Eine anarchistische Theorie-Zeitschrift gründen Die Leerstelle füllen

Gesellschaft

An vielem fehlt es uns in der Überflussgesellschaft des allgemeinen Mangels.

Almada & Cacilhas.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Almada & Cacilhas. Foto: Mark Ahsmann (CC BY-SA 3.0 cropped)

15. Juli 2022
3
0
5 min.
Drucken
Korrektur
Wenn ich etwas kurzsichtig herangehe bzw. dort, wo ich eben stehe, dann wünsche ich mir vor allem auch eine Zeitschrift in welcher anarchistische Theorie abgebildet, vermittelt, diskutiert und also gemeinsam weiterentwickelt wird. Selbstverständlich gilt es zu reflektieren, dass ich dies aus eigenem Interesse schreibe, weil ich mich in einem solchen Projekt mit meinen Fähigkeiten und meiner Leidenschaft sinnvoll fühlen würde. Wenn ich das so zugebe, dann um bei allen Theorie-Personen anzuregen, dass sie darüber reflektieren sollten, warum sie sich auf diese Weise mit Themen beschäftigen und welche Rollen sie darin unbewusst oder auch gezielt einnehmen bzw. einnehmen wollen.

Mit anderen Worten sollte eine Zeitschrift für anarchistische Theorie kein Selbstzweck werden. Es kann Freude machen, interessant und anregend sein, sich – zum Beispiel in Textform, in Veranstaltungen oder Radio-Sendungen - inhaltlich und theoretisch auszudrücken und auszutauschen. Das ist auch völlig legitim. Wenn ich mir vorstelle, eine schön designte und gesetzte, inhaltlich fundierte, aber dennoch zugängliche Zeitschrift zu produzieren, die vierteljährlich in einer Auflage von 2000-10000 Exemplaren erscheint, in der echte Debatten stattfinden und verschiedene Autor*innen in einen Austausch mit ihren Lesenden kommen, löst dies bei mir Gefühle der positiven Spannung und anschliessenden Zufriedenheit aus. Dieser Gedanken teased mich.

Ich würde nicht sagen, dass er mich in einem sexuellen Sinne geil macht, aber das kommt auf die Definition von Sexualität an. Diesem Bedürfnis nachzugehen und es potenziell mit einigen Menschen zu teilen, kann eine tolle Sache sein. Meiner Vorstellung nach bedeutet ein anarchistischer Anspruch aber, mit allen Praktiken und Organisationen bestimmte Absichten zu verfolgen. Das träfe damit auch auf eine Theorie-Zeitschrift zu, wenn sie kein Selbstzweck sein soll.

Unter anderem bestünde die Absicht darin, geteilte Begriffe zu finden, um die Herrschaftsordnung zu begreifen, verborgene und unterdrückte Alternativen zu ihr herauszuarbeiten, widerständige Praktiken zu thematisieren und zu befördern, soziale Bewegungen emanzipatorisch, radikal und sozial-revolutionär auszurichten, konkret-utopische Überlegungen anzustellen, Anarchist*innen mit intellektuellen Fähigkeiten zu vernetzen und linke Intellektuelle* von anarchistischen Ansätzen zu überzeugen.

Auch wenn es völlig in Ordnung ist und hoffentlich auch so sein sollte, dass wir Freude an so einem Projekt empfinden, darf es meiner Ansicht kein Hobby sein, sondern sollte militant** betrieben werden. Und jetzt mal abgesehen von den politisch-weltanschaulichen und inhaltlichen Positionen trifft dies nicht auf die Espero[1] oder die Zeitschrift für Anarchismusforschung NeZnam[2] zu. Auf die Direkte Aktion[3] schon eher, aber es gibt sie mittlerweile nur noch im Onlineformat und hat eine dezidiert syndikalistische Ausrichtung.

Die Graswurzelrevolution[4] ist eine gute und langjährige Zeitschrift für anarchistisch und pazifistisch interessierte Menschen, die sich sozialen Bewegungen verbunden fühlen. Wiederum abgesehen von der inhaltlichen Grundausrichtung, wäre ein Theorie-Magazin davon zu unterscheiden, was ebenso auf so etwas wie das autonome Blättchen zutrifft[5]. Eine Theorie-Publikation ist Tsveyfl[6], die auch viel bestellt worden ist, was ein Indikator für den relativen Bedarf an anarchistischer Theorie darstellt.

Dann gibt es die Portale anarchistischebibliothek.org, welche von insurrektionalistischen Leuten dominiert wird oder anarchismus.de unter den Fittichen von anarchistischen Kommunist*innen. Mir persönlich sind diese jeweils zu einseitig. Der allgemeine Trend geht zum podcast und dem Nutzen der neuen sozialen Medien. Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten und Weisen, damit umzugehen. Dem Trend affirmativ zu folgen, ist problematisch. Ihn einfach zu ignorieren in gewisser Hinsicht borniert.

Interessanterweise kommt es nicht zum Tod des Printmediums. Gerade durch die Digitalisierung der Welt kann eine gedruckte Zeitschrift etwas besonderes sein. Aber dazu braucht es ebenfalls Finanzierungswege und eine digitale Präsenz. So etwas wurde mit der GaiDao[7] ja angedacht, die vor einem Jahr nach 10 Jahren eingestellt wurde. Wenngleich das Projekt eine Weile vergleichsweise viel gelesen wurde, lief es sich letztendlich dadurch Tod, dass es nicht aktiv mitgetragen wurde. Darüber habe ich an anderer Stelle nachgedacht.***

Meiner Ansicht nach besteht hierbei also eine deutliche Leerstelle im deutschsprachigen Raum. Und dies ist nicht deswegen zu füllen, weil das irgendwie schön wäre oder dem Bedürfnis einiger Menschen entsprechen mag. Vielmehr kann eine anarchistische Theorie-Zeitschrift ein Faktor sein, um Bewusstsein zu bilden, Organisierung zu befördern, Vernetzung zu schaffen und gemeinsam mehr zu werden. Dafür gibt es auch Ansätze, so etwa die US-amerikanische Zeitschrift Fifth Estate[8], welche seit 1965 besteht und 411 Ausgaben hat oder die italienische rivista anarchica[9], welche seit 1971 bestand und bedauerlicherweise 2020 nach 445 Ausgaben eingestellt wurde. Hierbei kann mensch sich beispielsweise Inspiration holen. Wenn du Kapazitäten, gewisse Grundfähigkeiten und Bock hast eine anarchistische Theorie-Zeitschrift zu gründen und zu betreiben, melde dich gern.

P.S.: Ein anderes Thema ist, dass intellektuelle Publikationen der Akteur*innen der extremen Rechten über die letzten 10 Jahre, stark ausgeweitet wurden. Abgesehen von der stärkeren Organisierung von Faschisten, trugen dazu sicherlich auch Veranstaltungen wie die „Akademien“ des Instituts für Staatspolitik in Schnellroda bei. Neben der von dort herausgegebenen Sezession, gilt es auch Tichys Einblick, eigentümlich frei oder Compact als Publikationen der sogenannten Neuen Rechten zu beleuchten. Ein links-emanzipatorisches oder anarchistisches Publikationsprojekt bewegt sich aus verschiedenen Gründen nicht auf einer Ebene mit extrem-rechten Zeitschriften (u.a. auch, weil dort teilweise auch starke Geldgeber vorhanden sind...). Es gilt ihren relativen Erfolg schon deswegen nicht nachzuahmen, weil dieser sich seinerseits auf dem Abkupfern bei linken Zeitungen gründet (z.B. bei konkret). Thematisiert werden muss dies dennoch, wenn es darum gehen soll, einen anarchistische Theorie-Zeitschrift auf Dauer zu stellen...

Jonathan Eibisch

Anmerkungen * Wenn ich „intellektuell“ schreibe, dann meine ich keine abgehobene Denkweise, die in einer exklusiven Geheimsprache ausgedrückt wird. Intellektuelle Fähigkeiten können ebenso wie handwerkliche, landwirtschaftliche, fabrizierende oder soziale Fähigkeiten erlernt werden. Wir wollen eine Gesellschaft schaffen, in welcher alle Menschen sich intellektuell betätigen können, zu dem Grad, wie sie dies wollen. Mit „Intellektuellen“ meine ich in diesem Zusammenhang keine elitäre Gruppe, welche mittels Wissen eine bestimmte Funktion in Herrschaftsordnungen ausübt. Ich meine eine Rolle, die Menschen bewusst einnehmen und auch wieder verlassen können. Diese Rolle besteht darin, einer bestimmten sozialen Gruppe Reflexion über ihre eigene Position in der Gesellschaft zu ermöglichen, ihre Anliegen zu artikulieren, sie damit als soziale Gruppe zu integrieren und – punktuell, wenn dies so vereinbart ist bzw. akzeptiert wird – für sie zu sprechen. Auch wenn dies bestimmte Voraussetzungen hat und viele Menschen wenig Lust auf diese Rolle haben, kann sie rotieren und auch über Einzelpersonen hinaus organisiert werden.

** Unter „Militanz“ werden oftmals Gewalthandlungen, bspw. in Ausschreibungen bei Demonstrationen oder durch direkte Aktionen, mit denen etwas zerstört wird verstanden. Das Wort „militant“ kommt aus dem militärischen Sprachgebrauch und verkörpert die Bereitschaft zum Gebrauch von Gewalt. Tatsächlich geht militantes Verhalten und Handeln aber weit über einen Glasbruch oder eine Rangelei mit den Bullen hinaus. Ebenso wenig ist es primär mit „terroristischen“ Handeln zu assoziieren. In meiner Vorstellung bedeutet Militanz eine kämpferische Haltung gegenüber der bestehenden Herrschaftsordnung einzunehmen, für andere mögliche Formen des Zusammenlebens aktiv zu werden und dabei in die Konfrontation zu gehen. Welche Form die Konfrontation annimmt, liegt dabei nicht allein in der Entscheidung der Militanten, sondern ist ebenso von Rahmenbedingungen und ihren Gegner*innen abhängig. Entscheidend ist jedoch, gesellschaftliche und unmittelbare Konflikte aufzugreifen und in sie von einer bestimmten Position aus intervenieren und mit einer bestimmten Perspektive vorantreiben zu wollen. In diesem Sinne sollte eine anarchistische Theorie-Zeitschrift meinem Dafürhalten nach militant sein.

*** siehe: https://direkteaktion.org/und-wieder-andere-wege-gehen/


Fussnoten:

[1] https://edition-espero.de/

[2] http://www.edition-av.de/ne_znam.html

[3] https://direkteaktion.org/

[4] https://www.graswurzel.net/gwr/

[5] https://autonomesblaettchen.noblogs.org/

[6] https://tsveyfl.blogspot.com/p/start.html

[7] https://fda-ifa.org/gaidao/

[8] https://www.fifthestate.org/

[9] http://www.arivista.org/