Situation in Irland Troubles im Ruhezustand

Gesellschaft

Vor einigen Wochen in einem Pub in einem Dubliner Vorort. Nachlässig werfe ich meine Jacke über einen Stuhl, während ich mich setze. Meine irische Begleiterin nimmt die Jacke und hängt sie ordentlich über die Lehne.

Strassenpropaganda in Belfast, Irland
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Strassenpropaganda in Belfast, Irland Foto: R. Ó Murchú (CC BY 2.0)

2. April 2014
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Als ich sie fragend ansehe, zeigt sie auf den kleinen Union Jack, der als Teil des Logos in das Innenfutter genäht ist. „Hier ist es wahrscheinlich kein Problem. Aber in Derry würde ich dann schon aufpassen“, sagt sie.

Einige Tage später, am Weg nach Belfast, trenne ich die britische Flagge heraus und werfe sie weg. Das war, wie ich bald feststellte, auch keine schlechte Idee. Im Norden Irlands sind die Auseinandersetzungen zwischen irisch-republikanischen und loyalistischen bzw. britischen Kräften trotz Friedensprozess und relativer Ruhe während der letzten anderthalb Jahrzehnte überall präsent. Und spätestens als ich in Derry auf ein Pint ins Bogside Inn ging, war ich froh, dass sich keine Insignien der britischen Kolonialherren mehr an meiner Kleidung befanden, die versehentlich hervorblitzen hätten können.

In der Bogside begann vor 45 Jahren jene Phase des jahrhundertlangen irischen Kampfes gegen die britische Herrschaft, die gemeinhin als „Troubles“ bezeichnet werden. Angriffe der Royal Ulster Constabulary (RUC) sowie loyalistischer Gruppen auf friedliche Demonstrationen der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) führten im Jahr 1969 zu einer Eskalation, die auf andere Städte im Norden Irlands übergriff. Im August 1969 wehrten BewohnerInnen der Bogside die Attacke von Loyalisten und RUC-Polizei ab. In anderen Städten kam es ebenfalls zu Kämpfen. Angriffe auf RUC-Stationen in Belfast etwa sollten Polizeikräfte binden und so eine Entlastung für BarrikadenkämpferInnen der Bogside bringen. Damals erkämpften die BewohnerInnen des Viertels einen Sieg. Die britische Armee löste die geschlagene RUC ab, die Bogside blieb für knapp drei Jahre eine von der IRA kontrollierte „no go area“ für britische Soldaten und Polizisten.

1972 machten die britischen Repressionskräfte dem politischen und sozialen Experiment, das in „Free Derry“ und anderen Teilen von Städten im Norden Irlands entstand, ein Ende. Auf den Bloody Sunday im Jänner, bei dem britische Fallschirmjäger 13 TeilnehmerInnen eines friedlichen Marsches der Bürgerrechtsbewegung erschossen, folgte im Juli 1972 die „Operation Motorman“: die britische Armee rückte in die republikanisch kontrollierten Teile Derrys und Belfasts vor. Es folgten Jahrzehnte der Gewalt, die schliesslich in die politischen Kompromisse der 1990er Jahre mündeten.

Seit damals ist es weitgehend ruhig, sieht man von gelegentlichen Anschlägen von republikanischen Splittergruppen wie der Continuity IRA oder der Real IRA ab. Doch wenn man durch die Strassen Derrys und West Belfasts geht, hat man das Gefühl, dass der Konflikt nur unterbrochen, aber noch lange nicht vorbei ist. Politische Wandbilder prägen das Bild der republikanischen, aber auch der loyalistischen Viertel. Die historischen Ereignisse stehen bei den Murals im Vordergrund: Erinnerungen an den Osteraufstand 1916, an den Bloody Sunday oder an den Kampf der republikanischen Gefangenen um den Status als politische Häftlinge. Neben aktuellen Bezügen in den Bildern sind es vor allem Graffitis, Poster und Aufkleber auf den Strassen Derrys und Belfasts, die deutlich machen, dass der Konflikt schwelt.

Auch in Gesprächen mit Einheimischen wird die Präsenz sowohl der Ereignisse seit den 1960er Jahren, als auch deren aktuelle Relevanz deutlich. In Derry etwa werden die Ereignisse des 30. Jänner 1972 derzeit erneut aufgerollt. Nachdem eine Untersuchungskommission 2010 zu dem Schluss gekommen war, dass die Schüsse der britischen Soldaten – wie es der britische Premierminister David Cameron formulierte – „ungerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen“ waren und sich die britische Regierung bei den Angehörigen der Opfer entschuldigte, war für die meisten Beteiligten die Sache abgeschlossen.

Einige Familien strengen nun aber eine strafrechtliche Untersuchung an. Glenn Doherty, Sohn eines der 13 am Bloody Sunday Getöteten, erklärt mir, dass seine Familie dieser neuerlichen Untersuchung skeptisch gegenüberstehe. Mit der offiziellen Erklärung von 2010 hätten sie soviel „Gerechtigkeit“ erfahren wie angesichts der Umstände möglich sei. Die nunmehrige juristische Aufarbeitung sei eher ein Rückschritt, da mit den Ermittlungen gegen einzelne Befehlshaber des 30. Jänner 1972 gewissermassen eine Entlastung der britischen Behörden als institutionell Verantwortliche für die Todesschüsse verbunden sei. Zudem habe seine Familie kein Vertrauen in das britische Justizsystem, so Doherty.

Der Kampf gegen die jahrhundertlange britische Herrschaft ist in ganz Irland präsent – in der Republik wie im Norden. An jeder Ecke findet man ein Denkmal oder eine Erinnerungstafel, die an Aufstände und Repression, an Helden und Opfer erinnern. Allein die jüngste Geschichte dieses Kampfes prägt nun schon zwei oder drei Generationen und drang in dieser Zeit in alle Bereiche des privaten und öffentlichen, des politischen und kulturellen Lebens ein.

Eine der prägnantesten popkulturellen Darstellungen des Alltagslebens im Belfast der „Troubles“ ist nach wie vor das erste Album der Stiff Little Fingers. Zufällig spielt die Band gerade, als ich in der Stadt bin. In der mehr als 150 Jahre alten Ulster Hall im Zentrum der Stadt versammeln sich an einem Freitag abend Mitte März hunderte Punks und Skins und Metaller und ganze normale Menschen zwischen 16 und 60 Jahren. Immerhin handelt es sich bei den Fingers um die grösste und altgedienteste Band der Stadt. Und alle singen mit, als Sänger Jake Burns als letzte Zugabe endlich „Alternative Ulster“, die heimliche Hymne dieses Teils der Insel, anstimmt:

„What we need is an Alternative Ulster

Grab it and change it it's yours
Get an Alternative Ulster
Ignore the bores and their laws
Get an Alternative Ulster
Be an anti-security force
Alter your native Ulster
Alter your native land“

Karl Schmal / lcm