Die Historische und Ideengeschichtliche Entstehung eines bürgerlichen Konstrukts Zur Genese der Zweigeschlechtlichkeit

Gesellschaft

Seit den Anfängen ihrer Geschichte vor mehr als 250 Jahren hat die moderne Zweigeschlechtlichkeit enorme Wandlungen vollzogen.

Zur Genese der Zweigeschlechtlichkeit.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Zur Genese der Zweigeschlechtlichkeit. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

21. Dezember 2016
0
0
16 min.
Drucken
Korrektur
Sowohl das Verhältnis der Geschlechter zueinander als auch die Positionen von Männern und Frauen in der Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahrhunderten drastisch gewandelt. Die wohl auffälligsten materiellen wie rechtlichen Innovationen für Frauen barg das gerade hinter uns liegende 20. Jahrhundert. In seinem Verlauf erwarben Frauen nicht nur das Wahlrecht, sondern sukzessiven Zugang zu bis dahin männlich dominierten Berufen und Positionen innerhalb der Gesellschaft. Zudem vervielfältigten sich, insbesondere in den letzten 30 Jahren Identitäts-, Lebens- und Beziehungsmodelle. Dies ist sowohl als Resultat feministischer Kämpfe zu verstehen, als auch auf die sich verändernden kapitalistischen Anforderungen an Individuum und Gesellschaft zurückzuführen.

Langsam, aber stetig hielt auf diesem Weg ein Bewusstsein für die gesellschaftliche Ebene von Geschlecht Einzug in Wissenschaft, Sozialpädagogik und Popkultur. Mittlerweile mag die bürgerliche Öffentlichkeit sogar zugestehen, dass es Menschen gibt, die nicht als Mann/Frau verstanden werden wollen oder in einem Körper leben, durch den sie ihre Geschlechtsidentität nicht adäquat repräsentiert sehen.

Die grosse Errungenschaft besteht diesbezüglich darin, dass zum einen nicht mehr ignoriert wird, dass es eine signifikante Menge an Menschen gibt, die nicht in das gängige System der Zweigeschlechtlichkeit passen (wollen). Zum anderen ergeben sich für eben diese Menschen aus der schlichten Akzeptanz ihrer Existenz soziale, rechtliche und medizinische Vorteile, die an dieser Stelle keinesfalls unterschlagen werden sollen. Dennoch wird Inter- oder Transgeschlechtlichkeit, um bei diesem Beispiel zu bleiben, nach wie vor als Abweichung von der gesellschaftlichen Norm verstanden, die toleriert werden muss, gerade in ihrem Anders-Sein.

Die bürgerliche Norm ist die Zweigeschlechtlichkeit, die von einer übergrossen Mehrheit der Menschen scheinbar immer noch als Epochen, Kulturen und Gesellschaftssysteme überdauernde, also transhistorische Naturtatsache begriffen wird. Doch nicht nur die normative Vorstellung eines binären Geschlechterverhältnisses, sondern auch die Konnotationen, die Männlichkeit und Weiblichkeit in diesem zukommen, sind, trotz aller Emanzipation und Veränderung, im Kern ihrer dichotomen Tradition treu geblieben. Im Marxschen Sinne heisst dies: Während sich die Erscheinungsformen der Geschlechter in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder geändert haben, bleibt ihr Wesen gleich.

Dieser widersprüchlich erscheinenden Beobachtung gilt es auf den Grund zu gehen. Dazu ist es zunächst sinnvoll, die Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit historisch und ideengeschichtlich nachzuvollziehen und in ihrer Funktion für die bürgerliche Gesellschaft zu diskutieren. Um ihr Wesen zu begreifen, ist es wiederum notwendig, die idealtypische Konzeption bürgerlicher Subjektivität in Form des bürgerlichen Subjekts zu betrachten.

Die Zusammenführung von historischer und ideengeschichtlicher Auseinandersetzung mit einerseits der Erscheinungsebene, andererseits dem Wesen von Geschlecht stellt die Heraus-forderung der folgenden Ausführungen dar. Insbesondere, da sie sich zweier unterschiedlicher theoretischer Zugänge bedienen – sowohl materialistischer als auch poststrukturalistischer Ansätze. Beide Strömungen verbindet eine herrschaftskritische Programmatik und das Anliegen auf die Widersprüche der aufklärerischen Vergesellschaftung hinzuweisen, ohne das Projekt der Aufklärung als solches zu negieren.

Durch den linguistic turn wurden die Vergeschlechtlichung der Welt sowie die Reproduktion von Herrschaft in der Sprache sichtbar gemacht und die Manifestation der Geschlechterhierarchie sowohl historisch als auch alltäglich nachvollziehbar. Da poststrukturalistische Ansätze jedoch einer materialistischen Grundlage entbehren, sind sie nicht in der Lage, die ursächliche Verbindung zur politischen Ökonomie herzustellen und verfügen über keinen Begriff bürgerlicher Subjektivität. Ohne jenen materialistischen Zugang jedoch verbleibt die Erörterung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Ebene des ideologischen Überbaus und ist damit unfähig, den zuvor benannten Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinungsform zu begreifen. Trotz dieser Widersprüchlichkeit, die beide Theoriemodelle zueinander aufweisen, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, die anhand poststrukturalistischer Begriffe beschriebene Erscheinungsform der Zweigeschlechtlichkeit auf eine materialistische Grundlage zu stellen.

Der Wandel vom Ein-Geschlecht- zum Zwei-Geschlechter-Modell

Bis zum 18. Jahrhundert dominierte die Vorstellung, dass Männer und Frauen verschiedene Ausprägungen eines biologischen Geschlechts seien. Grenzen zwischen männlich und weiblich waren lediglich eine Frage der Abstufung auf einer vertikal-hierarchisch angeordneten Machtachse.

Der historische Körper des einen Leibes stand in der medizinischen Tradition von Galen aus Pergamon, einem griechischen Arzt und Philosophen (ca. 130–200). Seine Ansichten prägten weit über tausend Jahre lang das medizinische Denken in Europa und reichten bis in den arabisch-muslimischen Kulturraum hinein. Galens Modell verlor, trotz immer wieder auftretender, tiefgreifender gesellschaftlicher, politischer und kultureller Veränderungen, erst mit der Aufklärung seine Wirkmächtigkeit. Selbst neue medizinische und wissenschaftliche Methoden und Entdeckungen brachten das Ein-Geschlecht-Modell lange nicht zum Wanken. Die neue Wissenschaft des Körpers im Zeitalter der Renaissance, vor allem das Auseinandernehmen und Betrachten weiblicher Körper, führte eher zu einer Stärkung des Ein-Geschlecht-Modells. Statt einer Trennung der Geschlechter wurde durch die Anatomie eine Verbindung zwischen Mann und Frau hergestellt.[1]

Nach der Galenschen Lehre werden Cervix (Gebärmutterhals) und Vagina zum »ungeborenen« Penis, die Vorhaut wird zur Vulva, die Gebärmutter ein verkümmertes Skrotum (Hodensack) und die Eierstöcke zu Hoden. Unzählige antike, anatomische Beschreibungen machen deutlich, dass die Vagina als innerer Penis wahrgenommen wurde. Sämtliche männlichen Reproduktionsorgane fanden im weiblichen Körper ihr Ebenbild – auch wenn diese als unterentwickelt galten. Diese komplexe Konstruktion der Interkonvertibilität, also Umtauschbarkeit, welche die Physiologie des einen Geschlechts ausmachte, bestimmte neben den Organen auch die Körperflüssigkeiten. In einer sorgfältig ausgefeilten Lehre der Säfte waren bspw. Blut, Samen, Milch und die verschiedenen Exkremente fungibel, also umwandelbar. Prozesse wie die Verdauung und Fortpflanzung sowie Menstruation und sonstige Blutungen wurden als Teile eines Ganzen, als Wandlungen von Energien verstanden und waren nicht notwendigerweise dem einen oder anderen Geschlecht zugeordnet, wie es nach dem 18. Jahrhundert erfolgte.

Erst mit der Entstehung des Bürgertums geriet diese Vorstellung ins Wanken und wich schliesslich der Überzeugung zweier, grundlegend verschiedener biologischer Geschlechter. Reproduktionsorgane des weiblichen Körpers, welche bis dahin im Grunde nach denen des männlichen Körpers benannt wurden, bekamen eigene Namen. Die »weiblichen« Testikel wurden zu den Ovarien (Eierstöcke), die Vulva erhielt ihren Namen, Penis und Vagina wurden unterschieden usw. Das machte Adjektive wie »männlich« oder »weiblich«, die früher Bezeichnungen vorangestellt waren, nun überflüssig (ausschliessliche Bezeichnungen für die weiblichen Geschlechtsorgane gelangten erst um 1700 in die europäischen Sprachen). Diese Entwicklung machte aber nicht bei den Reproduktionsorganen halt.

Sämtliche Strukturen, die zuvor bei Mann und Frau als gleichermassen vorhanden galten, wie z.B. das Skelett oder das Nervensystem, wurden nun dichotom geschlechtlich ausdifferenziert. Auch die sexuelle Lust und die Rolle des Orgasmus der Frau, vorher, wie der männliche, als notwendiger Bestandteil der Fortpflanzung gedacht, wurden in den Grenzbereich der Physiologie verbannt. Durch das Heranziehen der Sexualanatomie konnten verschiedenste Thesen in sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen oder erotischen Kontexten untermauert oder zurückgewiesen werden. Soziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden so sukzessive zu einer naturalisierten Tatsache. Nicht länger waren Körper lediglich die Manifestation einer gottgewollten Hierarchie zwischen männlich und weiblich, sondern ihre rationalisierte Prämisse.

Entscheidend ist, dass es sich bei der dichotomen Zweigeschlechtlichkeit nicht um eine biologische Tatsache handelt, die lediglich auf die wissenschaftlichen Methoden der Moderne warten musste, um entdeckt zu werden, sondern um ein Produkt der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung. Denn moderne Zweigeschlechtlichkeit ist, wie bereits vorausgeschickt, untrennbar mit bürgerlicher Subjektivität und diese wiederum mit kapitalistischer Vergesellschaftung verbunden. Um dieses Verhältnis nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, sich zunächst die Anfänge der bürgerlichen Subjektivität zu vergegenwärtigen. Auch, um zu verdeutlichen, dass nicht nur die Geschichte der Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch jene des bürgerlichen Subjekts eine Geschichte patriarchaler Herrschaft ist.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Die Französische Revolution 1789?–1799 bezeichnet die Manifestation des Kampfes um eine neue Gesellschaftsordnung, in deren Fokus die vermeintlich universalistische Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit stand. So eröffnete der Vorabend der Französischen Revolution auch für Frauen, je nach Gesellschaftsbereich und Klassenlage, zunächst viele, vor allem politische, Handlungsspielräume. Die Hoch-Zeit der französischen Salons bot für Frauen der oberen Schichten eine nicht unwesentliche Chance, an politischen Prozessen zu partizipieren, während andere, vor allem aus den unteren Schichten, sich an revolutionären, teilweise bewaffneten Aktionen in Paris und andernorts beteiligten.

Doch die zunächst entstandenen Handlungsspielräume wurden alsbald wieder eingeschränkt. Die Französische Nationalversammlung bekräftigte im August 1789 den Ausschluss von Frauen aus allen politischen Ämtern und in den französischen Verfassungen von 1791 und 1793 auch aus den aktiven Bürgerrechten. Es folgte im Oktober 1793 das Verbot von Frauenklubs, sowie Gerichtsurteile, die es Frauen mit Strafe verboten, Hosen zu tragen. Der Sinn dieser Repression war nicht nur, Geschlechterunterschiede besser sichtbar zu machen, sondern vor allem, Frauen die Identifikation mit einem Symbol der Revolution zu verwehren. Denn lange Hosen waren, in Abgrenzung zu den Kniebundhosen des Hofes, die traditionelle Kleidung der Arbeiter, die als Stützpfeiler der Revolution galten.

Olympe de Gouges, eine zeitgenössische Frauen- und Bürgerrechtlerin, war schon in den Vorwehen der Französischen Revolution politisch aktiv und stand als Revolutionärin für die emanzipatorischen Ideale der Aufklärung ein. Sie erkannte jedoch schnell die geringen Partizipationsmöglichkeiten für Frauen und wurde von unterschiedlichen Seiten ob ihrer künstlerischen und politischen Aktivitäten angefeindet. Nachdem sie sich für die Rechte der Frau eingesetzt hatte, indem sie eine »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« verfasste, nahmen diese Anfeindungen zu. 1793 wurde sie verhaftet, als Monarchistin angeklagt und zum Tod durch die Guillotine verurteilt.

Es zeigt sich, nicht zuletzt an der Ermordung de Gouges', dass die in der Revolution eingeforderten Rechte, trotz ihres universalistischen Anstrichs, mitnichten allen Individuen der neuen Gesellschaft zugänglich waren. Die Frage, die sich aus dieser Beobachtung ergibt ist nun, welche Bedingungen erfüllt werden mussten und müssen, um an der modernen Gesellschaft partizipieren zu dürfen.

Das bürgerliche Subjekt und sein Anderes

Die Epoche der Aufklärung brachte sowohl eine tiefgreifende, gesellschaftliche Emanzipation als auch neue Formen der Herrschaft hervor. Die Vorstellung von einer göttlichen Ordnung, auf die sich der Feudalismus stützte, wich allmählich einem säkularen Gesellschaftssystem, dessen Basis die kapitalistische Produktionsweise bildet. Wo zuvor der Mensch als von Gott erschaffene Einheit seinen vorbestimmten Lebensweg beschritt, mussten fortan die Individuen eigenverantwortlich für ihren Platz in der Gesellschaft bzw. dessen Erhalt kämpfen. Regelte im Feudalismus noch die gottgegebene Standeszugehörigkeit, unter der absoluten Herrschaft von Klerus und Adel die gesellschaftlichen Rechte, Pflichten und Hierarchien, waren die Individuen in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft dazu gezwungen, als »vereinzelte Einzelne«, wie Karl Marx es beschreibt, miteinander in Konkurrenz zu treten.

»Der Stellvertreter des Staates wurde die Vernunft, mit der der einzelne seine Leidenschaften selbst kontrollieren konnte. Herr seiner selbst zu sein, und ein Verhältnis der Herrschaft über sich zu errichten, also Subjekt zu sein, war die Bedingung, um guter Staatsbürger zu sein, sein Eigentum verwalten zu können und Oberhaupt der Familie zu sein.«[2]

Das Diktum der Vernunft – die im kapitalistischen Sinne immer instrumentell ist – impliziert die Abspaltung all dessen, was als mit ihr nicht identisch gilt. An den Status des Subjektes ist dementsprechend in der bürgerlichen Gesellschaft die Abspaltung von Wünschen und Trieben gebunden, die seiner Produktivität im Wege stehen. Unter dem Druck, seines eigenen Glückes Schmied sein zu müssen, befinden sich die bürgerlichen Subjekte also in einem fortlaufenden Prozess der Selbstbeherrschung (Beherrschung der inneren Natur), um ihre gesellschaftliche Partizipation zu sichern und die Illusion der Beherrschbarkeit der Aussenwelt (äussere Natur), also der gesellschaftlichen Verhältnisse, aufrecht zu erhalten. Da besagte Abspaltung die unterdrückten Anteile nicht einfach auflösen kann, sondern in einem schmerzhaften Prozess unaufhörlich gegen die Aufgabe der Selbstdisziplinierung ankämpfen muss, projiziert es diese Anteile in ein Anderes. Die sich daraus ergebende Dichotomie zwischen jenen Attributen, die idealtypisch für bürgerliche Subjektivität sind und jenen, die sich dazu als Anderes verhalten, strukturiert alle Ebenen bürgerlichen Seins.

Dabei ist das idealtypische bürgerliche Subjekt auf eine spezifische Weise konnotiert, nämlich männlich, aktiv, rational, kulturell etc., um nur die prägnantesten Merkmale aufzuzeigen. Davon abgespalten generiert es das Weibliche als den Ort, an den Passivität, Emotionalität, Natur sowie alle weiteren, dem bürgerlichen Idealtypus unidentischen Anteile verlagert werden. Der Idealtypus bürgerlicher Subjektivität verspricht nicht nur die optimale gesellschaftliche Partizipation des Individuums, sondern in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit auch die Reproduktion bürgerlicher Vergesellschaftung. Die dichotome Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, die als integraler Bestandteil dieser Vergesellschaftung alle Bereiche bürgerlichen Seins durchzieht, manifestiert sich in der modernen Zweigeschlechtlichkeit.

Die moderne Zweigeschlechtlichkeit

Das Wesen der Zweigeschlechtlichkeit liegt im Prozess besagter Abspaltung durch die sie entstanden ist. Dementsprechend liegt das Wesen der Geschlechtscharaktere in den Dichotomien, die aus dieser Abspaltung hervorgegangen sind. Die theoretische Unterlegenheit des Anderen, hier Weiblichen, ist in seiner Konzeption also bereits angelegt.

Es wäre dennoch falsch nun darauf zu schliessen, dass Frauen in bürgerlichen Gesellschaften keinen Subjektstatus erlangen können. Das bürgerliche Subjekt, wie es zuvor beschrieben wurde, ist ein idealtypisches Konstrukt, in dem begrifflich das gefasst wird, was im Unbewussten allen modernen Individuen als Richtwert dient. Wobei hier wiederum zu unterscheiden ist zwischen den Anfängen bürgerlicher Gesellschaft und der spätmodernen Gegenwart. Denn wie bereits skizziert, bedeutete die Aufklärung für viele Frauen zunächst und für lange Zeit einen tatsächlichen, also materiellen Ausschluss aus der öffentlichen Sphäre und damit der gesellschaftlichen Einflussnahme. Die Emanzipationsgeschichte des Geschlechterverhältnisses verlief, trotz einer sukzessiven Verbesserung der rechtlichen und materiellen Lage von Frauen, nicht gradlinig, sondern als Spiegel der ökonomischen Verhältnisse. Denn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse erzeugen eine spezifische Ideologie als ein »objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein als Verschränkung des Wahren und Unwahren«.[3]

Das bedeutet, dass die Vorstellung, die sich die Subjekte sowohl von sich selbst als auch von der sie umgebenden Welt machen, eine Verschleierung der eigentlichen gesellschaftlichen Vermittlung über Wert und Ware darstellt. Der aufklärerische Anspruch universeller Gerechtigkeit wirkt in diesem Zusammenhang als Rechtfertigungsdruck für das materielle Unrecht, das die Individuen erfahren und ausüben.

Die Existenz von Männern und Frauen, als zweier Modelle vom Menschen, ist ein integraler Bestandteil bürgerlicher Ideologie. Es gibt innerhalb dieser keine Subjektivität ohne Geschlechts-identität, also ohne die Identifizierung als Mann oder Frau bzw. die Abgrenzung von dieser Norm. Die Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit wurde im Zuge der Aufklärung in die Körper eingeschrieben und als natürlicher Ausdruck gesellschaftlicher Unterschiede konstruiert.

Ähnlich wie eine möglichst genaue Entsprechung des idealtypischen bürgerlichen Subjekts die optimale Partizipation am und Konkurrenzfähigkeit im Kampf um gesellschaftliche Macht verspricht, gilt eine konsistente Geschlechts-identität als Voraussetzung dafür, als Subjekt überhaupt wahrgenommen und repräsentiert werden zu können.

Sichtbar wird diese Vergeschlechtlichung von Subjekt und Gesellschaft vor allem in der Sprache, da diese gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse nicht nur abbildet, sondern sie auch reproduziert. In modernen Gesellschaften wird jedem Subjekt ein männliches oder weibliches Pronomen zugeordnet, das seine Geschlechts-identität abbildet. Diese Identifizierung als männlicher oder weiblicher Charakter, ist keine hinzugefügte Kategorie, die nur bei Bedarf bedient werden muss oder auch mal weggelassen werden kann, sondern ein integraler Bestandteil von Subjektivität. Was mit Sprache nicht ausgedrückt werden kann oder in der Sprache der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht vorkommt, findet in ihr auch keine Repräsentanz, kann keinen aktiven Einfluss ausüben.

Der Begriff Geschlechtsidentität impliziert bereits, dass es nicht darum geht, ein Geschlecht zu haben, sondern ein Mann/ eine Frau zu sein. Um ein Mann/ eine Frau zu sein, müssen sich die Individuen über ihren Körper mit ihrer Geschlechtsidentität identifizieren und diese performativ reproduzieren, also ihr Sein nach der Massgabe dessen organisieren, was als männlich/ weiblich gilt. Dazu gehört sowohl die Reproduktion des geschlechtlichen Körpers (durch bestimmte Pflege, Körpersprache, Nutzung des Körpers etc.), als auch die Ausbildung gegengeschlechtlichen Begehrens.[4]

Der weibliche Charakter wirkt sich, aufgrund der dichotomen Abspaltungslogik, auf der die bürgerliche Zweigeschlechtlichkeit beruht, in seiner konstruierten Andersartigkeit identitätsstärkend auf den männlichen Charakter aus. Durch die Projektion der den Subjektivierungsprozess gefährdenden »Naturhaftigkeit« auf den weiblichen Charakter, bewältigt das rationale männliche Subjekt sein Unbehagen den eigenen unterdrückten Trieben und Affekten gegenüber. Diese Projektionsleistung birgt gleichzeitig auch das Potential, diejenigen, auf die jene Triebe und Affekte übertragen werden, für ihre unterstellte Auslebung derselben zu hassen.

Zum Zusammenhang zwischen Wesen und Erscheinung

Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit/ Weiblichkeit, so wurde eingangs dargestellt, haben im Laufe der letzten Jahrhunderte, um nicht zu sagen, im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, immense Wandlungen vollzogen. In der spätmodernen Gegenwart scheinen sich die rigiden Grenzen sowohl zwischen den Geschlechtern als auch in ihren Konzeptionen zu liberalisieren. In den Produktionsverhältnissen des Spätkapitalismus erscheinen die Träger_innen der Arbeitskraft, der Idee nach, als geschlechtslos. Dass dies spätestens auf den zweiten Blick nicht zutrifft, lässt sich unter anderem an der starken Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen oder technischen Berufen, der strukturellen Unterbezahlung von Frauen ebenso wie dem niedrigen Lohndurchschnitt in Berufsbereichen, die lange als »Frauenberufe« verstanden wurden, ablesen.

Dennoch lassen sich auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen drastische Verbesserungen sowohl der Lebensverhältnisse als auch der Partizipationsmöglichkeiten von Frauen sowie aller Menschen, die keiner der beiden vorgegebenen Geschlechtscharaktere entsprechen, verzeichnen. Insbesondere am Beispiel der Stellung von Frauen in der Gesellschaft lässt sich jedoch verdeutlichen, dass die hierarchische Teilung in männlich und weiblich, inklusive ihrer Implikationen, da sie in dem Konzept der Geschlechter angelegt sind, diese Veränderungen überdauert hat. Für Frauen besteht mittlerweile nicht nur die Möglichkeit, sondern an sie wird auch der Anspruch gerichtet, sich als autonome Subjekte selbst zu verwirklichen, indem sie sich als unabhängig begreifen und beispielsweise beruflich erfolgreich sind. Dennoch kommt ihnen ebenso sehr die Aufgabe zu, emotional und empathisch zu sein und als liebevolle Partnerin, Mutter und als Objekt männlichen Begehrens aufzutreten.

Gesellschaftliche Macht und Teilhabe basiert auch in der bürgerlichen Gegenwart auf Rationalität und Selbstbeherrschung. Frauen wird zwar zugestanden, dazu in der Lage zu sein, rational zu agieren, sich selbst zu beherrschen und aktiv in die Öffentlichkeit zu treten. Das Entscheidende ist jedoch, dass sie dazu entgegen der in der bürgerlichen Gesellschaft angelegten Konzeption ihrer Geschlechterrolle agieren müssen. Dies hat zur Folge, dass Frauen als Geschlechtscharaktere häufig doppelt defizitär erscheinen. Denn einerseits manifestiert sich in ihrer Geschlechtsidentität als Anderes eine grundsätzliche Mangelhaftigkeit, andererseits stehen sie ebenfalls unter dem Druck, dem männlich konnotierten Diktum bürgerlicher Subjektivität zu entsprechen, ohne dabei ihre Rolle als objektiviertes Ziel des männlichen Begehrens zu verlassen.[5]

Denn ganz ohne Geschlechtsidentität – so wurde bereits herausgearbeitet – geht es nicht. Ebenso wenig ist es Frauen möglich als weibliche Geschlechtscharaktere in einem männlichen Subjektkonzept aufzugehen, ist ihre Geschlechtsidentität doch eingeschrieben in ihre Körper und damit vorerst unausweichlich.

Eine Gesellschaft, deren idealtypisches Subjekt sich über die unbewusste Abspaltung seiner inneren Natur immerzu selbst disziplinieren muss, bringt notwendigerweise ein Anderes, also Projektionen dieser Anteile hervor. Dieses Grundprinzip bürgerlicher Vergesellschaftung ist nicht losgelöst von seinen aktuellen Erscheinungsformen zu betrachten, bleibt in seinem Kern jedoch determinierend für die Geschlechtscharaktere. Dementsprechend muss eine Betrachtung gegenwärtiger Erscheinungsformen von Geschlecht immer auch die ihnen zugrunde liegende Vergesellschaftung im Blick haben. Eine emanzipatorische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft kommt daher an einer Kritik des Geschlechterverhältnisses ebenso wenig vorbei, wie eine feministische Kritik des Patriarchats an einer Kritik des bürgerlichen Subjekts und seiner materiellen Bedingungen.

Meli Hermann und Mani Tilgner
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 52
www.phase-zwei.org

Fussnoten:

[1] Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M./New York 1992, 39.

[2] Andrea Trumann, Das bürgerliche Subjekt und sein Anderes. Zur Subjektivierung der Geschlechtscharaktere, März 2009, http://0cn.de/6sve.

[3] Theodor W. Adorno, Beitrag zur Ideologietheorie, in: Gesammelte Schriften 8, hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1997, 465.

[4] »Der Homosexuelle« gilt in seiner zugeschriebenen Passivität, ähnlich wie »die Frau«, als Anderes, von dem sich das männliche Subjekt abgrenzt. Trumann, Das bürgerliche Subjekt und sein Anderes.

[5] Beschriebener Abspaltungs- und Projektionsprozess ist ebenfalls ursächlich für Rassismus und Antisemitismus, wobei auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann.