Das kapitalistische Subjekt im Hamsterrad zwischen illegalen Drogen und legalen Pillen In süchtiger Gesellschaft

Gesellschaft

Sucht ist real. Die diesbezüglich zentralen Institutionen des Westens (Weltgesundheitsorganisation/WHO, Vereinte Nationen/UNO) sowie die meisten Länderinstitutionen akzeptieren sie als Tatsache.

Arbeiten im Reichtum (3 und 7), Hamburger Kunsthalle, 1983.
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Arbeiten im Reichtum (3 und 7), Hamburger Kunsthalle, 1983. Foto: Stephan Huber (CC BY-SA 3.0 cropped)

23. Juli 2014
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Millionen fliessen in die »Therapie« von »Süchtigen« und die Bekämpfung des Handels mit »Drogen« und – weniger – des illegalisierten Glücksspiels. Weitaus weniger fliesst auch in die Prävention, dem Zauberinstrument, das, würde es adäquat umgesetzt, die vielen Millionen einsparen könnte, damit ihr Süchte verhindert oder zumindest vermindert werden könnten. [1] Sucht ist also eine gesellschaftliche Tatsache. Menschen leiden an ihr, Ärzt_innen diagnostizieren sie, Kliniken behandeln sie und die Kassen zahlen.

Woraus besteht nun diese Tatsache Sucht? Für ihre Feststellung werden international zwei Systeme herangezogen, das Diagnostisch-statistische Manual (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) und die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) der WHO, die sich in ihren Definitionen sehr ähneln. Hauptmerkmale einer Sucht sind dort: Kontrollverlust, starker Konsumdrang, Toleranzentwicklung, Entzugssymptome, Vernachlässigung von Interessen und Pflichten und Fortsetzen des Konsums trotz schädlicher Folgen.

Selektive Wahrnehmung als Grundbedingung für Sucht

Diese Definitionen treffen de facto allerdings nur auf einen kleinen Teil von Konsummustern und Substanzen zu. Nun gelten die psychiatrischen Definitionen von Abhängigkeit allerdings auch für Cannabis, Halluzinogene, Kokain, Amphetamine, Nikotin und sogar Koffein, Substanzen also, die von ihrer pharmakologischen Wirkung her nicht nachhaltig in den Neurotransmitterhaushalt eingreifen. Eine Toleranzentwicklung und körperliche Entzugserscheinungen konnten beispielsweise für Cannabis noch nicht schlüssig nachgewiesen werden. [2] Paten für diese Definitionen von Sucht waren bestimmte Konsummuster bestimmter Konsument_innen von Alkohol und Opiaten (Morphium, Heroin). Diese Substanzen greifen zwar tatsächlich derart in das Zentralennervensystem ein, dass sich eine Toleranz entwickelt (also eine Gewöhnung, die eine Dosissteigerung zur Effekterhaltung bedingt) und bei Absetzen Entzugserscheinungen auftreten: Das Neurotransmittersystem ist aus dem Gleichgewicht, da die Substanz Funktionen übernommen hat und das System Zeit braucht, diese wieder selbst auszuführen; die Zeit bis zur Wiederherstellung kann extrem unangenehm sein. Trotzdem gibt es beim Alkohol nur einen kleinen Prozentsatz von Konsument_innen, die die Kontrolle über ihren Konsum dauerhaft verlieren oder aufgeben.

Kontrollierten Konsum von Opiaten und Opioiden [3] gibt es ebenfalls, allerdings ist diese Tatsache wenig bekannt. [4] Das liegt zum einen an der Illegalität der Substanz und ihrem (mythisierten) Ruf als härteste Droge. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass das Drogenhilfesystem und die Wissenschaft sich nur auf die klassischen Süchtigen konzentrieren. Die in diesen Feldern Tätigen konstruieren mit jenem exklusiven Blick einen Prototyp, der für Opiatkonsum allgemein steht. Der Rest der Konsumierenden ist unsichtbar oder verschwindet bis zur Leugnung. Unter den herrschenden Bedingungen ist dies jedoch nicht nur von Nachteil, da sie so auch nicht zur Zielgruppe von Interventionen werden.

Anliegen dieses Textes ist es, die scheinbare Wahrheit der Krankheit Sucht zu hinterfragen und zu kritisieren. Dafür ist es notwendig, gegenseitige Durchdringungen kultureller und wissenschaftlicher Diskurse aufzuzeigen. Des Weiteren soll sichtbar gemacht werden, welcher andere Diskurs dabei unter die Räder kommt, nämlich der subjektwissenschaftliche. Alles scheint gesagt zum Suchtpotential von Substanzen, zur Suchtpersönlichkeit, zu Biologie und Genetik, zur Krankheitsdynamik von Sucht. Schweigen herrscht hingegen um die jeweils subjektive Sinnfrage süchtigen Verhaltens bzw. von Drogenkonsum allgemein. Schweigen herrscht infolge auch über die gesellschaftlichen Bedingungen und Bedeutungen, die Sucht mitkonstruieren, oder präziser: es für die Subjekte sinnhaft machen, Drogen zu konsumieren und auch süchtig zu konsumieren.

Psychiatrie im Neoliberalismus

Während die klinischen Klassifikationssysteme bei den Entzugserscheinungen auf der Körperlichkeit beharren, sind die Praktiker_innen schon weiter. Sie wenden die klassischen Kriterien auf prinzipiell alles an, vom Cannabisrauchen über die Kauf-, Arbeits- und Sexsucht bis hin zur Onlinesucht. Die hehre Wissenschaft hinkt somit den Bedürfnissen der Praxis hinterher. In der demnächst erscheinenden aktualisierten Version des DSM ist das Glücksspiel hingegen schon von den Störungen der Impulskontrolle zu den Abhängigkeitserkrankungen gewandert. Das ICD wird spätestens mit der nächsten Aktualisierung nachziehen. Zusätzlich haben sich verschiedene wissenschaftliche Institute, Forscher_innen und Kliniken auf diese neuen Süchte spezialisiert und veröffentlichen regelmässige Berichte und Studien (beispielsweise das österreichische Anton-Proksch-Institut oder die Berliner Charité). [5]

In diesen Veröffentlichungen soll aufgezeigt werden, dass die klinisch-psychiatrische Suchtdefinition von ursprünglich ausgewählten substanzgebundenen Verhaltensweisen auf das gesamte Verhaltensrepertoire des Menschen ausgedehnt wurde und alle Sphären einschliesst: die Produktion (Arbeitssucht, Neuroenhancement, s.u.), die Konsumption (Kaufsucht, Online-Shopping) und die Reproduktion (Sex-Sucht, Social-Media-Sucht, Spielsucht). So wie der Kapitalismus immer mehr Sphären kolonisiert und gestaltet, hat sich auch parallel die Psychiatrie (und die klinische Psychologie) neoliberalisiert: Wo die Grenzen zwischen privat und öffentlich bzw. zwischen Lohnarbeit und Freizeit sich (zumindest für gewisse Schichten und Berufsgruppen) auflösen und alles zur Produktion wird, aus allem Kapital geschlagen werden kann/soll/muss, erweitert sich auch ein gewisser Blick, der Blick der Psychiatrie.

Dieser nimmt die Trennung vor zwischen dem normalen Verhalten, also jenem, das sich dem stummen Zwang der Verhältnisse unterordnet, vom pathologischen, also kranken Verhalten, das die Kontrolle über Arbeit, Sex, Kaufen, Spielen, Konsumieren, Schlucken, Spritzen verloren hat, aufgegeben hat oder gar nicht haben will. Auch bei anderen klassischen psychiatrischen Störungen, wie der Bipolaren Störung und besonders der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), wurden in den letzten Jahren sukzessive Diagnosekriterien gelockert und somit der psychopharmakologische Absatzmarkt ausgeweitet. Dieser Aspekt darf bei der Analyse des Anstiegs an psychischen Störungen nicht vernachlässigt werden. [6]

Je zentraler diese Funktion der Unterscheidung zwischen systemerhaltendem und systemstörendem Verhalten im totalen Kapitalismus wird, desto wichtiger wird die Psychiatrie, die mit legalen Substanzen das Funktionieren der Subjekte (scheinbar) unterstützt und steuert und Probleme mit illegalisierten Substanzen oder unerwünschten Verhaltensweisen aufzeigt und der Behandlungssphäre zuführt.

So wird unter dem Stichwort Neuroenhancement der Einsatz von Psychopharmaka zur Steigerung der kognitiven und emotionalen Leistungsfähigkeit vorangetrieben. Gleichzeitig werden jene, die der Leistungsmaxime nicht (mehr) folgen können/wollen, psychopharmakologisch beim Durchhalten unterstützt. Jene hingegen, die den Anforderungen überhaupt nicht (mehr) gewachsen sind und – vorübergehend oder dauerhaft – aus dem Arbeitskraftverwertungsprozess sich verabschieden, werden in spezialisierten Einrichtungen oder zuhause ruhig gehalten. Das sie umschliessende Hilfesystem agiert mitleidig-verständnisvoll und massiv regelnd gleichzeitig, je nachdem, wie die psychische Erkrankung, die die Subjekte befallen hat, und ihre Behandlung es verlangen. [7] So gilt das Abhängigkeitssyndrom (ICD-10) zwar an sich schon als psychische Erkrankung, allerdings wird dieses oft nur als sekundäre Störung bewertet, der eine primäre zugrunde liegt, z.B. Depression, bipolare Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie etc.

Sucht: Von der Sünde zur Krankheit

Das Krankheitsmodell von Sucht ist Voraussetzung für die Zuständigkeit des klinischen Bereichs (Psychologie, Psychiatrie, Medizin). Dieses ist der vorläufige (allerdings nicht uneingeschränkt gültige) Endpunkt einer längeren Entwicklung des Blicks auf dieses Phänomen, das beispielsweise Sucht als göttliche Strafe, als Charakter- bzw. Willensschwäche, als Vulnerabilität/Schicksal und eben Sucht als Krankheit, zuerst als rein körperliche und schliesslich auch als psychische, umfasst. [8]

In den diversen wissenschaftlichen und praxisorientierten Modellen zur Erklärung und Vermittlung von Sucht finden sich verschiedene dieser Blicke in Form gegossen wieder, so beispielsweise »Sucht als Schicksal« in der sogenannten Suchtspirale, die, gleich der mythischen Charybdis, das sich rational meinende Subjekt in ihre Dynamik zieht und in den Untergang reisst. »Sucht als Willensschwäche« könnten wir im Klaviermodell [9] erkennen, das postuliert, dass immer mehr Interessen und Möglichkeiten aufgegeben werden und nur mehr eine Taste gespielt wird. »Sucht als Schicksal/Vulnerabilität« taucht im Ansatz »einmal süchtig, immer süchtig« auf, wie ihn beispielsweise die Anonymen Alkoholiker verfolgen. [10]

Modelle aus der Wissenschaft, die ebenfalls die unheilvolle Dynamik von Sucht aufzeigen bzw. konstruieren sind unter anderem die Gateway- und die Stepping-Stone-Theorie, wobei erstere postuliert, dass bestimmte Substanzen das Tor öffnen zum intensiveren und problematischeren Konsum (z.B. Cannabis als Einstiegsdroge), während letztere das – abstinenzgeleitete – Bild entwirft, dass der Konsum einer Substanz zum Konsum der nächsten und nächsten usw. führt und somit schon das Zigarettenrauchen problematisiert.

Schliesslich gibt es noch die exposure theory, die besagt, dass die Konfrontation mit einer Substanz das Subjekt (bzw. die Ratte, da die Theorie auf Rattenexperimente fusst) ihrer Wirkung unterwirft und in die Dynamik der Abhängigkeit treibt. Bruce K. Alexander hat zur Überprüfung dieser These seine leider grossteils vergessenen grossartigen »Rattenpark-Experimente« durchgeführt: Er hinterfragte die behavioristischen Untersuchungen zu Sucht an Ratten dahingehend, ob nicht auch bei diesen Nagetieren das Setting, also die soziale Situation, eine entscheidende Einflussgrösse sei. Die Ratten aus seinem aufwändig und mehr als artgerecht gestalteten »Rattenpark« verlernten in dieser für sie angenehmen Umgebung sehr schnell den opiatinduzierten Belohnungsmechanismus.

»Gelernte« Sucht: Psychologische Grundlagentheorien

Den hier beschriebenen klassischen Suchtmodellen liegen zumeist psychologische Lerntheorien zugrunde. [11] Diese besagen, dass sich Verhaltensweisen verfestigen, weil wir dafür belohnt werden oder zumindest einer Bestrafung entgehen können. Diese Prozesse vollzögen sich gewissermassen automatisch, auf hirnphysiologischer Ebene. [12] Das lässt sich auf Sucht mehr als optimal anwenden: Die Droge stimuliert mein Belohnungszentrum, und die Lust, die ich dabei erlebe, will ich bzw. mein Körper wieder und wieder erfahren. Sobald ich dann abhängig bin, ist das Lusterleben spärlicher und das Vermeiden von Unlust (Entzugssymptome) tritt in den Vordergrund. Die Lerntheorien der klassischen Psychologie sind exemplarisch für die Ausklammerung des Subjekts: Der Mensch ist kein Zoon Politikon, sondern lediglich ein sehr komplexes Tier, das anhand der Pole Lust/Unlust mit anderen und der Umwelt interagiert. Klaus Holzkamp hat aus marxistisch-subjektwissenschaftlicher Perspektive die klassischen Lerntheorien kritisiert und reinterpretiert. [13]

Einspruch der Kritischen Psychologie: Vom Kopf auf die Füsse

Die Sicht der marxistisch-subjektwissenschaftlichen Psychologie, kurz: Kritischen Psychologie, auf menschliches Verhalten ist geprägt von der Annahme, dass Menschen sinnvoll handeln. Nicht absolut sinnvoll, also durchgängig und objektiv vernünftig, aber sie haben immer Gründe für ihre Handlungen. Diese Gründe sind nicht immer ersichtlich, auch nicht für die Subjekte selbst, sie müssen rekonstruiert werden. [14] Anders als die Psychoanalyse, die die Subjektkonstitution aus der Rekonstruktion der Vergangenheit heraus sichtbar machen will, zieht die Kritische Psychologie aktuelle gesellschaftliche Konstellationen und Bedingungen als Grundlage für die Analyse heran. In der Kritischen Psychologie gelten Emotionen als eine subjektive Wertung der Gesamtsituation des Subjekts in der Gesellschaft – »Aspekte der Weltauseinandersetzung« [15] –,?Handlungsbegründungen werden nur mit den Subjekten und von ihrem Standpunkt aus analysiert. Psychologische Forschung kann dergestalt nicht eine Instanz über den Subjekten sein, sondern diese werden zu Mitforscher_innen.

Die Erweiterung von Handlungsfähigkeit

Die Kritische Psychologie geht davon aus, dass der Mensch Gesellschaft bildet, ja bilden muss und auch bilden will. Die Verfügung über die Bedingungen seiner Existenz ist dem Menschen ein »zentrales Lebensbedürfnis«. [16] In den gegebenen Herrschaftsverhältnissen bieten sich den Menschen grob gesagt zwei Kategorien von Handlungen: solche, die im Zusammenschluss mit anderen die kollektiven Bedingungen für individuelles Handeln erweitern (»verallgemeinerte Handlungsfähigkeit«) und solche, die allein oder mit einer bestimmten Gruppe eine eingeschränkte Bedingungsverfügung bieten oder versprechen (letztlich auf Kosten anderer) oder einen blossen Handlungsrahmen ohne Bedingungsverfügung (»restriktive Handlungsfähigkeit«).

Die Verhältnisse bieten sich dem Subjekt nicht in ihrer Totalität dar, sondern als institutionell-gesellschaftliche Ausschnitte, »Bedeutungskonstellationen«, zu welchen je ich mich verhalten kann. Ich mache die diversen Handlungsmöglichkeiten, die in den gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen enthalten sind, zu meinen Prämissen (das ist nicht in einem rationalistischen Sinne zu verstehen). Wenn ich nun die Prämissen einer Person kenne, die sie sich für ihre Handlungsgründe zurechtgelegt hat, kann ich die Handlung, im subjektiven Sinne der Person, nachvollziehen. Nur wenn ich die Verständigung über die Prämissen der Handlungsbegründungen der/des anderen aufgebe oder abschneide, bleibt mir nicht viel übrig, als das Verhalten als irrational, krank, gestört zu bezeichnen.

Ein anderer Blick auf »Sucht« ist möglich

In der Kritischen Psychologie verschieben sich Konflikte zwischen Triebimpulsen und gesellschaftlichen Sanktionen, wie sie in der Psychoanalyse postuliert werden (Es versus Über–Ich), auf den konflikthaften Widerspruch zwischen prinzipiell möglicher Erweiterung je meiner Verfügungsmöglichkeiten und der Einstimmung in die herrschenden Verhältnisse und dem damit einhergehenden Verzicht auf die eigene Ermächtigung. Daraus ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten für die verschiedenen psychischen Störungen, zu denen auch die Sucht zählt.

Auf gesellschaftlich-kollektiver Ebene wurde beispielsweise in den sechziger und siebziger Jahren – oft wenig gründlich durchdacht oder auch ideologisch verdreht – versucht, die Verfügung über die Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz zu erweitern. In der Bürger_innenrechtsbewegung, der Antikriegsbewegung, der Frauenbewegung etc. wurde versucht, gesellschaftliche Verhältnisse und konkrete Zustände zu kritisieren und zu verändern. Ein gewichtiger Teil dieser Aufbruchsstimmung war auch die sogenannte Bewusstseinserweiterung, die zwar auch mit importierten Psychotechniken betrieben wurde (Meditation etc.), zum Grossteil aber doch mittels psychoaktiver Substanzen. [17] Die Reaktion des Establishments auf den sich ausbreitenden Drogenkonsum (»drug revolution«)[18] war repressiver Natur, z.B. durch Einführung oder Verschärfung von Gesetzen und deren Exekution. In der Drogenprävention wurde das Prinzip der Abschreckung verfolgt, der Junkie wurde zum Prototyp der/des Drogenkonsumierenden. Die (möglichen) Risiken von Drogenkonsum wurden als unbedingte Gefahren dargestellt, zusätzlich noch ins Extreme verzerrt: quasi-zwingender sozialer Abstieg, gesundheitlicher Verfall, Verelendung, Tod (»Horrorprävention«). [19] Das Gegenbild zur Vision des flower power wurde individualistisch pathologisierend gewendet als krankhafte und somit nicht ernstzunehmende Auswüchse eines süchtigen Organismus bzw. Gehirns.

Subjektive Veränderung plus politischer Kampf

Individuelle Gründe, warum jemand Drogen konsumiert, interessieren kaum, weder in der Suchtforschung noch in der Suchtpraxis. Der Drogenkonsum ist Ausdruck von Abweichung, Unangepasstheit, unreifer Persönlichkeit, kindlicher Traumatisierung oder dergleichen. Aus Sicht der Kritischen Psychologie hingegen ist jeder Substanzkonsum eine subjektiv sinnvolle Auseinandersetzung mit mir und meiner Situation in der Welt. Welche Gründe für Substanzkonsum existieren, kann nur mit den konsumierenden Subjekten herausgearbeitet werden.

Jeder Grund, Substanzen einzusetzen (z.B. zur Gefühlskontrolle, Gefühlsabwehr, Gefühlserzeugung, Förderung von Kreativität, aus Lust am Abenteuer, zur Steigerung der Konzentration, zur Realitätsflucht usw.), kann im Kontext restriktiver Handlungsfähigkeit angesiedelt sein, also um mich zu arrangieren, es auszuhalten, zu funktionieren oder aber im Kontext erweiterter Handlungsfähigkeit, wo ich beispielsweise zusammen mit anderen Substanzen nutze, um das Reflektieren über mich in der Welt zu erweitern oder zu verfremden. Ein zentraler Teil von erweiterter Handlungsfähigkeit für alle Substanzkonsument_innen muss der politische Kampf für das Recht auf Konsum sein, also zuallererst die Schaffung von Bedingungen, unter denen ich Substanzen legal und sicher konsumieren kann und darüber hinaus der Kampf gegen Verhältnisse, in denen der Mensch das schon oft zitierte erniedrigte, geknechtete, verlassene und schliesslich verächtliche Wesen ist. Drogenkonsum ist nicht per se emanzipatorisch oder revolutionär. Unter fremdbestimmten Bedingungen gerät Drogenkonsum leider oft zum kurzfristigen oder chronischen Versuch, die Erniedrigung, die Knechtung, das Verlassensein und Verachtetwerden auszuhalten oder zu verdrängen.

Der selbstbestimmte Konsum von psychoaktiven Substanzen kann nur dann in verallgemeinerte Handlungsfähigkeit einfliessen, wenn die Bedingungen, die meinem Konsum als Basis und Rahmen dienen, in Angriff genommen und mitbestimmt werden. Vereinzelter problematischer Konsum – im Sinne von Leid erzeugend – würde wohl auch unter den bestmöglichen Bedingungen auftreten. Aber es wäre nicht notwendig, ihn zu etikettieren, zu stigmatisieren, in eine Identität zu bannen und als störend und behandlungswürdig in einen eigenen Funktionskreis (Psychiatrie und Drogenhilfesystem) auszulagern. Stattdessen wäre (hoffentlich) genügend Raum, um auch extreme Formen individueller Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit als Teil menschlicher Ausdruckskraft und Kreativität in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu integrieren, dessen Massstab nicht mehr die Warenform wäre, sondern der Mensch.

Daniel Sanin
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 44
www.phase-zwei.org

Der Autor ist klinischer und Gesundheitspsychologe, ist u.a. in der Suchthilfe und der Suchtprävention in einem Wiener Verein tätig und betreibt die Seite www.kritischepsychologie.org.

Fussnoten:

[1] Im Folgenden wird aus Gründen der Lesbarkeit darauf verzichtet, Begriffe wie »Sucht«, »Drogen«, »Therapie« in distanzierende Anführungszeichen zu setzen. Dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass sich der Autor auch ohne die Distanzierungen im Detail von diesem inflationären Suchtappendix distanziert.

[2] Alfred Springer, Drogen und Drogenmissbrauch. Lehrerinformationen zur Gesundheitsförderung, Wien 2007, 96.

[3]Opiate sind Opiumderivate, Opioide sind künstliche Opiate.

[4] Norman E. Zinberg, Drug, Set, and Setting. The Basis for Controlled Intoxicant Use, New Haven 1984; Cristoph Strieder, Kontrollierter Gebrauch illegalisierter Drogen. Funktion und Bedeutung des Gebrauchs illegalisierter Drogen im gesellschaftlichen Kontext, Berlin 2001; Harald Klingemann/Linda Carter Sobell, Promoting Self-Change From Addictive Behaviors. Practical Implications for Policy, Prevention, and Treatment, New York 2007.

[5] http://www.api.or.at/typo3/patientinnen-info.html bzw. http://psy-ccm.charite.de/forschung/suchterkrankungen/ag_spielsucht/.

[6] Robert Whitaker, Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America, New York 2010.

[7] Burkhard Wiebel/Alisha Pilenko/Gabriele Nintemann (Hrsg.), Mechanismen psychosozialer Zerstörung. Neoliberales Herrschaftsdenken, Stressfaktoren der Prekarität, Widerstand, Hamburg 2011.

[8] Karl Wassenberg, Zur soziokulturellen Genese der Sucht, in: Aldo Legnaro/ Arnold Schmieder (Hrsg.), Suchtwirtschaft, Münster 2001, 11–25.?

[9] www.vivid.at/_pdf/4cc8126d?6c06d.pdf; http://give.or.at/fileadmin/template01/download/download_parcours/SW_Klaviermodell.pdf.

[10] http://www.anonyme-alkoholiker.de/content/03info/-?03was.php. Für eingehendere Kritik der Suchtmodelle: Daniel Sanin, Suchtprävention als (Selbst-)Disziplinierung: Auf der Suche nach den Subjekten, in: Klaus Weber (Hrsg.), Sucht, Berlin 2011, 155–180.

[11] Robert West, Theory of Addiction, Oxford 2006.

[12] Ralph J. DiLeone/Jane R. Taylor/Marina R. Picciotto, The Drive to Eat: Comparisons and Distinctions Between Mechanisms of Food Reward and Drug Addiction, in: Nature Neuroscience 10 (2012), 1330 –1335.

[13] Klaus Holzkamp, Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt a.M. 1995.

[14] Ders., Grundlegung der Psychologie, Frankfurt a.M. 1985, 495 ff.

[15] Ebd., 297.

[16] Ebd., 287.

[17] Siehe dazu exemplarisch: Timothy Leary, The Politics of Ecstasy, New York 1968.

[18] Zinberg, Drug, Set, and Setting, 189.

[19] Stephan Quensel, Das Elend der Suchtprävention, Wiesbaden 2004, 24 ff. Die Republik Österreich brachte 1973 eine Briefmarke heraus, die diese Logik sehr schön illustriert: Über einem Frauengesicht, das zur Hälfte aus einem Totenschädel besteht, prangt der Satz »HALT! Rauschgift ist Selbstmord«. Siehe http://www.kosel.com/c/sh/d.p?l=de;0=AT1441SP;r=173.