In Zeiten wie diesen? Als ich Kind war

Gesellschaft

Persönliche Erinnerungen anlässlich der in Österreich verhängten Impfpflicht.

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Foto: mh

23. November 2021
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Als ich ein Kind war in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts, bekam ich keine Märchen zu hören. Stattdessen gab es wahre Geschichten aus der Vergangenheit. Meine Mutter hatte sich, nachdem sie fünf ledige Kinder zur Welt gebracht hatte, dazu entschlossen zumindest einem ihrer Kinder, nämlich mir, eine Familie zu bieten. Es war nicht leicht in dieser Zeit.

Die Frau war so gut wie nichts wert, vor allem wenn sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Bauernmagd war die in dieser Zeit oft ausgeübte Tätigkeit um überhaupt existieren zu können. Und so bekam sie im Laufe der Jahre ein Kind nach dem anderen, meist von den Söhnen der Bauern. Da sie aber sofort wieder arbeiten musste, landeten diese bei ihrer Stiefmutter. Die hat sie dann neben den eigenen elf Kindern mit erzogen. Es entstand deshalb auch keine Mutter-Kind-Beziehung. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass meine Halbbrüder jedes Mal Reissaus nahmen, wann immer wir sie besuchten.

Meine Mutter war ihrer Stiefmutter auch dankbar und so versuchte sie des Öfteren ihr das auch zu zeigen. Einmal, ich war noch ganz klein, sind wir mit dem Rad – ich auf dem Gepäcksträger – zu ihr gefahren. Mama hatte ein Glasservice mit Enzian Blumen als Dankeschön besorgt und wollte ihr das schenken. Sie erntete jedoch nur Vorwürfe in einer lautstarken Auseinandersetzung wegen zu wenig Geld für die Kinder. Ich sah nur noch meine weinende, verzweifelte Mutter. Nie wieder konnte ich von da an meiner Grossmutter ohne Argwohn begegnen. Obwohl sie, im Nachhinein gesehen, viel Gutes getan hatte.

Da hatte sie nun auf Anraten ihrer Schwester einen Mann geheiratet, der neben dem Analphabetismus den er hatte, auch noch Alkoholiker war. Nur um einem ihrer Kinder eine annähernd normale Familie bieten zu können. Normal war allerdings etwas ganz anderes: Täglicher Streit, Eifersuchtsszenen und Schläge.

Es war also wahrlich keine Traumkindheit, die ich da hatte. Mein Stiefvater hatte aber auch seine guten Seiten, so liebte er zum Beispiel Tiere. Und das war es auch, was sie verband. Meine Mutter liebte ebenfalls Tiere. Und als es sich ergab, dass ein Bauernhof günstig und zusätzlich, gegen Mitarbeit in der Landwirtschaft, zu vermieten stand, entschieden sie sich dafür. Dort konnten sie Hühner halten, eine Ziege füttern und Tauben züchten. Es war eine sehr weitab gelegene Gegend. Alles war düster und wir hatten kaum Geld zum Überleben.

Manchmal, wenn mein Stiefvater nicht betrunken war, erzählte er mir von Früher. Als er ein Kind war konnte man nicht so einfach in die Schule gehen. Da mussten die Kinder betteln gehen, von einem Bauern zum anderen. Deshalb hatte er auch nicht lesen und schreiben gelernt, sagte er. Und wenn sie so zwölf dreizehn waren, ging es sofort in den Bauerndienst, als Knecht. Freilich lag es nicht nur an der Armut der Leute, er war schon etwas „zurückgeblieben“, wie man es damals benannte.

Seine Schwester meinte mal, dass ihm ein eitriger Zahn zum Verhängnis geworden sei in der Kindheit und er deshalb nicht mehr lernfähig war. Sei es wie es sei, Fakt war, er war nicht gerade das was man eine Intelligenzbestie nennt. Ein einfacher, ungebildeter Mensch mit einem Herz für Tiere und einer grossen Bürde auf seinen Schultern: Der Entfernung seiner Männlichkeit. Rasend und wütend machten ihn deswegen die Hänseleien darüber von anderen Männern. Sie lästerten ihn oft wegen seiner Samenstrangentfernung im zweiten Weltkrieg unter dem Hitlerregime. Das verwand er nie.

Die Zwangssterilisation hatte aus ihm einen Menschen zweiter Klasse gemacht. Dabei hatte er noch Glück, dass seine Schwester in dieser Zeit mit einem SA Mann liiert war und er nicht vergast wurde. Das Erbgut solcher Menschen darf nicht weitergegeben werden, hiess es damals. Oft, wenn er von früher erzählte, schilderte er genau wie er sich fühlte, als es hiess er müsse jetzt sterilisiert werden.

„ Vor dem Mutternhaus da steht ein Kreuz Jesu. Da habe ich gebetet, dass das nicht passieren möge“, erzählte er meist mit feuchten Augen. Er war christlich erzogen worden, glaubte also bedingungslos an Gott, bis dahin.

Dann ging s mit einem Laster irgendwo nach Bayern. Dort wurde ihm der Bauch aufgeschnitten und die Samenstränge entfernt. Also gar nicht so, wie es seine späteren Beleidiger unwissend als kastriert (Entfernung der Hoden), bezeichneten. Bei jeder Gelegenheit zeigte er das Unrecht dass an ihm geschehen war her, seinen Bauch. Und jedes Mal begann sich das Rad in seinem Kopf erneut zu drehen.

Sein ganzes Leben lang war er davon betroffen und niemand konnte ihm da raushelfen. Er ertränkte seinen Kummer, seine Scham und sein „ Sich nicht dagegen zur Wehr setzen können“ in Alkohol. Nach dem Krieg trat er der kommunistischen Partei bei und hat nie wieder eine Kirche betreten. Als Kind verstand ich es nicht, doch jetzt sehe ich das Ganze mit anderen Augen.

So etwas passiert, wenn man mit Zwang arbeitet. Es werden Leben zerstört! Das Leben desjenigen und auch das seiner Familie. Der Mensch wird entwürdigt. Welcher Mensch hat das Recht einem anderen Menschen etwas aufzuzwingen was ER für richtig hält? Und es passiert jetzt wieder… Wo der Zwang beginnt endet die Demokratie!! Was jetzt in Österreich vor sich geht, hat natürlich noch lange nicht diese Dimension von damals erreicht. Es bewegt sich langsam aber sicher wieder in diese Richtung und das bereitet mir erhebliches Unbehagen und macht mir wirklich ANGST.

In Erinnerung an meinem Stiefvater Rudolf Hitsch 1920-1997

Monika Hemetsberger