Schreiben: Harakiri. Über Bernward Vespers Romanessay. Der Verlag J. C. Martin

Gesellschaft

Vor fünf Jahren fing ich an, nach allem zu suchen, was über Bernward Vesper geschrieben worden ist. Manisch.

Das Monopteros im Englischen Garten von München, Oktober 2013.
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Das Monopteros im Englischen Garten von München, Oktober 2013. Foto: marsupium photography (CC BY-SA 2.0 cropped)

30. September 2021
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Korrektur
Auslöser war, so erzähle ich es mir heute, Auslöser war die Entschleierung des Monopteros, der ein Jahr lang, von 2015 bis 2016, sanierungsbedingt von einer Plane verdeckt wurde. Als ich eines Spätsommernachmittags am Eisbach entlang durch den Englischen Garten ging – die Luft war schon angenehm kühl, die Farben blichen allmählich aus, alles wurde ein wenig weicher, die Schatten tiefer, die Lichter verheissungsvoller –, muss ich mich wieder daran erinnert haben, wie Burton und der Ich-Erzähler der Reise dort oben einen Meskalin-Trip einwarfen … der „dunkle, feuchttropfende Englische Garten“, der „Nebel in den fast schwarzen, vom Tau nassen Isarwiesen“, der „blasse Mond“, die Kuppeln des Monopteros, die „ganz plastisch vor den schwarzen Samtstoff des Himmels“[1] traten … Ich fing also an, die einschlägigen Bücher von Henner Voss, Michael Kapellen und Gerd Koenen zu lesen.

Darauf folgten viele ruhige und langsam dahinfliessende Stunden, in denen ich mich in der Stabi durch den Bestand an Sekundärliteratur arbeitete. Bei dieser Recherche stiess ich auf eine Monographie von J. Christoph Martin mit dem Titel „Schreiben: Harakiri. Über Bernward Vespers Romanessay Die Reise“. Hundertundzwei maschinengeschriebene Seiten, 1982 veröffentlicht im Verlag J. C. Martin. Keine ISBN-Nummer. Vorhanden waren drei Exemplare: in der Staatsbibliothek München (das hielt ich in der Hand), der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und der British Library St. Pancras in London.

Es handelte sich nicht um eine Dissertation oder so, die Untersuchung war von einem, wie es in der Einleitung hiess, „ausgesprochen psychologisch-biographischen Interesse“ an der Person Vespers motiviert. Der Autor hatte dafür sogar mit Klaus Dörner und Elken Lindquist im August 1979 ein Interview geführt. Enthalten waren zudem die „philosophischen tagebücher“ B. Vespers, die in die „Ausgabe Letzter Hand“ von 1980 nicht mit aufgenommen wurden.[2] Dieses wirre Zeug aus dem Eppendorfer Nachlass musste er im Deutschen Literaturarchiv Wort für Wort transkribiert haben.

Meine Google-Suche – „J. C. Martin“, „J. Christoph Martin“, „Johann Christoph Martin“ zusammen mit „Bernward Vesper“ und „Horben“ – war erfolglos: Sein Buch war die einzige Spur, die er im Internet hinterlassen hatte. Die Adresse des Verlags stand auf dem Schmutztitel, also fragte ich Martin postalisch an, ob er seine Monographie nicht auf irgendeine Weise wieder zugänglich machen wolle (etwa im Nautilus Verlag). Auf diesen Brief habe ich nie eine Antwort erhalten. Die Sache liess mich nicht los. Von der Argumentationsweise, vom Schreibstil her schätzte ich das Alter des Autors auf Anfang Dreissig, er musste also um die siebzig Jahre alt sein. War er schon tot?

Mir fielen drei Möglichkeiten ein, um an seine Kontaktdaten zu kommen: Klaus Dörner, Elken Lindquist und das Marbacher Literaturarchiv. Klaus Dörner wurde – das nahm ich sogar am Telefon wahr – sofort melancholisch, als ich den Namen seines Freundes Bernward Vesper erwähnte, den er, der verdienstvolle und weitsichtige Psychiater, damals aus dem Nervenkrankenhaus München-Haar zu sich nach Hamburg-Eppendorf verlegt hatte.[3]

Ja, es sei jemand hier gewesen, sagte er, das sei schon sehr lange her, er habe ihn zu Vesper befragt, aber seine Adresse besässe nicht. Elken Lindquist, die letzte Freundin von Vesper, bevor er sich am 15. Mai 1971 das Leben nahm, war unter ihrer Telefonnummer, die mir Gerd Koenen freundlicherweise mitgeteilt hatte, nicht zu erreichen. Auch die Marbacher Archivabteilung konnte mir bei meiner Anfrage nicht weiterhelfen. Zwar war ein J. Christoph Martin vermerkt, es lag jedoch weder eine Telefonnummer noch eine Adressänderung vor.

2019 erschien die Bibliographie in dem Sammelband von Julian Reidy und Thomas Richter Bernward Vesper – Neue Perspektiven der Forschung. Die Sache interessierte mich nicht mehr. So ist es immer: Man publiziert, um zu vergessen.

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich habe ihr dieses Jahr ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Und so kam ich am 8. September gegen halb zwölf in Horben an, einem kleinen Kaff im Südschwarzwald, ganz in der Nähe von Freiburg. Die Sonne brannte, es war einer der letzten heissen Spätsommertage. Am Rathaus gab es eine Art schwarzes Brett, Informationen, Bekanntmachungen, Hinweise auf Veranstaltungen und ähnliches; früher hatte hier, wie zu lesen war, die Route der badischen Revolutionäre entlanggeführt. Gegenüber des Rathauses gab es einen Brunnen, ich wusch mir Kopf und Nacken, dann ging ich die Dorfstrasse hinunter.

Die Hausnummer 33 existierte nicht; dort, wo sie sein sollte, war nur eine steil abfallende Wiese. Ein älterer Mann machte sich an einem Zigarettenautomaten zu schaffen. Ich bat ihn um Hilfe. Nein, wo die Nummer 33 sei, wisse er leider auch nicht. Um wen es denn gehe, fragte er, er kenne die meisten Leute im Dorf. Aber den Namen von J. Christoph Martin hatte er nie gehört. Was sollte ich tun? Das Rathaus öffnete erst um 14 Uhr, ich hatte noch gut zwei Stunden zur freien Verfügung. Ich installierte mich hinter der Feuerwehr auf offener Wiese. Man hatte einen weiten Blick: Ich sah Freiburg, dahinter die Vogesen, ich dachte an Georg Büchner, ich dachte an Lenz. Ich begann zu lesen.

Ich hatte mir, zusammen mit einer Radwanderkarte Freiburg und Umgebung (eine Wanderkarte war nicht vorrätig), Der falsche Gruss von Maxim Biller in einer Buchhandlung gekauft, eine ausgezeichnete Erzählung, aber während des Lesens ging mir irgendwann auf, dass Vesper für Maxim Biller bestimmt nur der Prototyp des „Linksrechtsdeutschen“ gewesen wäre ... Der alte, ausgetretene Analysepfad also wieder: Vesper, der Sohn eines Nazi-Dichters, der sich in seiner literarischen Abrechnung mit der Elterngeneration als linker Faschist geriere, der in der Reise, wie Frederick A. Lubich bereits 1987 geschrieben hatte, „eine Konversion der von der extremen politischen Rechten zur extremen politischen Linken“, mithin „nicht eine Befreiung von der Vergangenheit (…), sondern vielmehr ihre Rekapitulation unter ideologisch umgekehrten Vorzeichen“[4] gestalte. Aber das war natürlich Unsinn. Mehr noch, präziser: Mit dieser „ideologiekritischen Äquivalenz wird selbst Politik gemacht, denn offenbar dominiert diese Art elaborierter Simplifizierung die Sekundärliteratur und publizistischen Diagnosen nicht nur aus einem Mangel an konkurrierenden plausiblen Erklärungsansätzen.“[5]

Der Bürgermeister war noch nicht da. Ich zeigte einem Mitarbeiter die Adresse des Verlags J. C. Martin: Im Dorf 33, D-7801 Horben. Er konnte mir bestätigen, dass ich hier richtig sei: Die Strasse „Im Dorf“ sei in „Dorfstrasse“ umbenannt worden und bei der alten Postleitzahl handele es sich in der Tat um jene von Horben. Ein etwas älterer Mitarbeiter kam ins Büro und liess sich den Schmutztitel der besagten Monographie von mir zeigen (ich hatte eine Kopie dabei). Es könne sich eigentlich nur um Professor Martin handeln, sagte er nach einer Weile; er arbeite zwar eher zur deutsch-polnischen Beziehung, sei seines Zeichens also Historiker, aber ich solle es doch einmal bei ihm probieren, er wohne gleich hier im Ort.

Die Adresse war kaum fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich vergeblich nach der Hausnummer 33 gesucht hatte. Durch ein kleines Gatter betrat ich das Grundstück. Auf dem Klingelschild war „B. Martin“ zu lesen. Hatte er für die Publikation seinen Vornamen geändert? War B. der Bruder von J. C.? Oder handelte es sich um eine blosse Koinzidenz, zwei Martins im selben Hundert-Seelen-Dorf? Ich schellte. In dem Haus war kein Laut zu hören. Ich schellte ein zweites Mal. Leise entfernte ich mich, schuldbewusst, fast erleichtert, dass niemand geöffnet hatte, und kehrte in ein Restaurant ein, das gleich um die Ecke war.

Während ich dort einen Kaffee trank, beobachte ich einen Mann, der einen Bauernsalat ass und dabei ein Buch las. Er hatte mittellange, weisse Haare, eine runde Brille, war ungefähr Mitte sechzig. Er erinnerte mich ein bisschen an Norbert Meder, meinen alten Pädagogik-Prof an der Universität Duisburg-Essen, vor Ewigkeiten hatte ich bei ihm mal ein Seminar über Benjamins Reproduktionsaufsatz und Marcuses kunsttheoretische Schriften besucht. Diese Assoziation servierte mir wie auf dem Tablett: Hierbei könnte es sich um die Zielperson handeln. Nach dem Essen bestellte er sich einen Espresso – ohne Zucker –, auch das passte zu einem Akademiker. Aber ich wollte ihn nicht ansprechen. Ich wollte ihm auch nicht folgen, als er dann zahlte und aufstand (er ging tatsächlich in die Richtung, aus der ich vorhin gekommen war).

Ich beschloss, ihm ein kurzes Anschreiben mit meiner Adresse zu hinterlassen. Als ich dann ein paar Zeilen an „Herrn Martin“ auf das inzwischen stark mitgenommene Blatt niederschrieb – dieselben dämlichen Sätze, die ich vier Jahre zuvor per Post nach Horben geschickt hatte –, kam mir das alles, was ich hier unternahm, völlig sinnlos vor. Ich wusste nicht mehr, was ich mir davon überhaupt erwartete. Letztlich war es mir egal, ob das Buch neu verlegt wurde; ich hatte das ausserdem gar nicht zu entscheiden, es musste sich zunächst ein Verlag finden, der es veröffentlichen wollte. Nein, es ging gar nicht mehr darum, und vielleicht war es auch vorher gar nicht darum gegangen.

Es ging nur noch darum, nach jemanden zu suchen, der unauffindbar, der offenbar verschollen war wie Bas Jan Ader. Auf rätselhafte, mir selbst nicht bewusste Weise schien sich mein philologischer Eifer, diese manische Suche nach allen Texten über Bernward Vesper, auf J. Christoph Martin verschoben zu haben. Es war sein Schicksal, dem ich nachgehen wollte, nicht jenes, das längst schon, wie Mathias Brandstädter schreibt, zum „Verkaufsschlager“ avanciert ist – „zur unvermeidlichen Projektionsfläche ästhetischer Gehversuche und Ausflüge jeglicher Couleur.“[6] Um die Sache abzuschliessen, ging ich dennoch zurück zu dem Haus, wartete einen Moment – alles unverändert still –, warf den Zettel in den Briefkasten und wanderte weiter zum Schauinsland hinauf.

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag kam ich in München an. Ich legte mich schlafen. Am nächsten Tag war ein Brief von Bernd Martin im Briefkasten. Darin: das Blatt, das ich bei ihm eingeworfen hatte, mit dem Vermerk: „Irrläufer – Bernd Martin. 9.9.21“. Darunter: der Stempel seiner Fakultät. (Fast überflüssig zu sagen, dass ich ihm noch eine Email schrieb, die Umstände erklärte, ihn, falls er wüsste, um wen es sich handelte, um Rückmeldung bat – sie blieb ohne Antwort).

Irrläufer – es bleibt nur dieses eine Wort. Was ist ein Irrläufer? Zunächst natürlich ein fehlgeleitetes Schriftstück. Und bezogen auf einen Menschen? Jemand, der vom Weg abkommt, der in die Irre läuft. Wie Bernward Vesper.

M. A. Sieber

Fussnoten:

[1] Bernward Vesper: Die Reise. Romanessay. Ausgabe letzter Hand. 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 42ff.

[2] In der Editions-Chronologie heisst es dazu nur: „Wir haben das Material gelesen, eine Auswahl könnte die bekannte Diskussion über Vesper nur verlängern. Für eine vollständige Veröffentlichung stehen die Texte nicht. Jörg Schröder, Klaus Behnken, August 1980“

[3] „Er [Vesper] geriet Anfang 1970 [es war 1971] – unklar, ob mit oder ohne LSD-Zusammenhang – in einen schweren und expansiven paranoid-halluzinatorischen Zustand, wurde nach München-Haar zwangseingewiesen und kam von dort erst auf geschlossene, dann auf offene Abteilung der Hamburger Klinik. Die Psychose klang ab, und im selben Masse fühlte er sich auf der offenen Station unwohler, beeinträchtigt durch Psychopharmaka und vor allem sich quälend mit der Frage, die er an alle richtete: „Psychose? Wenn in meinem Kopf etwas krank geblieben ist und ich nicht mehr schreiben kann, dann ist alles aus.“ Alle sprachen mit ihm, beruhigten ihn: Psychiater, Schwestern, Pfleger, Psychologen. In dieser Situation verliess er an einem Wochenende die Klinik, nahm 400 Schlaftabletten; als er gefunden wurde, war er tot.“ (Klaus Dörner: Diagnosen in der Psychiatrie. Über die Vermeidung der Psychiatrie und der Medizin. Frankfurt am Main/New York 1975, S. 137)

[4] Frederick Alfred Lubich: „Bernwards Vesper Die Reise: Von der Hitler-Jugend zur RAF – Identitätssuche unter dem Fluch des Faschismus“, in: German Studies Review Vol. 10 (1987) No.1, S. 69–94, hier: 77.

[5] Mathias Brandstädter: „Nationale Idyllik im Windschatten. Anmerkungen zu Bernward Vesper“, in: Kultur und Gespenster 1 (2006) H. 2, S. 26–32, hier: 28.

[6] Brandstädter a.a.O., S. 27.