2.000 Zeichen abwärts Essen ist der Sex des Alters
Gesellschaft
Essen ist der Sex des Alters, heisst es. Weil man sich zwar noch an Sex erinnert und insgeheim davon phantasiert, aber eigentlich schon zu müde dazu ist und er irgendwie nicht mehr so aufregt, braucht es also Ersatz für die Lust, die der Sex nicht mehr liefern kann. Das ist das Essen.


Historischer Handmixer. Foto: Berthold Werner (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)
Aber selbst das war einmal. Auch Schweinsbraten und Sachertorte mit Schlag werden einem zunehmend vergällt. Früher haben uns die Heilsapostel den Sex madig gemacht, heute machen uns die Gesundheitsapostel das gute Essen madig: Gewicht, gar Übergewicht! Bauchumfang! Body-Mass-Index! Cholesterin! Kunstmargarine statt Bauernbutter und Magermilch statt Schlagobers. Koffeinfreier Kaffee ohne Zucker und viele Kräutertees. Statt vollreifer, sonnenwarmer Paradeiser mit Salz auf Bauernbrot und Butter desselben Ursprungs den vierten Aggregatszustand des Wassers: die holländische, weit gereiste Tomate. Farb-, vitamin-, geschmacklos, aber mit in einer – selbstverständlich ethisch einwandfrei profanierten – tibetischen Gebetsmühle handgemahlenem Himalajasalz.
Das soll Lust sein? Der Sex des Alters? Das ist doch einfach fad. Sie gaukeln uns mit den glatten, sterilen, coolen, emotionsfreien Schönheiten in Film und Druck Erotik und Genuss vor wie mit den kunstvollen Hochglanzbildern von gesundem Essen. Das eine so blutleer, geschmacksfrei und langweilig wie das andere.
Aber heisst es nicht: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende? Oder sollen wir uns wirklich für den staatlichen Nicht-Pflegenotstand aufheben? Eine der schönsten Todesarten ist angeblich der Herzinfarkt bei aufregend geilem, lustvollem Sex. Wenn der Sex schon nicht mehr so recht klappt, dass es zu einem Herzinfarkt reicht: warum nicht der letale Herzinfarkt bei aufregend geilem, lustvollem Essen?
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