Zur Gewaltaffinität des Mainstream-Journalismus Vierte Gewalt revisited

Gesellschaft

Seit gut zwei Monaten überschlagen sich die Meldungen in Sachen Ukraine und Russland. Eine erstaunliche mediale Leistung wird erbracht, die der Öffentlichkeit auf Ansage der politischen Führung einiges an Zeiten- und Gesinnungs-Wende zumutet.

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Zeitungsständer im Café Tomaselli, Salzburg. Foto: Andreas Praefcke (CC BY 3.0 unported - cropped)

14. Mai 2022
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Und kritisch registriert wird die ganze Informationsflut fast nur noch in der Gegenöffentlichkeit der sozialen Medien.

Selbstverständlich ist das mediale Getöse ja nicht: Was 20 Jahre Afghanistan-Krieg unter US-Führung (und Beteiligung u.a. ukrainischer Truppen), der rotgrün mitgetragene Überfall auf Serbien 1999, der Deutschlands Militär auf die europäische Bühne zurückbrachte, sowie dauernde Kriegseinsätze der NATO-Staaten (mal mit, mal ohne völkerrechtliche Legitimation) nicht schafften, hat Putin in kürzester Frist zustande gebracht.

Jetzt ist die deutsche Öffentlichkeit bis zum höchsten Grade in Militärdingen alarmiert und sensibilisiert, so dass blutige Laien z.B. lernen, beim Tötungsgerät zwischen „leichten“ und „schweren“ Waffen (ab fünf Tonnen?) zu unterscheiden. Tagtäglich wird man über die Gefährdung des Weltfriedens (des-)informiert und die blaugelb eingefärbte Öffentlichkeit verlangt eine ganz neue Empathie mit den Opfern des imperialistischen Staatenverkehrs. Sprich: mit ganz bestimmten Opfern und nicht mit Hinz und Kunz aus Afghanistan, Irak oder Libyen, denen ihr Zuhause von NATO-Bomben zertrümmert wurde.

Ein Gewaltmonopol – und seine plurale Ausgestaltung

Die Berichterstattung der führenden Medien lässt keinen Zweifel daran, was von der neuen Lage zu halten ist: Die Schuldfrage ist zu hundert Prozent geklärt (kurz gefasst: Putin = Hitler). „Kriegsmoral auf höchstem Niveau“ und unbedingte Parteilichkeit liefern die Leitschnur, um das gegenwärtige Kriegsgeschehen als Werk eines Aggressors einzuordnen (vgl. Was ist eigentlich ein „Aggressor“.

Dennoch sehen sich Journalisten als neutrale und sachliche Berichterstatter. Sie betrachten sich – nicht nur in Deutschland – als vierte Gewalt im Staate. Und schon dieses Etikett sagt einiges über ihr Selbstverständnis aus.

„Vierte Gewalt, vierte Macht oder publikative Gewalt wird als informeller Ausdruck für die öffentlichen Medien, wie Presse und Rundfunk, verwendet. ‚Vierte Gewalt' bedeutet dabei, dass es in einem System der Gewaltenteilung eine vierte, virtuelle Säule gibt. Neben Exekutive, Legislative und Judikative gibt es demnach die Medien, die zwar keine eigene Gewalt zu Änderung der Politik oder zur Ahndung von Machtmissbrauch besitzen, aber durch Berichterstattung und öffentliche Diskussion das politische Geschehen beeinflussen.“ (Wikipedia)

Ein gewisses Mass an Einbildung scheint offenbar zum Beruf des Journalismus dazuzugehören, sonst könnte man sich nicht in eine Reihe mit Abgeordneten, Ministern und Richtern stellen, wo man doch im Unterschied zu diesen über keine Macht im eigentlichen Sinne verfügt. Das nette Bild der vier Säulen der Macht verdankt sich der Vorstellung, dass Machtausübung durch die Aufteilung auf verschiedene Instanzen kontrolliert und reguliert wird, also nicht willkürlich erfolgt, dass sich das Gewaltverhältnis vielmehr aus der Regelung der jeweiligen Sache begründet und damit im Grunde gewaltfrei vollzogen wird.

An solchen Idealisierungen stricken die Medien gerne mit. Sachlich gesehen muss man festhalten, dass mit der Ausdifferenzierung verschiedener Abteilungen der Macht eins beabsichtigt ist: dass die Machtausübung nämlich unabhängig von den Interessen einzelner Personen stattfindet. Sie soll ganz im Sinne der Aufgabenstellung, die der Staat als seine Räson kennt, vollzogen werden. Sie soll zum Wohle der Nation erfolgen, in der die Menschen bekanntlich ganz unterschiedlich vorkommen: die einen als „die Wirtschaft“, um deren Wohl sich alle bemühen und von deren – wachsendem! – Wohlergehen alles abhängig gemacht ist; die anderen als diejenigen, die für dieses Wohl geradezu stehen haben als billige Arbeits- und sonst wie benötigte Dienstkräfte. Das herzustellen, dazu dienen die verschiedenen Ämter.

Dass mit der Aufteilung der Macht in verschiedene Abteilungen eine Bändigung derselben verbunden sei, ist allerdings Legende. Schon die Festlegung der verschiedenen Machtbefugnisse lässt das erkennen. Sie zeugt von der funktionalen, leistungssteigernden Arbeitsteilung bei einem Gewaltmonopol, das mit unschlagbarer Wucht über Land und Leute ausgeübt wird. Die Legislative, also das Parlament, verabschiedet Gesetze, die die Regierung ausführt und über deren Einhaltung die Judikative wacht. Alles fein gegliedert – von der obersten staatlichen Spitze bis zur letzten Kommunalverwaltung in Hintertupfingen, so dass nirgendwo die Illusion eines rechts-, d.h. gewaltfreien Raums aufkommen kann.

Dabei ist schon diese Darstellung eines kontrollierenden Zusammenwirkens beschönigend angelegt. Die meisten Gesetze werden von der Regierung erarbeitet, von den sie unterstützenden Parteien im Parlament abgenickt, während deren Einhaltung und staatsdienliche Funktion von Gerichten überwacht wird. Natürlich kann auch mal ein Richter der Politik die gelbe Karte zeigen. So hat jetzt, fast fünf Jahre nach dem G 20-Gipfel in Hamburg, ein Verwaltungsgericht entschieden, dass polizeiliche Massnahmen gegen ein Protestcamp rechtswidrig waren (Junge Welt, 6.5.22). Für die damalige politische Führung – an deren Spitze vor Ort übrigens: der heutige Kanzler Scholz – ist das belanglos. Der Protest wurde ja erfolgreich, mit abschreckender Wirkung fürs ganze Land, zusammengeprügelt. Und für die nächste Niederschlagung von Protest wissen die nun amtierenden Sicherheitsfachleute genauer, wie man Gewaltausübung rechtlich unangreifbar macht.

Dem Volke, der Führung und ihrer Einheit dienen

Mit ihrem Selbstverständnis der Vierten Gewalt stilisieren sich Journalisten als eine Instanz, die über die Politik wacht und die damit so etwas wie eine Gegen- oder Kontrollmacht darstellt. Ein solches – wie gezeigt – verlogenes Bild unterstellt einen Kampf oder Ringen der verschiedenen Gewalten im Staate zum Nutzen des Bürgers, der nicht länger Untertan sein soll. In diesem Kampf sehen sich die Journalisten als eine Partei, die unabhängig von den drei anderen agiert. Bleibt noch die Frage, wofür sie sich da einsetzen? Ihre Verbände geben darüber Auskunft:

„Als Journalistin oder Journalist arbeiten Sie in einem spannenden und verantwortungsvollen Beruf, dem schönsten der Welt, wie wir finden. Ihre Arbeit ist für eine funktionsfähige Demokratie unverzichtbar.“ (https://dju.de/ueber-uns)

„Presse und Rundfunk haben im demokratischen Staat die Aufgabe, die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger so zu informieren, dass sie am Prozess der demokratischen Meinungs- und Willensbildung teilnehmen können. Deshalb hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Massenmedien mit Freiheitsgarantien ausgestattet und die Informationsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger in den Rang eines Grundrechts erhoben. Den aus dem Grundgesetz Presse und Rundfunk verbrieften Rechten muss die Pflicht der Journalistin und des Journalisten zu einer sachlichen und fairen Berichterstattung entsprechen. Rechte und Pflichten, Verantwortung und Aufgaben jeder Journalistin und jedes Journalisten in der Bundesrepublik Deutschland leiten sich aus dem Grundgesetz und der Rangfolge seiner Grundrechte ab.“ (Deutscher Journalistenverband, Grundsatzprogramm)

Gewerkschaftlich organisierte Journalisten – ähnlich aber auch sonstige „freie“ oder „unselbstständige“ Kollegen – sehen sich also als Akteure, die der Demokratie dienen. Ihr Dienst besteht nach eigener Auskunft in der Information der Bürger und in der Teilnahm an deren Meinungs- und Willensbildung. Banal ist das nicht, es sagt vielmehr schon einiges über das Verhältnis von Staat und Bürger aus und über die Rolle, die Journalisten darin spielen. Wenn die Meinung und der Wille des Bürgers erst gebildet werden müssen – nämlich im Rahmen eines demokratischen Herrschaftssystems und der dort üblichen „Prozesse“ –, dann wird damit dementiert, dass die Politik einfach Ausdruck des Bürgerwillens ist. Schliesslich muss er ja erst für die Demokratie passend gemacht werden, und zwar von einer Instanz, die sich gleich als vierte den anderen Gewalten zuordnet!

Die Information, die den Bürgern verabreicht wird, soll sie in den Stand versetzen, die für die Wahrnehmung der Wählerrolle (einschliesslich der sonstigen Staatsbürgerrolle) richtigen Entscheidungen zu fällen. Und das heisst in der Konsequenz, sie sollen sich die Sichtweise von Politikern zulegen und die anstehenden Aufgaben dementsprechend beurteilen. Darin sehen Journalisten ihre vornehmste Aufgabe!

Dass das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit einem staatsbürgerlichen Auftrag dienen soll, dass es funktional für diesen Dienst bestimmt ist, das ist im journalistischen Selbstverständnis also als explizite Aufgabenstellung formuliert. Meinungs- und Pressefreiheit sind eben nicht dafür eingerichtet, dass jeder denkt, ausspricht und schreibt, was er will. Vielmehr wird hier eine Erlaubnis gewährt, in deren Bahnen sich Meinen und Veröffentlichen zu bewegen haben. Insofern formulieren es die Berufsverbände auch gleich als ein Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnis, dem sie gerne nachkommen wollen.

Eine Informationspflicht für pflichttreue Bürger

Wenn an erster Stelle ihres Aufgabenkatalogs die Pflicht zur fairen Information steht, stellt sich natürlich die Frage, über was alles in der Welt berichtet und der Bürger informiert werden soll. Alles kann ja nicht Gegenstand der Berichterstattung sein. So findet durch Presse und Rundfunk eine Auswahl dessen statt, was die verantwortlichen Redaktionen für berichtenswert befinden.

Zuerst kommen die Aktionen, die alle betreffen, und das sind die Handlungen und Aussagen von Politikern. Daher nimmt die Wiedergabe ihrer Äusserungen einen grossen Raum in der Berichterstattung ein. Mit der Wiedergabe ihrer Ansichten wird dem Publikum auch schon die massgebliche Sicht auf die Welt nahe gebracht. Journalisten lassen dabei sowohl die Regierenden wie die Opposition, Wirtschaftsführer wie Gewerkschaften und sonstige „Verantwortliche“ zu Wort kommen. Diese dürfen sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise darüber äussern, wie in Deutschland Politik gemacht gehört und wie der Erfolg der Nation zu bewerkstelligen ist.

Da gibt es auch so manchen Tadel für die Regierenden und Alternativvorschläge der Opposition; oder es kommen Forderungen von (massgeblichen) Interessengruppen, die eine stärkere Berücksichtigung ihrer Belange in der Politik verlangen, zu Wort. So lernt das Publikum, die Politik nicht daran zu messen, was sie für Zwecke verfolgt und wie man als Staatsbürger darin vorkommt, sondern im Blick darauf, ob die Verantwortungsträger auch gut regieren und ihre Aufgaben gewissenhaft erfüllen. Was das konkret heisst, dazu werden dem Publikum die verschiedenen, auf konstruktive Mitwirkung ausgerichteten Sichtweisen geliefert. So können sich die Zeitungsleser oder das Fernsehpublikum in die Nöte von Politikern hineinversetzen und ihre Meinung dazu bilden, wer „es“ am besten macht.

Von der gebildeten Meinung hängt für das Geschehen in der Politik natürlich nichts Wesentliches ab, allenfalls darf das jeweilige Elektorat, die wahlberechtigte Bürgerschaft, alle vier Jahre mitentscheiden, wer das Geschäft der Politik betreibt. Dessen Aufgabenstellung steht unabhängig von der Person fest, und da es viele Politiker gibt, muss ausgewählt werden, welche Anwärter ins Amt gelangen. Hier haben die Medien einiges zu tun. Presseorgane befinden sich zudem in Konkurrenz zueinander, also profiliert man sich über besondere Meldungen aus diesem Bereich der Personalalternativen. Da ist es natürlich dienlich, wenn ein enger Kontakt zu Politikern besteht, die einen mit Hintergrundinformationen versorgen. Und vorteilhaft ist es genauso für eine politische Karriere, wenn man in den Medien präsent ist. Also gibt es durch solche Kontakte eine Win-Win-Situation, was dann bei Gelegenheit, wie im Fall des österreichischen Kanzlers Kurz, auch als Kumpanei denunziert werden kann.

Doch nicht nur die deutsche Politik beherrscht die Schlagzeilen. Auch das Verhältnis zwischen den Staaten ist wichtig, wobei es immer schon ein Unterscheidungsmoment gibt: Zwischen „uns“ und den „anderen“ verläuft eine prinzipielle Trennungslinie. Was andere Staaten treiben – als Bündnis- bzw. Wirtschaftspartner, als Freund, als Gegner oder als Problemfall, etwa als Herkunftsland von Flüchtlingen –, ist dann von Belang, wenn es deutsche Interessen und damit „unser“ Land berührt. Deutsche Interessen in der Welt sind vielfältig und umfangreich, so dass auch da die Wichtigkeit geprüft werden muss und an dem einen Tag Länder im Blickpunkt stehen, die morgen keine Meldung mehr wert sind.

Eine Vielfalt in dem Sinne, dass die Interessen und verschiedenen Kalkulationen anderer Staaten ebenfalls – anteilnehmend oder auch nur sachlich – zu würdigen wären, fällt gegenüber dem Ausland weitgehend flach. Wenn Russland seine Interessen geltend macht, dann droht Putin; wenn China sein Seidenstrassenprojekt verfolgt, dehnt es unberechtigter Weise seinen Machtbereich aus, der eigentlich „uns“ zusteht; wenn der Iran Atomkraftwerke baut, ist das „für uns“ eine Herausforderung. Der Schein einer Trennung zwischen Meldung und Kommentar, die eine sachliche Berichterstattung auszeichnen soll, entfällt im Prinzip bei diesem Informationswesen. Und nur wenige Journalisten stolpern darüber, dass die Betonung der Werte deutscher Aussenpolitik gleichzeitig eine Kumpanei mit Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten oder Marokko zulässt. Wann die betreffenden Werte in Anschlag zu bringen sind und wann nicht, wissen die Profis eben genau – das kennzeichnet gerade ihren Sachverstand und ihre Professionalität.

Neben der Politik gibt es aber auch noch jede Menge anderer Dinge, die dem Publikum nahe gebracht werden müssen – nicht weil sie es unmittelbar betreffen, sondern weil die betreffende Information der staatsbürgerlichen Meinungsbildung dient. Dazu gehören regelmässig Rechtsverstösse, ob nun als Verkehrsvergehen oder Einbruch, Mord- und Totschlag, Clan-Kriminalität oder Kindesmissbrauch. Das Rechtsbewusstsein bedarf der Pflege und dafür muss das entsprechende Material geliefert werden.

Sport interessiert zwar nicht jeden, aber auch er muss in der Berichterstattung seinen gehörigen Platz haben – angefangen von den örtlichen Vereinen bis zu den nationalen und internationalen Sportereignissen. Schliesslich gehört dies zur Pflege des Heimatbewusstseins und des Gemeinschaftsgefühls, das sich beim sportlichen Wettkampf, wo „wir“ gegen die „anderen“ stehen, wie von selbst einstellt – ganz unabhängig davon, wie man sonst in dieser Gesellschaft vorkommt, in der die Gegensätze der Interessen dominieren.

Last but not least, darf die Kultur samt ihren Events nicht fehlen, auch wenn sie nicht für jeden mit jedem Angebot in Frage kommt. Ob Rockkonzerte, Opern, Ausstellungen oder Bibliotheken, alles gehört zur Kultur, deren geistiger Genuss dem Bürger nahe gebracht werden muss. Ob einer nun abrockt oder sich geistig-geistlich erbaut, nützlich ist das fürs Funktionieren der Gesellschaft allemal, wenn es kulturpolitisch auf die richtige Schiene gesetzt wird. Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur, hat das jüngst auf den Punkt gebracht, als sie ihre Teilnahme an der Münchner Sicherheitskonferenz mit der Bemerkung verteidigte: „Kulturpolitik ist Sicherheitspolitik.“ (Junge Welt, 23./24.4.22)

Meinungs- und Willensbildung – wozu?

Auf die Unterscheidung zwischen Information und Meinungsbildung wird in der Selbstdarstellung von Journalisten grosser Wert gelegt. Das soll die Sachlichkeit und Neutralität ihrer Berichterstattung unterstreichen. Dass sie schon mit ihrer Auswahl der Meldungen Meinungsbildung betreiben, fällt dabei unter den Tisch. Ob z.B. ein Protest gegen die herrschende Politik eine Meldung wert ist oder besser totgeschwiegen werden sollte, entscheidet sich zum einen an seinem Inhalt (konstruktives Anliegen oder destruktives Aussenseitertum?), zum andern daran, ob er sich etwa zum Ordnungsproblem ausgewachsen hat, also von der Politik nicht mehr ignoriert werden kann. Auf keinen Fall wollen verantwortungsvolle Journalisten einen Protest durch Berichterstattung stark machen, wenn er die herrschende Politik grundsätzlich in Frage stellt.

Ganz anders sieht das im Ausland aus. Je nachdem, wie Deutschland zu einer Regierung anderswo steht, ist Protest von Interesse oder auch nicht. Drei Demonstranten in Moskau auf dem Roten Platz können sich des Interesses deutscher Kameraleute sicher sein. Das Niedermachen und Einsperren von Tausenden Kritikern in Ägypten oder im Irak (wo mit deutschen Waffen oder deutschen Ausbildern die örtlichen Sicherheitskräfte auf Trab gebracht werden) mag zwar ein politisches Ereignis sein, berührt aber nicht deutsches Interesse. Es sei denn, irgendein Politik will daraus einen Skandal stricken...

Getrennt von den Informationsartikeln oder Nachrichtenteilen der Medien gibt es noch die zusätzliche Abteilung „Kommentar“, in der sich Journalisten meinungsstark, bekennend, aber natürlich auch kritisch zur herrschenden Politik betätigen. Inhalt ist nicht so sehr, was die Politik oder die Politiker machen, sondern in erster Linie, wie sie das machen. So ruft schon die Tatsache, dass der Kanzler in der Auseinandersetzung mit Russland nicht ständig in den Medien erscheint, die Frage auf, ob er abgetaucht ist? Ob er noch die Führung inne oder ein Kommunikationsproblem am Hals hat?

Auf diese Weise trägt sich – mit kritischem Tenor – der Ruf nach einem starken Führer vor, denn in den Augen vieler Journalisten ist das eindeutig die Aufgabe eines Kanzlers: gegenüber dem Ausland auf klare Kante setzen und damit im Innern den Bürgern Orientierung geben. Diese müssen eben wissen, was sie als gute Deutsche in der Auseinandersetzung mit anderen Mächten zu denken haben. So werden alle Handlungen und Äusserungen von Politikern darauf hin begutachtet, inwieweit sie ihrer Rolle im Staatswesen gerecht werden, sei es als amtierender Minister oder als oppositioneller Bedenkenträger, als Parteiführer oder als Interessenvertreter einer bedeutenden gesellschaftlichen Gruppe.

Wie der Erfolg in jedem Falle gesichert werden kann, ist allerdings keine ausgemachte Sache, und so kommt diese Kritik mit Vorliebe methodisch daher: Wie geht der Betreffende vor angesichts der Ziele, die er sich vorgenommen hat? Damit ist auch der Massstab gesetzt für die Leser- oder Zuschauerschaft. Sie soll die Staatsmänner ebenfalls danach beurteilen, ob sie erfolgreich die Nation vertreten und regieren, ob sie einen positiven Beitrag zum Gelingen der nationalen Interessenverfolgung leisten oder ob sie etwa dem Ansehen der Nation schaden. Auf diese Art und Weise wird Nationalismus gepflegt, der keiner sein soll, sondern sich, sofern er bei uns stattfindet, Patriotismus nennt.

Den Massstab des Erfolgs kann man an alle Gegenstände anlegen, ob im Sport an die Spieler und Trainer, in der Kultur an die Stars und Sternchen oder an die Wirtschaftsführer bei ihren handfesteren Konkurrenzbemühungen. Zu allem kann man sich eine Meinung bilden, die Sache gut oder schlecht finden – und mit der Meinungsfreiheit gibt es auch noch die offizielle Erlaubnis dazu! Die enthält natürlich gleichzeitig die Vorschrift, dass die Meinung folgenlos zu bleiben hat und niemand auf die Idee kommen darf, was er meint, müsste auch zu praktischen Konsequenzen führen.

Kämpfer für die Meinungsfreiheit – ihrer Nation

Journalistenvertreter treten auch gerne als Vorkämpfer für die Meinungsfreiheit auf, vor allem, wenn es sie selber betrifft. Sie am Zutritt zu Veranstaltungen zu hindern oder daran, Gesichter abzufilmen – was für manche Leute eben riskant sein kann, weil auch hierzulande die Teilnahme an Demonstrationen unter Umständen zu negativen beruflichen Konsequenzen führt –, gilt als Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit.

Wenn solche Einschränkungen von Seiten der Polizei erfolgen, ist die Sachlage allerdings eine andere. In der Regel können die Medien-Profis sehr genau unterscheiden, wann eine Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit unberechtigter Weise stattfindet und wann nicht. Daher hält sich auch die Solidarität mit Kollegen, die vom Sicherheitsapparat ins Visier genommen werden, in Grenzen. In Deutschland musste man das letztes Jahr wieder konstatieren, als es um die Beobachtung der linken Tageszeitung Junge Welt durch den Verfassungsschutz ging (vgl. Was das liberalste Deutschland, das es je gab, alles nicht aushält. Dass hier ein Blatt mit abweichenden Positionen durch das Extremismus-Etikett wirtschaftlich geschädigt werden soll, hat kaum ein Medium interessiert.

Oder nehmen wir den Fall Julian Assange. Er wurde zunächst als Held gefeiert. Nachdem der US-Staat juristische Vorwürfe gegen ihn bis hin zum Geheimnisverrat erhob, sank die Unterstützung sichtlich und inzwischen ist bei Journalisten von Solidarität mit einem Vertreter ihrer Zunft kaum etwas zu entdecken. Die Deutsche Journalisten-Union (in der Verdi-Gewerkschaft) protestierte zuletzt Ende 2021. „Assange habe Kriegsverbrechen aufgedeckt und der Öffentlichkeit damit einen grossen Dienst erwiesen. Dass er dafür ins Gefängnis solle, sei absurd. Sollte es tatsächlich zu einer Auslieferung kommen, hätte das katastrophale Folgen für den gesamten Journalismus, dessen Fundamente völlig infrage gestellt würden.“ Ein halbes Jahr später deckt die Presse ein russisches Kriegsverbrechen nach dem andern auf – und Assange ist so gut wie vergessen.

Ähnlich ist es dem Whistleblower Edward Snowdon ergangen, der sich der Verhaftung in den USA entzog, indem er in ein Land flüchtete, von dem er ausgehen konnte, dass es ihn nicht an den amerikanischen Staat ausliefern würde. Dies hat ihn dann in den Augen der Meinungsfreiheitskämpfer disqualifiziert. Beim Feind unterzutauchen geht in ihren Augen gar nicht. Dass jedes Land des gerühmten freien Westens ihn ausgeliefert hätte, spielt da keine Rolle.

Keine grosse Meldung war den meisten hiesigen Medien das Unterbinden der Sendungen des russischen Senders RT DE wert. Ein Akt der Zensur wollte darin kaum ein Journalist erblicken, erfolgte doch alles nach Recht und Gesetz. Auch die Begründung, Russia Today sei ein Staatssender und solche Sender könnten in Deutschland keine Sendeerlaubnis erhalten, stiess niemandem auf in einem Land, aus dem jahrelang das Münchner Radio Liberty Propaganda gegen Osten in staatlichem Auftrag gesendet hat.

Ganz anders sollte man dagegen das russische Verbot der Sendungen der Deutschen Welle sehen. Dass es genauso auf einer Gesetzesgrundlage erfolgte, eben der russischen, spielte da keine Rolle. Es war in den Augen der Freiheitskämpfer einfach Zensur durch Russland, denn die Deutsche Welle betreibe doch, wie es hiess, unabhängigen Journalismus. Dass dieser deutsche Auslandssender eine eigene staatliche Einrichtung zur Verbreitung der eigenen aussenpolitischen Sichtweise ist, also nichts anderes betreibt als das, was RT DE vorgeworfen wird, sollte nicht gelten. Gemäss der vorgängigen Parteinahme für „unseren“ Blickwinkel ist das eben kein Hindernis für unabhängigen Journalismus, schliesslich diktiert Annalena Baerbock nicht die Artikel!

Das macht Wladimir Putin bei Russia Today zwar auch nicht – er kann sich wie die deutsche Politik auf seine nationalistischen Schreiber oder Redakteure verlassen –, macht aber dem parteilichen Blickwinkel keine Probleme. Dass in allen deutschen Medienanstalten Politiker in Aufsichts- oder Beiräten sitzen, gibt keinem deutschen Journalisten zu denken, wenn er die Staatsabhängigkeit von RT DE angreift.

Journalisten muss man eben nicht vorschreiben, was sie zu schreiben oder zu melden haben. Mit ihrem Verantwortungsbewusstsein für die Nation liegen sie immer schon richtig. Und so ist es weder verwunderlich, noch gilt es in der Branche als anstössig, wenn regelmässig nach einem Regierungswechsel eine ganze Reihe von ihnen ins Kanzleramt oder in Ministerien wechselt, um dort als Sprecher der Mächtigen zu fungieren. Geübt haben sie lange genug – und in der Branche gilt daher eine solche Berufung eher als Auszeichnung. Wie sollte auch die stolze Vierte Gewalt Berührungsängste gegenüber der wirklichen Staatsgewalt haben?

Suitbert Cechura

Zuerst erschienen bei „krass und konkret“