Stadtsanierung: Ihre alten, günstigen Wohnungen hatte man abgerissen. Die neuen „Sozialwohnungen“, die sie dann beziehen mussten, waren zwar komfortabler – oft aber auch wesentlich teurer und somit nicht bezahlbar.
Darüber hinaus tauchten in den späten 1960ern zwei neue „Problemgruppen“ auf: zum einen die so genannten „Trebegänger“. Das für jene Zeit charakteristische Aufbegehren junger Menschen gegen ihre Eltern führte oft zu grossen innerfamiliären Konflikten. Viele Jugendliche rissen dann von Zuhause – oder aus dem Heim, in das man sie gesteckt hatte – aus. In diesem Kontext ist auch die Entstehung der Kommune im späteren Georg-von-Rauch-Haus zu verstehen: Hier kamen auf der Strasse lebende Jugendliche unter. Die Anzahl der Trebegänger in West-Berlin könnte insgesamt mehrere hundert Personen betragen haben. Zum anderen entstand mit dem Auftauchen der ersten Heroinabhängigen eine weitere neue Gruppe obdachlosigkeitsgefährdeter Menschen. Die Sucht führte dazu, dass die Betroffenen zuerst alles verkauften, was sich „verramschen“ liess. Dann folgten kleinere Diebstähle oder das Betteln auf der Strasse.
Am Ende standen Prostitution, Raub und Einbrüche. Der körperliche und psychische Zerfall führte oft dazu, dass die Abhängigen schliesslich auf der Strasse landeten. In der ersten Hälfte der folgenden siebziger Jahre sollten sich dann viele Dinge verändern: Es gab zum Beispiel eine verstärkte Wahrnehmung sozialer Probleme. Man sprach über vorher tabuisierte Themen – und man handelte! Dieser Bewusstseinswandel war mit viel Engagement, neuen Aufbrüchen und grosser Experimentierfreudigkeit verbunden. So entstand damals zum Beispiel die moderne Sozialarbeit der Kirche.
Im Zusammenhang mit der Situation Obdachloser gerieten zu jener Zeit vor allem die Zustände in den Asylen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Aktivisten und Betroffene verwiesen auf die problematische Lage in diesen Heimen: Die Obdachlosen waren oft in heruntergekommenen, primitiven und peripher gelegenen Unterkünften, mitunter auch „Baracken-Gettos“ genannt, untergebracht. Teilweise gab es in diesen Häusern noch nicht einmal eine vollwertige Energieversorgung – sogenannte „Strombegrenzer“ sorgten dafür, dass ein Verbrauch nur bis zu einer Leistung von 250 Watt möglich war.
Diese menschenunwürdigen Verhältnisse führten zu einer Abwärtsspirale und verstärkter sozialer Stigmatisierung. Man kam aus diesen Heimen oft nicht mehr heraus, die Menschen blieben teilweise fünf oder zehn Jahre dort. Was die damaligen Ursachen von Obdachlosigkeit betraf, so hatten die meisten Betroffenen ihre Wohnung aufgrund von Mietschulden, Eigenbedarf des Vermieters, Konflikten mit Vermietern, Ehezerwürfnissen oder Streitereien mit anderen Mietern verloren – oder durch die Vernachlässigung ihrer Wohnung. Und wenn man kinderreich war oder es vor Ort nicht genügend preiswerten Wohnraum gab, konnte die Gefahr der Obdachlosigkeit besonders gross sein.
Ein Teil der Obdachlosen jener Zeit war auch der erwähnten städtischen Sanierungspolitik zum Opfer gefallen. Zum damaligen Ausmass des Problems: Im Jahre 1970 wurden in Berlin 5706 in Asylen und Obdachlosenwohnungen untergebrachte Menschen gezählt. Jenseits des neuen gesellschaftlichen Bewusstseins für Probleme wie Obdachlosigkeit gab es damals auch auf der Ebene der politischen Institutionen einen Paradigmenwechsel.
Das entsprechende neue Stichwort war Resozialisierung: Obdachlosenasyle sollten keine „Primitivunterkünfte“ mehr sein, sondern angemessen eingerichtete Wohnstätten mit ausdifferenzierten Hilfsangeboten zwecks einer „Wiedereingliederung in die Gemeinschaft“. Und man bemühte sich, Obdachlose zu mehr Selbsthilfe zu organisieren sowie die Umgebung der Unterkünfte bei der Resozialisierung mit einzubinden. Der sogenannte Obdachlosenplan des Berliner Abgeordnetenhauses von 1974 setzte diesen Reformkurs fort – bei der Lektüre der entsprechenden Dokumente ist sofort spürbar, dass hier eine ernsthafte, von Empathie geprägte Auseinandersetzung mit der Situation Obdachloser stattfand. Ab Mitte der siebziger Jahre zeigte sich dann ein weiterer gravierender Umbruch: Mit der Entkriminalisierung der Obdachlosigkeit wurde die staatliche Repression zum grossen Teil beendet.
Wenngleich diese Massnahme natürlich einen enormen sozialpolitischen Fortschritt darstellte, so bedeutete sie auch, dass die zuvor in den Asylen „kasernierte“ Obdachlosigkeit nun praktisch auf die Strasse schwappte. Ein zentraler Anlaufpunkt für Obdachlose war dabei der Bahnhof Zoologischer Garten. Durch das 1978 erschienene Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sollte dieser Ort in die Schlagzeilen geraten. Er war schon seit langer Zeit ein Treffpunkt gestrandeter Menschen gewesen. Nun aber potenzierte sich das dortige Elend durch Drogenabhängige und Obdachlose. Angesichts dieser Umstände entstand 1976 eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Situation am Bahnhof Zoo befasste. Als Ergebnis ihrer Tätigkeit nahm schliesslich im September 1978 ein aus sechs Sozialarbeiterinnen bestehendes Team dort seine Arbeit auf.
Zur Unterstützung wurde Anfang 1979 ein Mietcontainer in der benachbarten Jebensstrasse aufgestellt, der als feste Beratungsstelle diente. War die Tätigkeit der Sozialarbeiterinnen zunächst auf den Bahnhof Zoo fokussiert, so sollten bald auch andere „Hotspots“ der Obdachlosigkeit ins Blickfeld geraten – wie zum Beispiel das Areal um die Gedächtniskirche herum, die Fläche vor dem Wertheim-Kaufhaus, der Savignyplatz, der Nollendorfplatz und der ehemalige Görlitzer Bahnhof.
Zu den damaligen Besonderheiten West-Berlins gehörte übrigens, dass es aufgrund seiner geopolitisch isolierten Lage den klassischen Typus des wandernden Landstreichers dort nicht gab, die Obdachlosen „blieben vor Ort“. Darüber hinaus zeichnete sich ein Teil der Obdachlosen durch extreme körperliche Verwahrlosung aus – es gab damals noch kaum Hilfsangebote zur hygienischen Versorgung der Betroffenen. Die Einrichtung einer Beratungsstelle für Obdachlose in der Levetzowstrasse im Jahre 1980 – die spätere „Zentrale Beratungsstelle“ – sollte dann einen Meilenstein darstellen. Nun standen endlich vernünftige Räume für die Beratung von Obdachlosen zur Verfügung.
Laut Schätzung der zu den oben erwähnten Sozialarbeiterinnen gehörenden Dorothea Simon-Zeiske gab es zu jener Zeit etwa 4000 bis 6000 Obdachlose in West-Berlin. Frauen stellten dabei auf den ersten Blick eine stark unterrepräsentierte Gruppe dar. Wie Frau Simon-Zeiske es formuliert, sah man in einer Gruppe obdachloser Männer vielleicht eine einzige Frau. Aber: Es gab zugleich eine hohe Dunkelziffer, da viele wohnungslose Frauen gegen sexuelle Gefälligkeiten bei männlichen Bekannten wohnten (was auch heutzutage oft noch der Fall ist).
In den achtziger Jahren wurde die Präsenz von Obdachlosen auf den Strassen West-Berlins als nichts Besonderes mehr angesehen. Auch an das Elend um den Bahnhof Zoo herum hatte man sich gewöhnt. Und während die bei einem Teil der Bevölkerung in den sechziger Jahren entwickelte Sensibilität für soziale Missstände nach wie vor existierte, schienen die meisten Leute sich für solche Themen nicht mehr zu interessieren. Man nahm diese Zustände hin und glaubte – im Gegensatz zum vorherigen Jahrzehnt – nicht, daran noch etwas ändern zu können.
In diesem Zusammenhang verkündete auch der Neoliberalismus, der seit Ende der 1970er zunehmenden Einfluss auf das Denken und Handeln westlicher Regierungen ausübte, eine ganz eigene Botschaft: Jeder ist seines Glückes Schmied und wer in eine soziale Notlage gerät, hat selbst Schuld dran. Statt einer Bekämpfung der Armut konnte man nunmehr von einem „Krieg gegen die Armen“ sprechen. Dadurch war auch das gesellschaftliche Klima für Obdachlose spürbar rauer geworden. Was die konkrete Situation in West-Berlin betraf, so sollte die damalige schwierige Lage auf dem Wohnungsmarkt das Problem der Obdachlosigkeit verschärfen. Zugleich gab es aber die Möglichkeit, in besetzten Häusern unterzukommen, was zumindest von einem Teil der Obdachlosen wahrgenommen wurde.
Im Bereich der Obdachlosenfürsorge gab es, auf den Entwicklungen der 1970er basierend, einen Ausbau der Hilfsangebote. Dieser Trend sollte sich zum Beispiel anhand der 1989 ins Leben gerufenen Kältehilfe zeigen: Aufgrund der Tatsache, dass gerade die kalte Jahreszeit für Obdachlose sehr gefährlich ist, wurde gezielt für zusätzliche, dezentralisierte Notunterkünfte und andere Hilfsangebote gesorgt. Bei der Unterstützung Obdachloser spielte nun auch die Kirche – nach ihrem Aufbruch im Bereich der Sozialarbeit im vorherigen Jahrzehnt – eine grössere Rolle. Das hing unter anderem auch damit zusammen, dass das Vorgehen des Senates gegenüber Obdachlosen teilweise als sehr hart empfunden wurde.
Die Kirche führte in jenem Jahrzehnt zum Beispiel niedrigschwellige Angebote ein, die sich auch an Menschen ohne Papiere richteten und keiner Bedürftigkeitsprüfung unterlagen. Während einige Kirchengemeinden in diesem Bereich „voranpreschten“, gab es aber auch andere, die kein Engagement an den Tag legten oder erst durch den Druck von Aktivisten motiviert wurden, sich für Obdachlose einzusetzen. Zu den positiven Entwicklungen der achtziger Jahre gehörte auch, dass die alten Obdachlosenasyle, in denen – wie oben dargelegt – Menschen unter zumeist sehr problematischen Bedingungen untergebracht waren, nun sukzessive geschlossen wurden: Man brachte in ihnen keine „Neuzugänge“ mehr unter und die Hilfsnetzwerke bemühten sich, die dort Lebenden in regulären Mietwohnungen unterzubringen.
Am Ende der achtziger Jahre zeigten sich mehrere neue Belastungsfaktoren: Die Aufhebung der Mietpreisbindung 1988 reduzierte die Zahl zur Verfügung stehender preiswerter Wohnungen. Hinzu kam ein Anstieg der Arbeitslosigkeit. Zudem wurde die Lage auf dem Wohnungsmarkt beziehungsweise in den Notunterkünften durch die verstärkte Zuwanderung von Aus- und Übersiedlern verschlechtert. Zu jenem Zeitpunkt lebten in West-Berlin zwischen 3000 und 6000 Menschen auf der Strasse.
Die städtischen Unterkünfte waren mit dieser Situation überfordert und mussten die Teilnehmenden oft in minderwertigen privaten Behausungen – auch „Läusepensionen“ genannt – unterbringen. Ab 1989 gab es dann gravierende Veränderungen: Der Zusammenbruch der DDR und die folgende Wiedervereinigung führten zu einer ökonomischen und sozialen Implosion Ostdeutschlands. Viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und erlebten, dass ihre beruflichen Fähigkeiten auf einen Schlag wertlos waren. Diese Deklassierung ging oft mit einer Auflösung sozialer Bindungen einher.
Viele Ostdeutsche waren zudem mit einer Welt, in der sich innerhalb kürzester Zeit alles grundsätzlich verändert hatte, massiv überfordert. Wie ein Betroffener es in einem Band von Renate Drommer formulierte: „Ehe kaputt, Arbeit weg, Wohnung weg.“ Andere wiederum kamen mit den Verlockungen der neuen Konsumgesellschaft nicht klar, überschuldeten sich und konnten dann die Miete nicht zahlen. Die so aus der Bahn geworfenen „Wendeverlierer“ sollten die Zahl der Obdachlosen in die Höhe schiessen lassen. Es kamen weitere negative Faktoren hinzu: In der DDR hatten Mietschulden zunächst einmal keine besondere Bedeutung gehabt und waren auch nicht mit grösseren Sanktionen verbunden.
Im neuen System konnten sie aber innerhalb kürzester Zeit zur Zwangsräumung führen. Die Tatsache, dass die vorher recht günstigen Mieten im Osten Berlins zudem schnell auf ein „marktwirtschaftliches“ Niveau kletterten, wirkte sich zusätzlich verschärfend auf die Situation aus. Zugleich setzte in den 1990ern der umfassende Verkauf landeseigener Wohnungen ein, was verheerende Auswirkungen auf das Angebot an bezahlbaren Wohnungen in Berlin haben sollte.
Die 1993 erfolgende Einführung des „Geschützten Marktsegments“ konnte ihr Ziel, Menschen aus finanziell schwachen Verhältnissen oder in notfallartigen Situationen einen Zugang zum Wohnungsmarkt zu verschaffen, nur zum Teil erreichen. Jenseits der „einheimischen“ Betroffenen sollte die Anzahl der Berliner Obdachlosen auch durch Zuwanderung von aussen erhöht werden: So kamen zum Beispiel Menschen nach Berlin, die anderswo aufgrund der Schliessung von Betrieben ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Sie hofften, in der Stadt einen neuen Job zu finden, bekamen aber keinen und landeten auf der Strasse. Desgleichen kamen auch viele junge Menschen, die den katastrophalen sozialen Verhältnissen Option für Obdachlose – besetztes Haus im Osten Berlins nach der Wende in Ostdeutschland und der damit verbundenen rechtsradikalen Gewalt entkommen wollten.
Die vielen leerstehenden beziehungsweise besetzten Häuser im Osten Berlins schienen zumindest theoretisch eine Möglichkeit zu bieten, irgendwo unterzukommen. Zu den neuen Obdachlosen gehörten aber auch Menschen, die vor der Wende Ost-Berlin verlassen hatten, nun wieder zurückgekehrt waren, in der Stadt aber nicht mehr Fuss fassen konnten. Hinzu kamen gestrandete Osteuropäer: Berlin war ja nun wieder eine offene Metropole – und erneut „die erste Stadt des Westens“. In einer Stadt der Aufbrüche wollten diese Menschen neue Lebensperspektiven finden ... und scheiterten mitunter. Andere waren ursprünglich als osteuropäische oder sowjetische Stipendiaten nach Berlin gekommen. Die mit dem „Systemwechsel“ in ihrer Heimat verbundenen ökonomischen Umbrüche hatten ihnen dann finanziell den Boden unter den Füssen weggezogen.
Es gibt keine zuverlässige Daten, aber es ist davon auszugehen, dass sich die Zahl der Berliner Obdachlosen damals in etwa verdoppelte. 1992 waren es circa 12 000 Personen. Da es vor allem in der Anfangszeit nach der Wende im Osten Berlins nur ein sehr rudimentäres Hilfsangebot gab, sahen sich die alten West-Berliner Anlaufstellen für Obdachlose mit einem massiven Andrang konfrontiert. Parallel zu diesen Entwicklungen waren Obdachlose verstärkter Diskriminierung ausgesetzt: Der damalige „Rechtsruck“ in Deutschland bedeutete, dass auch sie immer häufiger Opfer gewalttätiger Angriffe wurden.
So gab es zum Beispiel Fälle, bei denen Obdachlose in der S-Bahn zusammengeschlagen und dann aus dem fahrenden Zug geworfen wurden. Auch jenseits dieser entsetzlichen Übergriffe sahen sich Obdachlose mit einer neuen Kälte konfrontiert: Das neoliberale Gedankengut und die damit einhergehende Wirtschaftsordnung breiteten sich zu jener Zeit rapide aus. Der Zusammenbruch des Ostblocks schien denjenigen Recht zu geben, die glaubten, dass „der Markt“ alles regeln würde und man den Staat so klein wie möglich halten müsse. Es wurde somit auch nicht mehr als Aufgabe des Staates angesehen, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen.
Damit war eine zunehmende Empathielosigkeit gegenüber sozial Schwachen verbunden. Die mit dem Neoliberalismus einhergehende Privatisierung öffentlicher Räume und die Tatsache, dass Berlin sich als Wirtschaftsstandort anpreisen wollte, führten zudem dazu, dass Obdachlose „unerwünscht“ und zunehmender Repression seitens der Polizei und privater Sicherheitsdienste ausgesetzt waren. Dazu gehörte zum Beispiel, dass Obdachlose aufgegriffen, in Fahrzeuge verfrachtet und dann irgendwo in Brandenburg herausgelassen wurden.
Auch die Hilfsangebote für Obdachlose waren völlig unzulänglich: Die Unterkünfte befanden sich oft an abgelegenen, schlecht erreichbaren Orten und erwiesen sich häufig aufgrund der in ihnen herrschenden Zustände als demoralisierend und „herunterziehend“. Auch war das Personal oft nicht richtig geschult und wurde im Umgang als herablassend wahrgenommen. Positive Nachrichten gab es in jenem Jahrzehnt nur wenige: 1994 wurden sogenannte „Kältebusse“ für Obdachlose zum Aufwärmen eingeführt. Bis zum heutigen Tage spielen sie bei der Aufgabe, auf der Strasse Lebende vor dem Erfrieren zu schützen, eine wichtige Rolle. Zudem sollte sich am Ende des Jahrzehnts die Situation dadurch etwas verbessern, dass die Angebote der Träger der freien Wohlfahrtspflege auf dem Gebiet der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten in die Entgeltfinanzierung übergingen – womit die Angebote bedarfsgerechter ausgebaut werden konnten.
Am Anfang der nuller Jahre gab es zum ersten Mal eine Konsolidierung im Bereich der Obdachlosigkeit: Die wirtschaftliche Talsohle war erreicht worden, eine leichte Verbesserung der ökonomischen Lage deutete sich an. Die Anzahl der auf der Strasse lebenden Menschen sank, wohnungslos gewordenen Familien konnte relativ schnell geholfen werden. Zu jenem Zeitpunkt liess sich das Gros der Berliner Obdachlosen als deutsch, männlich, mittleren Alters und häufig psychisch stark belastet charakterisieren. Mitte des Jahrzehnts hatte die Zahl der Obdachlosen schliesslich einen Tiefstand erreicht. Danach stieg sie aber wieder an: In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts entwickelte sich Berlin zu einem „Boomtown“. Einerseits bedeutete diese Entwicklung, dass es weniger Arbeitslose und somit auch weniger obdachlosigkeitsgefährdete Personen gab.
Im Ganzen sollte sich die Situation im Kontext der Obdachlosigkeit jedoch verschlechtern: Das einsetzende Wachstum der Berliner Bevölkerung und die Tatsache, dass aufgrund der Finanzkrise „Betongold“ als lukrative Anlageform entdeckt worden war, führten zu einem starken Druck auf den Berliner Immobilienmarkt: Die Mieten schossen in die Höhe und viele Menschen konnten ihre Wohnung nicht mehr halten. Die Tatsache, dass es weiterhin einen dramatischen Rückgang der Anzahl staatlich geförderter Wohnungen gab, sorgte für eine zusätzliche Verschärfung der Situation: Zwischen 2008 und 2018 hat sich ihre Anzahl in Berlin fast halbiert! Zugleich kam der Trend einer „Rückkehr in die Grossstadt“ hinzu: Während früher der Traum vieler Menschen ein „Haus im Grünen“ – also am Rande der Stadt oder gar ausserhalb – gewesen war, so hat sich diese Tendenz innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte teilweise umgekehrt.
Die Innenstädte sind sowohl durch politische Massnahmen als auch durch das Engagement von Bürgerinitiativen und anderen Akteuren attraktiver geworden. Heutzutage gilt es als chic, in einem „angesagten“ Viertel eine Wohnung zu haben. Als Schattenseite dieser Entwicklung hat sich eine Verknappung und somit Verteuerung des zur Verfügung stehenden innerstädtischen Wohnraums gezeigt. Ein weiterer Faktor war, dass aufgrund des 2005 in Kraft getretenen Freizügigkeitsgesetzes der EU verstärkt auch ost- und südosteuropäische Obdachlose in Berlin auftauchten. Berlin ist für diese Menschen relativ leicht zu erreichen und sie finden hier bessere Lebensbedingungen vor: Im Winter ist es etwas wärmer – ein paar Grad machen für Obdachlose bereits einen grossen Unterschied aus. Zudem gibt es bessere Hilfsangebote als daheim. Obdachlose können sich ausserdem mit dem Sammeln von Pfandflaschen über Wasser halten und zwischendurch in der S- und U-Bahn „Wärme tanken“.
Aufgrund der boomenden Wirtschaft gibt es auch mehr Gelegenheitsjobs. Zugleich sind gesellschaftliche Diskriminierung und staatliche Repression in Berlin nicht so stark ausgeprägt wie anderswo – und es gibt bereits eine vorhandene osteuropäische „Community“. In einigen Fällen sind osteuropäische Obdachlose auch nach Berlin gekommen, weil ihnen daheim Haft- oder Geldstrafen drohen.
Auszug aus der Publikation "Obdachlosigkeit in Berlin: Rückblick - Gegenwart - Auswege"
Das Buch ist im Selbstverlag erschienen (58 Seiten, bebildert) und kostet 7,50 Euro. Es kann verschickt (Porto/Verpackung 1,70 Euro - Porto/Verpackung in die Schweiz 5,00 Euro) oder im stadtinneren Bereich Berlin "per Hand" übergeben werden.
Das Buch ist im Selbstverlag erschienen (58 Seiten, bebildert) und kostet 7,50 Euro. Es kann verschickt (Porto/Verpackung 1,70 Euro - Porto/Verpackung in die Schweiz 5,00 Euro) oder im stadtinneren Bereich Berlin "per Hand" übergeben werden.