Ansichten eines entmenschlichten und verödeten Frankreichs Diagonale du vide

Gesellschaft

Als diagonale du vide[1] bezeichnet man eine quer verlaufende Linie, auf der die ärmsten Orte von ganz Frankreich liegen.

Der französische Fotograf und Filmregisseur Antoine D'Agata.
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Der französische Fotograf und Filmregisseur Antoine D'Agata. Foto: Aurélien Valette (CC BY-NC-ND 2.0) (CC BY-NC-ND 2.0)

31. Mai 2021
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Mit Antoine d'Agata habe ich eine Route erstellt, um diese Orte zu besichtigen. Fast eine Woche lang sind wir, wie es im Volksmund heisst, „am Arsch der Welt“ herumgefahren. Ein Roadtrip durch das alltägliche Elend des Abendlandes.

Es ist, offen gestanden, mein derzeitiges materielles, psychologisches sowie intellektuelles Elend hier in Paris – einer Stadt, die mir immer feindselig und aufdringlich vorkommt, wenn ich knapp bei Kasse bin, einer Stadt, die alles dafür tut, um, wie Guy Debord sagt, die Armen zu vertreiben –, das mir die Aussicht, zusammen mit jemandem, den ich für einen der grössten lebenden Künstler halte, dem Elend Frankreichs einen Besuch abzustatten, wie ein Geschenk des Himmels erscheinen lässt, wie eine Sinekure, um mich meiner Depression zu entwinden. Fassen wir es als karthatische Angelegenheit auf. Vielleicht könnte die objektive Depression und die Tatsache, dass ich viel herumreise, die subjektive Depression von mir nehmen.

Wir alle kennen das grossartige Incipit aus Melvilles Moby Dick: „Immer wenn ich merke, dass ich um den Mund herum grimmiger werde; immer wenn in meiner Seele nasser, niesliger November herrscht; immer wenn ich merke, dass ich vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterhertrotte, der mir begegnet; und besonders immer dann, wenn meine schwarze Galle so sehr überhandnimmt, dass nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Strasse zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen – dann ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen. Das ist mein Ersatz für Pistole und Kugel.“[2] Auf mich bezogen: Genau das, was ich brauche.

Auf mich bezogen bedeutet es auch, dass mein Spleen als prekärer Pariser Intellektueller recht lächerlich wirkt neben Antoine, diesem echten Kapitän Ahab der Moderne, der sein Leben lang die elendigsten und gefährlichsten Orte der Welt bereist hat. Ebenso wie mein Elend im Vergleich mit dem all jener Franzosen, die langsam zugrunde gerichtet werden: In den letzten Jahren sind die Selbstmorde aufgrund von Arbeitslosigkeit in die Zehntausende gegangen und die Verwahrlosung nimmt unablässig zu. Wenn man arm ist in Paris, fühlt man sich bereits wie ein Clochard, ein Verrückter, ein Gespenst.

Der bedeutendste Volksaufstand, der sich in Frankreich nach dem Mai 1968 entfacht hat, jener der Gelbwestenbewegung, der zum Zeitpunkt unserer Reise seit drei Monaten in vollem Gange ist, wurde von den Medien eher mittels schamloser Lügen und einer überspitzten Darstellung der Gewalt als durch Verschleierung und Auslassung erstickt. Wir wollen erforschen, wie das Frankreich aussieht, wo der Aufstand der Gelbwesten entstanden ist. Wir wollen das gespenstische Frankreich besichtigen.

Der Titel eines Films kommt mir in den Sinn, der mich einmal beeindruckt hat: Ghosts of the Civil Dead. Nicht Frankreich, sondern sein Gespenst. In dem Konflikt zwischen den Gelbwesten und der Regierung treffen zwei verschiedene Gespenster aufeinander: die Götterdämmerung der französischen Hoheiten (der „Jupiterianer“ der Finanzwelt ist derzeit Präsident der Französischen Republik), die in ihrer Dekadenz so zerrüttet wie Ludwig der Zweite von Bayern sind; und dieses nicht repräsentierte Frankreich, dieses Frankreich, das nicht gesehen wird und die Obrigkeit daher in all ihren Ausprägungen auf eine popularisierte situationistische Weise angreift. Im grossen Stil haben die Gelbwesten, wie von einer überwiegend unbewussten Kultur-DNA Frankreichs gesteuert, eine politisch völlig neuartige Situation hervorgebracht, deren vollumfängliche Analyse einige Jahre in Anspruch nehmen wird.

Die Hoheit besteht aus nichts anderem als „republikanischen“ Überresten königlicher Rituale. Sie ist eine Parodie darauf. Sodass sich die „Republik in Bewegung“ besser in „Hoheit auf halbmast“ umbenennen sollte.

Eine Parodie gewiss, aber nicht ganz. Seit Beginn seiner Amtseinführung verhält sich Emmanuel Macron wie ein kleiner Sonnenkönig: „Der Staat bin ich.“ Das Gespenst des Königtums wird von dem Gespenst der Französischen Revolution, der Kommune, des Mai 68 angegriffen. Parodie steht gegen Parodie. Eine missglückte gegen eine erfolgreiche Parodie. Nur die Zeit wird zeigen, welche Parodie welches Adjektiv verdient.

Wenn man mit den Gelbwesten in Berührung kommt, merkt man, dass eine neue Form des Humors entstanden ist, ein Humor sui generis, der sich oft um diese „royalistische“ Repräsentationspolitik Macrons dreht. Der Präsident wird häufig „Eure Eminenz“ genannt. Wie in einem umgekehrten Aschenputtel-Märchen betrachtet man sein Auto oder Flugzeug als Luxuskaleschen. „Allucidation“, ein Neologismus jüngeren Datums, bedeutet: hallucination lucide, Klarträumerei.

Vor Jahren habe ich dies einmal „medien-parlamentarisch“ genannt. Der Dialog beider Entitäten ist ein Dialog zwischen Gehörlosen. Jenes Frankreich, das in der Medienberichterstattung nicht vorkommt, findet kein Gehör bei jenem Frankreich, das es nur in der Medienberichterstattung gibt – und somit ebenfalls inexistent ist.

Da weder Antoine noch ich Auto fahren können, unternehmen wir die Reise zusammen mit Giulietta, Assistentin bei der Agentur Magnum, und Tania, der Lebensgefährtin von Antoine. Sie beginnen die Reise ohne mich in einer symbolträchtigen Region, den Ardennen, in Charleville-Mézières, wo Arthur Rimbaud herkommt, der als Proletarier, Anarchist und Anhänger der Pariser Kommune die meiste Zeit seines Lebens im Elend zugebracht hat. Rimbauds überaus hellseherisches Gedicht Demokratie soll bei dieser Gelegenheit in Gänze zitiert werden: „Die Fahne marschiert in die unreine Landschaft, und unser Kauderwelsch erstickt die Trommel./ In den Hauptstädten werden wir die schamloseste Hurerei hochbringen. Wir werden die vernünftigen Empörungen niedermetzeln./ Hin in die gepfefferten und erschlafften Länder! – im Dienst der ungeheuerlichsten industriellen oder militärischen Ausbeutungen./ Auf Wiedersehen hier, ganz gleich wo. Rekruten des guten Willens, werden wir uns an die Philosophie der Barbarei halten; Stümper in der Wissenschaft, Wüstlinge im Genuss des behaglichen Lebens; krepieren muss die Welt, wie sie heute läuft. Das ist der wahre Fortschritt. Vorwärts los!“[3]

Antoine photographiert bereits ein paar Gelbwesten. Ich schliesse mich der Gruppe erst am nächsten Tag an.

Vor unserem Besuch hatten wir von der diagonale du vide nur eine vage Vorstellung; etwa so, wie man von einem „unscharfen Photo“ spricht.

Ungeachtet der Photos, die Antoine aufnimmt und die, wie ich Wochen später sehe, davon Zeugnis ablegen, ist es, als ob sich das – im photographischen Sinne – Objektiv unseres Bewusstseins nach und nach richtig einstellte (weder zu nah noch zu weit) und die Vorstellung, die wir von diesem gespenstischen Frankreich haben, Bild für Bild, Reihe für Reihe immer klarer würde. Man könnte von einer „gespenstischen[4] Klarheit“ sprechen, wie man von „allucidation“ spricht.

Überall, wo wir hinfahren, werden wir mit einem Frankreich konfrontiert, das gleichsam nicht existiert. Ein stillgelegtes, entmenschlichtes, verödetes Frankreich.

Antoine, der zu Recht als Francis Bacon der Photographie bezeichnet wird, kennt man vor allem wegen seiner Aufnahmen nackter Körper, die sich oft gerade beim Geschlechtsakt befinden. Es ist, als würde er die „realistische“, das heisst ideologische Darstellung dieser Körper zerstückeln, um zu einem Hologramm der reinen Empfindung, der rein körperlichen Erregung zu gelangen – zu dem, was Deleuze im Anschluss an Artaud den „Körper ohne Organe“ genannt hat.

Hier geht es um eine andere Form der Zerstückelung. Hinter dem globalen Handelsnetzwerk, das, wie uns seine offiziellen Vertreter erklären, massgeblich zum Wohlstand der Menschheit beiträgt, verbirgt sich ein derart bedrückendes Meer von Verwerfung, Verwesung und Verfall, dass die herrschenden hoheitlichen Repräsentanten darüber ja kein Wort verlieren dürfen.

Am ersten Tag meiner Anwesenheit kam auf der Nationalstrasse von Aube[5] (was eine nette Antiphrase ergibt), die uns nach Saint-Benoist-sur-Vanne führt, ein Nebel auf, wie ich ihn noch nie gesehen habe: Er hüllte alles ein und hielt an bis zum frühen Nachmittag.

Dieser dichte Nebel, ähnlich dem „Nieselregen“, mit dem Melville seine Novemberlandschaft versieht, ist eine ideale Kulisse für die zahlreichen industriellen Unterwelten, die wir durchkreuzen werden. Die stillgelegten Fabriken schiessen wie Pilze aus dem Boden: Douzonville, Estissac, Saint-Dizier … Am eindrucksvollsten ist jene Fabrik in Sens (unmöglich, sich so etwas auszudenken): eine Art barockes Bauwerk, das nicht beabsichtigt war, paradoxe Schönheit der Verwüstung, ein apagogisches Hologramm der zahllosen Arbeiter, die durch Fabrikschliessungen – in der Amtssprache als „Sanierungspläne“ bezeichnet – von der sozialen Landkarte getilgt wurden.

Schliesslich habe ich dasselbe flaue Gefühl im Bauch, als würde ich das Kolosseum oder die Akropolis besuchen: Wieviele Sklaven sind für diese Monumente menschlicher Baukunst gequält und ausgerottet worden, an die nichts mehr erinnert, ausser einiger tief verschütteter DNA-Spuren, zu denen keine Wissenschaft je vordringen wird? Sodass ich nach und nach die verwüsteten Orte, die wir besuchen, mit derselben Art von heiliger Verehrung und ästhetischer Verzückung zu betrachten beginne, die wir angesichts der schönsten Monumente menschlicher Bauwerke erleben.

Wie Duchamp sagte: Alles wird schön, was man nur ein oder zwei Jahrhunderte altern lässt. Vielleicht ist das Industriezeitalter (von dem wir irrigerweise annehmen, es mit der digitalen Dematerialisation „hinter uns“ gelassen zu haben) eine „List der Geschichte“ des ästhetisch Unbewussten, und das, was man zu Recht „geplante Obsoleszenz“ der „ständigen technologischen Erneuerung“ nennt, von der Debord gesprochen hat, wirkt sich ebenso dahin aus, die paradoxe Pracht von Ruinen, von Niedergang und Verfall, welche die moderne Kunst seit zwei Jahrhunderten so faszinierte, in rasantem Tempo zu beschleunigen.

Eine noch beunruhigendere Hypothese, die mich seit langer Zeit quält: Vielleicht bemisst sich jede Kunst – von der Tragödie über die Kreuzigung bis Pierre Guyotat – auch daran, inwiefern sie Blut und Leid auf verschiedenen Umwegen eine Erklärung abzugewinnen vermag. Wiederum eine Frage der Kartharsis.

Was unterscheidet sich fast immer von der Kunst (wenn man von der Aktionskunst des Happenings einmal absieht)? Tod, Leid und Verbrechen. Wir haben erwartet, das „traditionelle Frankreich“ anzutreffen, eine grosse, wenn auch unauffällige Bevölkerungsgruppe: Doch wir haben uns getäuscht. Keine Menschenseele, wie man so sagt. Das, was man das „traditionelle Frankreich“ nennt, ist eine Wüste. Die grösste Menschenansammlung, der wir, von den Gelbwesten abgesehen, in diesen Tagen begegnen, wird die bei McDonalds in Champbertrand sein. Wir sind nicht stolz darauf, aber sonst ist niemand da.

Es gibt etwas, das ich mit einem Ausdruck, der so kraftlos ist wie das, was er bezeichnet, „Strassenstädte“ nenne: jene Häuser am Strassenrand, die leer wirken, obwohl sie bewohnt sind, angesichts derer man sich fragt, wie es ihren Bewohnern gelingt, der Depression, dem Alkoholismus und Wahnsinn zu entkommen (Villeneuve-l'Archevêque, Joux-la-Ville, La Guerche-sur-l'Aubois, Saint-Flour …).

In der Umgebung von Champs-sur-Yonne begegnen wir zwei Strassenprostituierten, deren Anwesenheit die technologische Wüste, in der die Menschen nicht einmal mehr eine Nebenrolle spielen, mit Leben erfüllt. Antoine hat im Verlauf seiner Karriere viele Prostituierte abgelichtet: nicht Luxus-Callgirls, sondern das Salz der Erde, die „Verdammten der Erde“, Frauen, die auf diesem Planeten verloren sind, den untersten Bodensatz aus allen Ecken und Enden der Vierten Welt. Aber in der Bildserie, die er in diesem Fall festhält, nimmt er sie anders auf: So, als ob in dieser menschlichen Wüste nur diese verlorenen Mädchen eine – wie es heisst – soziale Bindung herstellen könnten. Die wenigen anderen „Menschen“, die aufgenommen werden, sind Polizisten …

Vor langer Zeit habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass wir nur dann von „unmenschlichen Taten“ oder „Unmenschlichkeit“ sprechen, wenn es sich um unverkennbar menschliche Errungenschaften handelt. Die entmenschlichten Landschaften, die wir durchqueren, sind alle von Menschenhand geschaffen worden, durch das, was Aristoteles technē genannt hat. Sie, die Technologie selbst, ist das ungeheure Gespenst, das uns umhüllt, und die gesamte Kunst vielleicht ein „Auftritt der Geister“[6], um den Ausdruck von Jean-Jacques Schuhl zu verwenden. Es ist keineswegs so, dass die abgründige Unmenschlichkeit von Antoines Photographien auf einer tendenziösen Voreingenommenheit, einer morbiden Vorliebe für das Schlimmste beruht. Er hält vielmehr das Wesentliche fest, das wir Vier mit eigenen Augen gesehen haben. Inhuman ist der wirtschaftliche Ruin, der die biologisch aktive Menschheit heimsucht, um ihr zu verstehen zu geben, dass jedes ihrer Mitglieder schon jetzt ein lebender Toter ist, vor allem, wenn man ihm wie in den meisten Fällen eine undankbare Arbeit zuweist, die es mit dem höchsten Gut bezahlen wird: seiner körperlichen und geistigen Gesundheit. „There ain't no life nowhere“, heisst es auch in einem Popsong; den Namen des Interpreten habe ich vergessen.

Wir beugen uns über den Serein, jenen Fluss, in den ein Serienmörder die Leichen seiner Opfer warf. Der Mörder, Émile Louis, der den Spitznamen „der Schlächter der Yonne“ trägt, wurde zuletzt für die Vergewaltigung und Folterung seiner Frau und seiner Schwiegertochter in Haft genommen. Seine weiteren Opfer: geistig behinderte Jugendliche, die er missbrauchte, indem er sich der Strukturen der sozialen Fürsorge in Frankreich bediente, vermutlich auch eine Lebensgefährtin, die als vermisst gilt. Paradoxerweise ist es, als ob auf der Stätte die Manen jener minderjährigen Märtyrer lasten würden; als ob es, wohin wir auch gingen, die Toten wären, die der technologischen Wüste ein wenig Leben zuführten.

Es gibt zahlreiche Tankstellen, die nicht mehr in Betrieb sind (Nouzonville, Cravant …). Sie erinnern mich an einen meiner Lieblingsfilme: Cronenbergs eXistenZ – ein grossartiger Film über das Problem der Technologie –, wo in einer verlassenen Tankstelle eine seltsame (von dem genialen Willem Dafoe gespielte) Figur namens „Gas“, Mechaniker von Beruf, jene denkwürdige und metaphysisch tiefgründige Gleichung aufstellt: „Gott = ein Mechaniker!“.

Metaphysik, so lehrte es uns der gute Heidegger, ist letztendlich Technologie. Doch der heilige Paulus sagte schon sehr scharfsinnig: „Wir alle sind Gottes Arbeiter“.

Wenn Gott die Herausforderung der Metaphysik ist, dann ist die Technologie bereits Gott.

Die „ständige technologische Erneuerung“ ruft bei uns, naiv wie wir sind, dieselbe Fröhlichkeit hervor wie das erste Lächeln eines Neugeborenen. Dahinter türmt sich eine riesige Müllhalde auf, wo alle Produkte landen, für die sich die arbeitende Menschheit zu Tode geschuftet hat. Die Ökologen sprechen von „nachhaltiger Entwicklung“. Aber die meisten Ruinen, die die Mehrheit der menschlichen Bauwerke schon heute darstellen, ähneln dem weltweiten Ossarium eines „nachhaltigen Niedergangs“. Wir hätten Antoines Photoserie auch so betiteln können: Momentaufnahmen des Verfalls.

Diese Tankstellen, dem Anschein nach unbedeutend wie eine Sonnenblume von Van Gogh, symbolisieren gleichwohl die Kernfrage, um die es bei den meisten Kriegen, Greueltaten und Ungerechtigkeiten hier und heute auf der Erde geht: um das Erdöl. Beim Anblick dieser kleinen Un-Orte, dieser noch jungen und doch schon uralten Überreste dessen, wofür die Menschheit foltert, tötet, sich gegenseitig umbringt, werde ich wie bei dem Film eXistenZ erneut von einer Art mystisch-ästhetischer Empfindung ergriffen.

Es gilt, eine veraltete Tankstelle so zu betrachten wie andere die Fresken von Pompeji.

Als sogenannter „Höhepunkt des Spektakels“: ein gigantisches Sanatorium in Bergesserin, das, seit Jahren verlassen, für einen Horrorfilm wie gemacht zu sein scheint. Es ist, als ob der Wind, der durch zerbrochene Fensterscheiben weht, die Vokale der tags, mit denen die prunkvollen Ruinen übersäht sind, zum Raunen brächte – den Chor verdammter Seelen orchestrierend, die diese Stätte über Jahrzehnte unter oftmals grausamen Bedingungen der historischen Psychiatrie bewohnen mussten. Ghosts of the Civil Dead. Treffender wäre: Ghosts of the Civil War.

Was ist ein Verrückter? Jemand, der sich nicht an das bürgerliche Leben anzupassen wusste – nach gängiger Vorstellung also an das Erwerbsleben. Was in einer Ära, in der das Kapital triumphiert, soviel bedeutet wie an ausgelagerte Sklaverei. Ich selbst habe dieserart Stätten kennengelernt, wo sich Leute befanden, die im biologischen Sinne lebendig waren, für die Gesellschaft jedoch Tote oder unter Auflagen Dahindämmernde. Ich kann bezeugen, dass unter den Insassen keine paradoxe Harmonie herrscht – genauso wenig wie sonst in der Gesellschaft.

Im Grunde genommen ist die psychiatrische Klinik wie das verkleinerte Modell eines Grossunternehmens, zu dem die Gesellschaft sich entwickelt hat. Für Spinoza gibt es eine mathematische Interdependenz zwischen den leibhaftigen Handlungen aller: Es genügt, dass jemand etwas tut, um abzusehen, dass ein anderer Patient es tun wird, was einen weiteren beeinflussen wird, dies zu tun usw. Artaud, mit dieser Art von Stätten wohlvertraut, verwendete dafür einen Ausdruck, der für mich eine streng soziologische Bedeutung hat: Verhexung. Ein fortwährender und unkontrollierbarer Dominoeffekt wie die Gesellschaft als Ganzes; nur dass in der Psychiatrie das ganze Räderwerk gleichsam offenliegt, während die herrschenden Repräsentanten darum bemüht sind, all die ausgeklügelten Mechanismen zu verschleiern, mittels derer sie Ausbeutung, Mord, Folter und Vergewaltigung auslagern.

Aber diese dissonante Harmonie psychotischer Stimmen – einem Gesualdo entsprechend, dem die technischen Mittel eines Stockhausen zur Verfügung stünden – hatte ich nie so klar vernommen wie in dieser riesigen Klinik, die in ihrem heruntergekommenen Zustand so unheimlich wirkt wie ein verwesender Leichnam.

Das erste Mal auf der Reise habe ich wirklich Angst. Und ich glaube nicht, dass ich der Einzige bin.

Als handle es sich um eine unvermeidliche Abfolge fahren wir anschliessend durch Oradour-sur-Glane, wo im Zweiten Weltkrieg die gesamte Einwohnerschaft von der Panzerdivision „Das Reich“ niedergemetzelt wurde. Das neoliberalistische Gemetzel hingegen läuft immer über so viele Banden wie ein barockes Billardspiel.

Wir passieren Vrigne-Meuse, wo sich im November 2018 – jenem Monat, in dem die Bewegung der Gelbwesten in Fahrt kommen würde –, ein französischer „Bouazizi“, ein Eisenbahner in einer orangefarbenen Weste am frühen Morgen vor einen Zug warf. Da dreht sich jene Art von Räderwerk, das von der offiziellen Berichterstattung unbemerkt bleibt.

Als wir an einem bekannten Restaurant für Fernfahrer, L'escale village, unweit von Châteauroux, Halt machen, denke ich mir, dass die Technologie offensichtlich nicht mehr im Dienste des Menschen steht, sondern der Mensch im Dienste der Technologie. Es sind die Fernfahrer, die die Lastwagen bedienen, nicht die Lastwagen die Fernfahrer. Genauso verhält es sich mit der gesamten Gesellschaft.

„Die Gesellschaft glaubt, allein zu sein, aber da ist irgendjemand“, schrieb Artaud (Marx hätte dasselbe gesagt). Nein, da ist niemand mehr.

Und es war auch Artaud, der den bemerkenswerten Ausdruck vom „Selbstmord durch die Gesellschaft“ in Bezug auf Van Gogh geprägt hat.[7] Man bringt sich niemals allein um. Die Verrückten werden auf dem Wege der Stellvertretung, der Verinnerlichung in den Selbstmord getrieben.

Wie Philippe Lacoue-Labarthe sagte: Das Kapital kann mit Neurosen sehr gut umgehen, deshalb begegnet man bei unseren Repräsentanten in Frankreich so vielen neurotischen Störungen, die mit ein paar Anxiolytika oder Antidepressiva hinreichend in Schach gehalten werden. Was man auf individueller und kollektiver Ebene nicht in den Griff bekommt, so Lacoue, sind Psychosen. Die Neurose ist eine soziale Anpassungsstörung; die Psychose eine unausweichliche Fehlanpassung an die immer schrecklicheren Bedingungen, welche die Technologie dem Leben auferlegt, eine unheilbare und endgültige Verhaltensstörung. Nach gängiger Auffassung sind die Verrückten und die Selbstmörder Verbrecher, die gezwungen waren, ihre kriminelle Energie gegen sich selbst zu wenden. Alle Orte, die wir besichtigen und die Antoine auf künstlerische Weise festhält, sind ausnahmslos Orte dieser Wendung gegen sich selbst. Der Wahnsinn, von dem die Gesellschaft nichts wissen will, wird in der geographischen und architektonischen Beschaffenheit offenbar.

In der Nähe des Restaurants, wo wir zu Mittag essen, erwartet man das Flugzeug von Emmanuel Macron, der hier ein Dorf besucht. Vor Ort ist nicht nur ein grosses Polizeiaufgebot, sondern ein regelrechtes Armeekorps: Panzer, riesige Laster und zahlreiche Soldaten. Dann fahren wir nach Déols, das Dorf, wo Macron einen Zwischenstopp einlegt, um seine berüchtigte „grosse Debatte“ zu führen und Abweichler von offizieller Seite her wieder auf Kurs zu bringen. Doch es gibt einen derartigen Polizeischutz, dass es unmöglich ist, etwas daraus zu machen.

In einem Text über die Gelbwesten erklärte ich umstandslos: „Es ist an der Zeit, sich mit erleichterndem Aufatmen einzugestehen: Der 'Jupitersche' Prunk, mit dem sich unser Präsident der Republik, ein charismatischer und hochbegabter ENA-Absolvent, umgeben hat, ist eine lächerliche Luftnummer. Diese allzu lang straffrei gebliebene Pose ist mit den Gelbwesten offensichtlich auf den Boden der Tatsachen gecrasht: Wenn Demokratie nichts ist als ein Stühlerücken der Repräsentanten, dann ist sie für viele keinen Heller mehr wert. Der Präsident tut so, als würde er Rechenschaft ablegen, indem er sich vor den versammelten Gesprächspartnern – marketingstrategisch sehr clever – 'die Jacke auszieht' (Le grand débat). Problematisch ist allerdings, dass die Zuschauer von vornherein auf seiner Seite sind, da sie sich ihrerseits aus Vertretern des Staates zusammensetzen, die unter ähnlichen Voraussetzungen und aus denselben Gründen gewählt wurden wie er, ganz gleich, welcher Partei sie angehören. Doch es ist schon zu spät. Man hätte das Eisen schmieden müssen, solange es heiss war – einmal erkaltet, wird es so hart bleiben wie ein Excalibur, das in einen Amboss gerammt wurde.“

Um ein getreues Bild von diesem arg gebeutelten Frankreich zu geben, bedurfte es Antoine d'Agatas radikaler Kunst, die sich in der Art ihrer Darstellung jeder Hypostasierung widersetzt. Streikende oder entlassene Arbeiter, Arme und Elende, psychisch Kranke – das ungeheure, gedämpfte Aufheulen dieser alptraumhaften Gespenster jeden Bürgers, dieser Wesen, von denen unser geisterhaft wirkender Präsident sagt, sie seien „nichts“, dieser Entitäten, die in jenem Bild fehlen, das Frankreich von sich in politischer Hinsicht vermittelt, vermeinte ich während unserer gesamten Reise zu hören.

Was die Gegend hier ausmacht, kommt für mich in dem Bild des riesigen, verlassenen Sanatoriums in Bergesserin zusammen: Ich konnte die Stimmen von tausenden Verrückten vernehmen, die diesen Ort bevölkerten. Wahnsinn ist nichts als eine Folge der Politik. Heutzutage will man uns glauben machen, dass wir verrückt zur Welt kommen. Obwohl wir dazu gemacht werden.

Ich träume von einer politischen Organisation, die den Wahnsinn zu einer zentralen Kategorie ihres Diskurses machen würde. Den einzigen Wahnsinn, den es gibt, ist die gegenwärtige Organisation der Gesellschaft. Unsere Regierenden möchten nichts tun, um diesen Wahnsinn zu heilen. Ich denke an einen der schönsten Essays, der über Artaud je geschrieben wurden: Guérir la vie von Jacob Rogozinski.[8] Die vom Kapital Gebeutelten brüllen ihren Robotern die Ohren voll, doch diese sind taub. Ein technologisches Gehör gibt es nicht. Das Hören ist ein Vorrecht des Lebens, das aus jenem Frankreich, das wir durchqueren, entwichen ist. Wo die Geister, die Untoten der Gesellschaft auftreten und wieder abgehen.

Mit gewohnter Entschlossenheit schrieb Debord: „Nie zuvor hat es eine vollkommenere Zensur gegeben. Nie zuvor ist es der Meinung derer, denen man in einigen Ländern noch glauben macht, sie seien freie Bürger, weniger gestattet gewesen, sich zu äussern, wenn es darum geht, eine Wahl zu treffen, die ihr wirkliches Leben beeinträchtigt. Nie zuvor war es vergönnt, sie mit einer so gänzlichen Folgenlosigkeit zu belügen.“[9] Was die Gelbwesten klar zum Ausdruck bringen werden: dass die ländliche Region einen absoluten Mangel an Repräsentation erfährt. Die Mächtigen werden lediglich zu dem Schluss kommen, dass das vollkommen unerheblich gewesen ist. Die Menschheit muss weiterhin Selbstmord begehen, in voller Kenntnis der Sachlage.

Es gilt, die stetig wachsende Anzahl an Selbstmorden in der Gesellschaft als Teil einer latenten Kriegsstrategie aufzufassen. Deshalb, so sagt Benjamin in etwa, müsse modernes Heldentum die Form des Selbstmords annehmen. Bei einem Selbstmord wird immer Bilanz gezogen, welche Schläge man ausgeteilt und welche man eingesteckt hat, wobei die letzteren mit aufgeschobener Wirkung zu einer Art implosiven Todeskampf führen. Es gibt eine Redewendung, die ich sehr mag: „Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“. Bei einem Selbstmord wird das Subjekt von solch verinnerlichten Misshandlungen überflutet.

Deshalb fanden wir es passend, zwei symbolträchtige Abstecher zu machen: einen in das Dorf, wo Georges Bataille seine letzten Lebensjahre verbrachte, wo er starb und beerdigt wurde (Vézelay); den anderen in das Dorf, wo auch Guy Debord seine letzten Jahre verbrachte und Selbstmord beging (Bellevue-la-Montagne). Zwei der radikalsten Denker ihres Jahrhunderts, diejenigen, die am weitesten gegangen sind, um das zu untergraben, was als Herrschaftsinstrument schlechthin gilt: die Gedankenwelt (also oft das Ideologische, das leere Gerede). Zwei Selbstmorde der Gesellschaft des Spektakels. Wir dachten auch daran, die Irrenanstalt in Rodez zu besichtigen, wo Artaud lebte.

Bei den Gelbwesten spukt es von diesen Gespenstern, ohne dass sie sich dessen bewusst zu sein brauchen. Ich habe das weiter oben als „kulturelle DNA“ bezeichnet.

Es ist schade, sage ich mir zuweilen, dass die Bewegung ihren Karl Marx nicht griffbereit hat, obwohl er doch da ist – als „heilige Dreifaltigkeit“: Antonin Artaud, Georges Bataille, Guy Debord. Armiert mit diesen Namen und Gedanken hätten sie ihr Ziel erreichen können: die Absetzung einer bestechlichen Volksvertretung, in der die Politiker nur noch Hologramme dessen sind, für was sie stehen. Gespenster gegen Gespenster.

Die Ortschaften, die wir besichtigen, ähneln allesamt einer Wüste. Früher gab es ein Sozialleben. Jetzt bleibt jeder zu Hause, sieht fern oder surft im Internet. Technologie und Kapital, das Spektakel Debords, „vereint, was getrennt ist“. Einen mächtigeren Serienmörder gibt es nicht.

Wir bekommen einen Körper zu sehen, der zerlegt, zerstückelt, bis in seine innersten Bestandteile viviseziert worden ist. Die diagonale du vide ist eine Strecke, in welche der Ultraliberalismus mit seiner zersetzenden Wirkung zahllose Lücken gerissen hat.

Es sind diese Leerstellen, die in dem gespenstischen Stimmenkonzert zum Ausdruck kommen, das die Gelbwesten auf nationaler und internationaler Ebene veranstalten.

Wenn es einen Künstler gibt, der es verstanden hat, wie man die Leere zum Sprechen bringt, dann Antoine d'Agata: sichtbar machen, was nicht sichtbar, darstellen, was nicht darstellbar ist. Bei Antoine gibt es einen visuellen „Spektralismus“. Es geht darum, die letzten Zuckungen einer Menschheit festzuhalten, die Selbstmord begeht, die alle erforderlichen Informationen besitzt, um darüber Bescheid zu wissen, und keinen Versuch unternimmt, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Am Ende ist es ein zweifacher Suizid, den wir nach einer Woche Fahrgemeinschaft, anrüchiger Hotels und unbewohnbar gewordener Zwischenwelten durchmessen haben: einerseits besteht er in dem gespenstischen Bild, das von der Realität vermittelt wird, und zum anderen darin, in diesem Bild ausgelassen zu werden und selbst nur noch als Gespenst vor sich hinzuvegetieren.

Die Menschheit begeht Suizid: Das ist die „diagonale du vide“. Der Suizid wird bis zum bitteren Ende gehen.

Keine Weisheit, niemals.

Mehdi Belhaj Kacem

Aus dem Französischen von Martin Alexander Sieber


Fussnoten:

[1] Erschienen als Beilage des Diaphanes Magazine No. 6/7 (2019).

[2] Herman Melville: Moby-Dick. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Matthias Jendis. 3. Auflage München 2020, S. 33.

[3] Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Herausgegeben und übertragen von Walther Küchler. 6. durchgesehene Auflage Heidelberg 1982, S. 245.

[4] Spectral bedeutet im Französischen „spektral“, aber auch „gespenstisch“. Dieser Doppelsinn, also dass sich etwas zu erkennen gibt und zwar auf gespenstische Weise, ist im Deutschen mit dem Wort „Erscheinung“ zu vergleichen. A. d. Ü.

[5] Das Département Aube liegt im Nordosten Frankreichs und ist nach dem gleichnamigen Fluss benannt. Aube bedeutet im Französischen „Morgengrauen“. A. d. Ü.

[6] Jean-Jacques Schuhl: Auftritt der Geister. Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe. Berlin 2012.

[7] Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft. Aus dem Französischen von Bernd Mattheus. Berlin 2009.

[8] Dt.: Das Leben heilen. Die Passion Antonin Artauds. Aus dem Französischen von Christian Driesen. Wien 2019.

[9] Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Aus dem Französischen von Jean-Jaques Raspaud und Wolfgang Kukulies. Berlin 1996, S. 213f.