Thesen zur Kritik der bürgerlichen Sexualitäten Der Hass auf Homosexuelle

Gesellschaft

Homo-, Bi- und Heterosexualität sind nicht biologisch bestimmt.

Gay Cowboys in Washington, D.C.
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Gay Cowboys in Washington, D.C. Foto: dbking (CC BY 2.0)

23. April 2014
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Alle Forschungsversuche, die einen Beweis für eine biologische Ursache von Homosexualität liefern wollten, haben sich bemüht, statistische Zusammenhänge zwischen sexueller Neigung und Körpermerkmalen zu finden.

1. Vergrösserte Ohrläppchen, Hodenbeschaffenheit, Gehirnbesonderheiten, DNS-Sequenzen etc. müssten jedoch, selbst wenn innerhalb der untersuchten Gruppe eine Überschneidung bestünde, nicht unbedingt deren Ursache sein. Ein Beweis muss den inhaltlichen Zusammenhang aufzeigen, welcher als statistische Korrelation unmöglich zu erbringen ist. Die Wissenschaft ist bis heute unfähig geblieben, auch nur erste Anhaltspunkte zu liefern, dass sich das sexuelle Begehren aus der Biologie ergibt. Es wird ihr auch nicht gelingen, denn das menschliche Sexualverhalten ist nicht biologisch determiniert; mit nebulösen Hinweisen, das Verhalten sei zu 20, 30, 50 oder 70 Prozent genetisch determiniert, der Rest sei irgendwie Sozialisation, illustrieren entsprechende Wissenschaftler_innen nur den unwissenschaftlichen Charakter ihrer Ausführungen.

2. Die Natur liefert wohl die materiellen Voraussetzungen von menschlicher Sexualität (Körper mit Nerven, Gehirn, Flüssigkeiten usw.), die jeweilige Gesellschaft aber die Bedingungen, unter denen sie stattfindet (in Form der politischen Herrschaft mit ihren Gesetzen und Verordnungen, aber auch als durchgesetzte Vorstellungen, Erwartungen und Sehnsüchte im menschlichen Miteinander, ebenso in Form von Wissen über Sexualität und in den Spielzeugen, Hilfs- und Anregungsmitteln). Die Inhalte und Formen des Sexuellen jedoch – also das, was alle daran interessant finden – entstehen aus dem Denken und Fühlen der Einzelnen, die diese Voraussetzungen und Bedingungen mit eigenen Vorstellungen aufladen, verinnerlichen, übersetzen und interpretieren. Die Menschen gehen geistig-tätig mit der Welt um und sind nicht einfach Wirkung einer Ursache.

3. Das „Natur“-Argument halten viele für so einleuchtend, weil ihnen ihr eigenes sexuelles Begehren als etwas erscheint, was sie nicht ändern können. Falls sich ihre sexuelle Orientierung im Laufe ihres Lebens dann doch einmal verändert, meinen sie in der neuen Form zumeist ihre ureigenste, zuvor unterdrückte, wahre sexuelle Identität zu entdecken. Gerade weil der moderne Mensch in Liebe und Sexualität sein wahres Wesen ausdrücken will und seine Identität darin findet zu sein, wer er ist (und nicht fremdbestimmt), soll seine Sexualität und sein Verlieben eben auch ganz seins sein. Den langen Weg, den jedes bürgerliche Subjekt von seiner Geburt bis zur Entwicklung explizit sexueller Phantasien und Praktiken zurücklegt; die Fülle von Erfahrungen und Entscheidungen; all die sinnigen und unsinnigen Gedanken und Gefühle der Menschen zu ihrem Begehren, den Objekten ihres Begehrens und deren Verhalten – all das erscheint so dem Menschen wie ein langer Weg zu sich selbst und ist rückblickend sinnvoll in die eigene Geschichte eingeordnet. Der Prozess erlischt im Resultat.

4. Politischen Anklang bei der Schwulenbewegung hat die sexuelle Vererbungslehre dadurch gefunden, dass sich damit gegen Therapie- und Bestrafungskonzepte kämpfen lässt – und alle fundamentalistischen Christenmenschen sich dann die Frage gefallen lassen müssen, warum der Herrgott die Schwulen und Lesben so geschaffen hat, wenn er sie denn hasst. Die Vorstellung der Sünde setzt eben den freien Willen voraus, gegen Gottes Gebote verstossen zu können. Wenn Homosexualität vererbt ist, dann kann sie keine Sünde sein. Das Argument ist aber defensiv, oft hilflos, immer dumm und gefährlich und hat im schlimmsten Fall brutale Konsequenzen. Defensiv, weil die Homosexuellen als determinierte Tröpfe vorgestellt werden, die vielleicht ja anders wollen würden, wenn sie nur könnten – anstatt zu sagen, dass es Lust bereitet und auch keinen Schaden anrichtet. Hilflos, weil längst Ideologien entwickelt wurden, um den Widerspruch zwischen göttlicher Schöpfung und angeblich natürlicher Homosexualität zu überbrücken („besondere Prüfung“, „wir lieben Homosexuelle, aber hassen ihren sündigen Lebensstil“ etc.). Ein rechter Moralist wird sich von „schwulen“ Schwänen nicht von seinem Hass auf Homos abbringen lassen. Dumm und gefährlich, weil es einem Biologismus das Wort redet, der alles von der Arbeitslosigkeit bis zum Zungenkuss aus der Abfolge von Aminosäuren erklärt und damit von Menschen gemachte Verhältnisse zu unveränderlicher Natur (v)erklärt. Es hat im schlimmsten Fall brutale Konsequenzen; denn wenn Homosexualität als Übel betrachtet wird, das durch die Natur hervorgerufen wird, kann dies auch zur Konsequenz haben, alle Homosexuellen und sonstigen „Abweichler“ mindestens auszugrenzen und zu ächten – wenn nicht zu vernichten. „Ursachenforschung“ oder: Wo kommen bloss die Heteros her?

5. Die Menschen machen ihre Sexualität selbst – aber sie machen sie nicht aus freien Stücken: Sie können nicht einfach durch Beschluss auslöschen, was ihnen mit und ohne ihren Beschluss widerfahren ist und was sie aus ihren Erlebnissen bewusst und nicht-bewusst gemacht haben. Weil die Psychoanalyse einmal versprochen hatte, genau solche Mechanismen aufzuzeigen und handhabbar zu machen, suchten viele Homosexuelle in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren „Heilung“ bei ihrem Therapeuten. Die Psychoanalyse hatte sich – nur in teilweisem Einklang mit ihrem Begründer – bezüglich der Homosexualität für Jahrzehnte zu einer reinen Hetero-Norm- Durchsetzungstherapie entwickelt. Dabei wurden die albernsten widersprüchlichen psychologischen Theorien über familiäre Bedingtheit von Homosexualität hervorgebracht. Heute ist die vorherrschende Meinung in der Psychologie, Homosexualität sei „multifaktoriell“ verursacht, und sie gibt damit wenigstens zu Protokoll, dass sie auch keine Ahnung hat, woher die Homos (und die Heteros) denn nun kommen.

6. Was nicht weiter schlimm ist – die Frage nach der Ursache oder den Ursachen von Homosexualität ist nämlich blöd. Sie ist fast immer Auftakt zur Pathologisierung oder Verfolgung und macht letztlich Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender zur erklärenswerten Anomalie – anstatt grundsätzlich zu fragen, woher denn das Konzept kommt, ausgerechnet an primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen eines Menschen festzumachen, ob er_sie als Sexual- und Liebespartner_in in Betracht kommt. Denn auch wenn die Beschaffenheit des Körperbaus, die Körperbehaarung und das Vorhandensein eines Penis oder einer Vagina sexuell mehr oder weniger reizvoll sein können: a) Gibt das biologische Geschlecht zu sehr vielen dieser Fragen gerade mal eine Wahrscheinlichkeit an, da Männer und Frauen und Trans*- und Inter*sexuelle glücklicherweise nicht so einheitlich sind, wie die gängigen normativen Vorstellungen behaupten und ist b) die sexuelle Besetzung von körperlichen Attributen nicht unabhängig von den Gedanken und Vorstellungen, die mensch sich darüber macht. Im Übrigen gehen die gängigen Konzepte immer wieder davon aus, dass Liebe und sexuelle Anziehung eigentlich zusammenfallen sollen und müssen. Das ist aber gar nicht so.

7. Homo- und Heterosexualität sind zwei einander entgegengesetzte Konsequenzen aus dem herrschenden Geschlechterverhältnis, nämlich nur eins der beiden anerkannten Geschlechter zu begehren. Daran ist nichts logisch, aber auch nichts weiter verwerflich. Zwar bedeutet es erstmal, einen grösseren Teil der Weltbevölkerung von vornherein nicht sexuell und amourös interessant zu finden. Wäre das die einzige Folge der ganzen sexuellen Identitätshuberei, so würde man wie bei Menschen, die keinen Spinat mögen, die Schultern zucken und sich maximal wundern, warum Geschmäcker so verschieden sein können. Aber die Verhältnisse sind nicht so: Sexuelle Identität ist keineswegs nur ein verfestigtes Geschmacksurteil, sondern eine handfeste Sortierung mit einer blutigen Geschichte und brutalen aktuellen Konsequenzen. Konstruktion und Verfolgung von Homosexualitäten 8. Homosexuelle Handlungen gibt es, seit es sexuelle Handlungen gibt, wann immer mensch das datieren will. Homo-, Bi- und Heterosexualität als fest umrissene, alle anderen Formen des Begehrens ausschliessende Konzepte, die weit über die Frage hinausgehen, mit wem mensch Strohmatte oder Bett teilen mag, sondern das innerste und eigentliche Wesen des jeweiligen Menschen ausmachen sollen, sind hingegen ein Produkt der entwickelten und durchgesetzten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vorher war eine gleichgeschlechtliche Handlung geheiligt, akzeptiert, ignoriert, verdammt und/oder verfolgt, aber es war eben dies: eine Handlung. Das Sichfestsetzen der sexuellen Tätigkeit, diese Konsolidation des eigenen Handelns zu einer kategorialen und sachlichen Gewalt über Menschen, die ihrer Kontrolle entwächst, eventuell ihre Erwartungen durchkreuzt und Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente der geschichtlichen Entwicklung von der „Sünde“ zur „Perversion“, von jemandem, der die „Sünde Sodoms“ begeht, zu einem Menschen, der „homosexuell“ ist. Die Identifikation bestimmter Sexualpraktiken, Eigenschaften und Verhaltensweisen mit Homo- und Heterosexualität folgt auf dem Fusse.

9. Es würde zu weit führen, hier eine Geschichte des gleichgeschlechtlichen Begehrens durch die verschiedenen vorkapitalistischen Produktionsweisen und vor- und frühbürgerlichen Herrschaftsformen zu versuchen. Das Zusammenspiel von Herrschaftsinteressen und -konkurrenzen, durchgesetzter Sittlichkeit (inklusive Religion), Stabilisierung der jeweiligen Geschlechterverhältnisse und Kämpfen zwischen und innerhalb der jeweiligen Klassen um den Reichtum der Gesellschaften und ihrer Verlängerung in die verschiedensten Bereiche entzieht sich in der Allgemeinheit der systematischen Bestimmung. Was aber ein Blick in die Geschichte von sexuellen Handlungen immerhin leistet, ist dies: Er widerlegt das fromme Gerücht, in früheren naturverbundeneren Zeiten hätten die Menschen sich immer nur so sexuell betätigt, wie es sich das moderne konservative und faschistische Pack wünscht, und die heutige „Sittenverderbnis“ sei ein Produkt moderner Entfremdung von den „Naturgesetzen“. Die Apologeten einer Vergangenheit, die es nie gab, wird mensch damit zwar nicht treffen, andere Leute aber mögen ins Denken kommen.

10. Freilich besteht kein Grund, diese Zeiten schwärmerisch zu idealisieren: Dass in der europäischen Antike für freie erwachsene Männer alle denkbaren Körperöffnungen aller anderen Menschen zur sexuellen Befriedigung zur Verfügung standen, ist keine vom Identitätszwang befreite Sexualität, also jenes freie Spiel der Lüste, das vernünftig wäre, sondern ein patriarchales Gewaltverhältnis gewesen. Nicht anders verhält es sich mit irgendwelchen Initiationsriten bei „den“ Germanen oder sonstwo, und selbst wo bei den Native Americans dritte und vierte soziale Geschlechter die Möglichkeit boten, sich nicht vom biologischen Geschlecht festlegen zu lassen, welche Rolle mensch in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu spielen hatte, war dies ja nicht das Heraustreten aus den Zuordnungen. Sexuelle Befreiung kann ihre Ziele nicht in der Vergangenheit finden.

11. Dass das Bürgertum seinen politischen Aufstieg nicht nur politisch, (a-)religiös und ökonomisch legitimierte, sondern auch sittlich; und dass alle Formen der Sexualität, die nicht auf die monogame, lebenslängliche, romantische Zweierbeziehung mit Kinderwunsch hinausliefen, gleichermassen die Dekadenz des Adels wie die Animalität der unteren Klassen zeigten und somit den Herrschaftsanspruch der Bourgeoisie illustrierten, ist nur das eine. Mit der Durchsetzung der Konkurrenz aller um den gesellschaftlichen Reichtum als eines ökonomischen Prinzips wurde gleichzeitig ein „Normalmass“ für Konkurrenzsubjekte durchgesetzt: „weiss“, männlich, gesund, heterosexuell, Staatsbürger mit gewisser Bildung und eigenen Rücklagen. Der Kampf aller möglichen Gruppen um gleichberechtigte Teilnahme an dieser Konkurrenz und Anerkennung als vollwertige Staatsbürger_innen mag dies in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften etwas aufgeweicht haben, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sich ein wenig verschoben haben. Die traditionelle Fassung des Ideals eines erfolgreichen bürgerlichen Konkurrenzsubjekts, das sich weder von Gefühlen noch von seiner Lust beherrschen lasse, mit der falschen Vorstellung, die richtige Haltung sei eine Erfolgsgarantie, ist weiterhin gültig und ist höchstens leicht modifiziert worden.

12. Die Furcht, von den Angehörigen der produzierenden Klassen könnte es zu wenige geben, weil sie sich der Erzeugung zukünftiger Untertanen und Arbeitskräfte verweigerten, hat viele Herrschaften bewegt, gerade dann, wenn sich die Lebensumstände der unteren Klassen verschlechterten. Darum sind auch schon vorbürgerliche Herrschaften – und zwar ganz unabhängig von den sexuellen Vorlieben der jeweiligen Führungsfiguren – auf die Idee gekommen, das sexuelle und reproduktive Verhalten zu steuern. Dass dabei nicht nur Kindertötung, sondern auch Abtreibung und Verhütungswissen, und sogar „unproduktives“ Sexualverhalten in den Fokus der Herrschaft gerieten und verfemt und verboten wurden, war folgerichtig. Dass die bürgerliche Herrschaft hier noch ganz anders und deutlich totalitärer zuschlug, weil sie die Bevölkerung als zu bewirtschaftende Ressource der Kapitalvermehrung entdeckte und als notwendigen Pfeiler der Herrschaftssicherung noch ganz anders in Beschlag nahm, kann kaum verwundern, ebenso wenig wie die vielfältigen ideologischen Radikalisierungen, die nicht immer funktional waren.

13. In früheren Tagen betrachtete der bürgerliche Staat Sexualität als potentielle Gefahr für die Gesellschaft. Er forderte Unterordnung, Verzicht, Bescheidenheit und Unterwerfung. Da passte eine Sexualität, die „nur“ auf Lust aus war und keine Arbeitskräfte, Untertanen und Soldaten zu versprechen schien, nicht recht ins moralische System. Entsprechend ging der Staat dagegen vor und liess nur eine einzige alternativlose Weise zu, die Sexualität sozial anerkannt und staatsdienlich auszuüben: die Ehe. Dass er in ihr und ihrer Verlängerung, der Familie, seine Keimzelle sieht, sich dauernd Sorgen macht, dass das bedingungslose Für-Einander-Einstehen aufgrund von Liebe und Verwandtschaft aufgefressen wird von jener Konkurrenz, die es nötig macht – das hat sich auch in jüngsten Tagen nicht geändert. Neue Rolle der (Homo-)Sexualitäten

14. Heute aber hat der moderne bürgerliche Staat Sexualität als eine weitere Tröstungsquelle akzeptieren gelernt. Er will Bürger_innen, ja notfalls sogar Bürger_innen, die ihr Leben als Chance zur Selbstverwirklichung sehen, auch zur sexuellen. Geändert hat sich darüber auch sein Blick auf jene Bürger_innen, die er vorgestern noch im Verdacht hatte, die öffentliche Ordnung zu gefährden, Jugendliche zu verführen und generell Manneskraft, weibliche Fügsamkeit und soldatische Tugenden zu schwächen, und die er gestern herablassend ausgrenzte, weil sie sich ja nur um ihr Vergnügen kümmerten und sich genau den sittlichen Pflichten entzögen, auf die es ihm ankam. Er traut ihnen nunmehr das zu, was er früher noch bezweifelte – und so hat der „bindungsscheue Schwule“ der gleichgeschlechtlichen Bedarfsgemeinschaft mit wechselseitiger Unterhaltsverpflichtung nach Hartz IV Platz gemacht. Das hat dann auch zur Verschiebung der Argumentation geführt: Die Staatsagenten haben es aufgegeben, Schwulen generell Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, wo diese doch dauernd darum kämpfen, füreinander Verantwortung übernehmen zu dürfen. Jetzt geht das Ressentiment eher so: Schwule seien zur Verantwortungsübernahme für kleinere Menschen sittlich-moralisch per se nicht in der Lage, sondern benutzten Kinder nur zur Selbstverwirklichung – bekanntlich ganz anders als die heterosexuellen Eltern, die ja nur ans Grosse und Ganze denken, wenn sie Nachwuchs produzieren.

15. Vorangegangen war dem, dass ab Mitte der 1960er Jahre die westlichen Staaten die Regulierung der Sexualität ihrer Bürger nicht aufgaben, sondern nach neuen Prinzipien gestalten. Danach nahm die polizeiliche Überwachung und Verfolgung der Homosexualität stark ab und hörte dann irgendwann, spätestens in den 1990er Jahren, auf. Dadurch wurde erst eine öffentlich sichtbare schwule und auch lesbische Subkultur ermöglicht, die noch ganz davon lebte, ein Gegenentwurf zu den sexualmoralischen Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, und die ein Mass an Befreiung ermöglichte, von dem Veteran_innen noch heute sehnsuchtsvoll berichten. Sie war aber zugleich eine Illustration der Tatsache, wie sehr auch die Aufstände und Übertretungen noch den Konventionen gehorchen, gegen die sie sich subjektiv richten: Denn das in den 1970ern entworfene Modell z.B. des Schwulen nahm immer wieder Bezug auf die Klischees der bürgerlichen Gesellschaft.

16. Genau diese Subkulturen wurden in West- und Nordeuropa, Kanada, Australien und Neuseeland – nicht aber in den USA – nach dem Auftauchen von AIDS in den 1980er Jahren wichtige Juniorpartner des Staates beim Kampf um die Volksgesundheit und zugleich auch zu Vermittlern bürgerlicher Normen in den Rest der schwulen Szene hinein. Heute sind viele verbliebene Schwulenorganisationen weit entfernt von jeglicher Kritik an der Gesellschaft, um deren vollständige Anerkennung ihrer Liebes- und Lebensweisen sie so hartnäckig kämpfen. Die lesbische Subkultur hat sich dagegen im Rahmen der feministischen Bewegung entwickelt und ist so angepasst und unangepasst wie diese; sie ist deutlich weniger Adressatin sexualpädagogischer Bemühungen des Staates.

17. Unbestritten ist das Leben von Schwulen und Lesben in westlichen Staaten heute sehr viel einfacher als noch vor ein paar Jahren. Nach wie vor aber sind Hetero- und Homosexualität Sortierungen, aus denen eine Menge Leid und Gewalt folgen. Wenn das Pochen auf diese Identitäten die Massen ergreift, werden sie selbst eine materielle Gewalt – auch gegen die, die sie nicht teilen. Die neue Toleranz…

18. Jenseits der Bilderbuchmalereien in Hochglanzbroschüren gibt es noch eine wirkliche Welt voller Ignoranz, Projektion und auch noch immer direktem und deutlichem Hass und Ekel. Die heterosexuelle Vorannahme verunsichert auch heute noch Homosexuelle in modernen westlichen Gesellschaften und zwar nicht erst, wenn Schwule und Lesben zusammengeschlagen werden. Dass homosexuelle Jugendliche sich häufiger selbst töten und verletzen, ist unbestritten. Die permanente, gar nicht immer bös gemeinte oder absichtliche Zurückweisung und Ausgrenzung „Anders“liebender und -vögelnder bringt so ihre Macken und Merkwürdigkeiten hervor, genau wie, wenn auch anders, das heterosexuelle Geschlechts- und Liebeslebens und homosexuelle Versuche, es zu imitieren, ihre brutalen Konsequenzen habe. Es gibt keine befreite Sexualität in repressiven Verhältnissen.

19. Wie jede Gruppe eignet sich auch die Gruppe der Homosexuellen zur Projektion. Mit scheinbar positiven Urteilen, wie z.B. dass sie kreativer (Schwule) oder durchsetzungsstärker (Lesben) als ihre Geschlechtsgenoss_innen seien, können viele Betroffene vielleicht besser leben als mit anderen Attributen, mit denen sie belegt werden – ein Ideal, dem mensch zu entsprechen hat, ist damit aber aufgestellt. Wie leicht die Verwandlung scheinbar positiver oder neutraler Zuschreibungen in negative funktioniert, wenn eine Gruppe erst einmal als „anders“ definiert ist, kann mensch an den verschiedensten Gruppen durchdeklinieren; auch Komplimente können in ein Anderssein einsperren, das mensch sich nicht ausgesucht hat und auch nicht aussuchen wollte.

20. Männer und Frauen müssen auch in westlichen Staaten häufig um ihre Gesundheit fürchten, wenn sie als „schwul“ bzw. „lesbisch“ bezeichnet werden. Ekel wird beiden entgegengebracht – im Umgang mit lesbischen Frauen kommt noch stärker eine Ignoranz etwa in Form der Einordnung als vorübergehende Phase hinzu. Das hat seine dumme Logik: Wo Sexualität in erster Linie als Eiertanz um den Schwanz begriffen wird und nur erfolgreicher Steckkontakt als wirklicher Sex gilt, da zählt alles andere nichts und wird nicht als bedrohlich empfunden. Anders als durch phallische Selbstüberschätzung lässt sich die Furcht vor der „Verführungskraft“ schwuler Sexualität nicht erklären. Auch die relative Gelassenheit vieler Heteromänner gegenüber lesbischer Sexualität mag daher rühren – die freilich nur so lange währt, wie die männliche Verfügungsgewalt über weibliche Körper nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Dann schlägt sie häufig in brutale Gewalt („correctional rape“) um.

21. Der Heterror beginnt früh. „Schwul“ ist z.B. bei Kindern und Jugendlichen erst einmal alles, was irgendwie doof ist und nicht funktioniert – und gilt als mit das Schlimmste, was einem Jungen überhaupt nachgesagt werden kann. Aber Schwul-Sein ist mehr als nur „doof“: Das Schlimmste an der männlichen Homosexualität scheint immer noch zu sein, dass sich dort Männer ficken lassen. Denn das wird gewöhnlich Frauen zugeschrieben und ist insoweit eine Verletzung der Geschlechterrollen. Und „gefickt zu werden“, mittlerweile Ausdruck dafür, mit jemandem etwas zu tun, was der nicht wollen kann, das ist eben das Aufgeben der Herrschaftsposition, das Zum-Objekt-Werden. Daran auch noch Spass zu haben und nicht der coole, kontrollierte und kontrollierende Mann zu sein, das widerspricht dem saublöden Männlichkeitsideal nicht nur der meisten männlich sozialisierten Menschen. Diesem Ideal zu entsprechen erfordert einiges an Durchhaltevermögen und Opferbereitschaft – und diejenigen, die damit brechen, können als Bedrohung empfunden werden: Eben weil sie die Möglichkeit des Andersseins verkörpern, wo mann sich mit solcher Mühe zugerichtet hat. Deshalb haben Schwule von der blöden Anmache bis zum Zusammengeschlagen-Werden einiges durchzumachen.

22. „Lesbisch“ als Schimpfwort wird zwar unseres Wissens nicht als Synonym für „scheisse“ gebraucht, doch z.B. in der Schule als „Lesbe“ verschrien zu sein, ist beleidigend gemeint und isoliert die Person in der Regel. Händchenhalten unter Mädchen wird zwar in westlichen Ländern anders betrachtet als unter Jungs. Aber werden aus „spielenden Mädchen“ irgendwann „Lesben“, trifft sie ebenfalls körperliche Gewalt und auf jeden Fall eine Menge Verachtung. Diese Ablehnung hängt – entsprechend dem Geschlechterbild – auch damit zusammen, dass sich einerseits in den Augen der Macker lesbische Frauen der männlichen Verfügungsgewalt als Sexualobjekte entziehen, andererseits damit, dass lesbische Frauen ihre Funktion und Rolle als Frau und Mutter, die in den Augen eines Grossteils der Gesellschaft ihre eigentliche Aufgabe wäre, prinzipiell nicht erfüllen.

23. Und täuschen wir uns nicht: Dass das traditionelle Geschlechterverhältnis, zu dessen Stabilisierung der Hass auf Homosexuelle dient, für Frauen – um es vorsichtig zu formulieren – in der Regel ein schlechtes Geschäft ist, heisst weder, dass alle Frauen scharfsichtige Kritikerinnen dieser Verhältnisse wären, noch dass sie deswegen nicht homosexuellenfeindlich sein könnten. Genau wie viele Männer sich als „Männer“ zurichten und zugerichtet werden, finden sich viele Frauen nicht einfach nur damit ab, was diese Gesellschaft so von „Frauen“ erwartet, sondern internalisieren und verteidigen das nicht minder bescheuerte bürgerliche Weiblichkeitsideal. Die Sprecherposition als „Mutter und Frau“, die die Werte der Familie verteidigt und Kinder und Jugendliche beschützen will, hat immer wieder Frauen in die Sprecherposition antihomosexueller Bewegungen gebracht. Egal ob in der russischen Duma oder auf den Strassen Frankreichs sind auch Frauen kräftig mit dabei, gegen Homosexuelle und ihre Rechte zu kämpfen. Wobei interessanterweise auch hier häufig der Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Schwulen und ihrer Gleichberechtigung, insbesondere bei der Adoption, liegt.

24. Die rechtliche Anerkennung bis hin zu einem gewissen Wohlwollen des Staates hat der Homosexualität für viele nichts an Bedrohlichkeit genommen. Gerade weil Homosexualität heute eine Option ist, die nicht mehr vollständige Verfemung und Ächtung mit sich bringt, haben religiöse Knaller_innen aller Schattierungen im Bündnis mit Konservativen und Faschist_innen die Gefahr einer „seuchenartigen Ausbreitung“ von Homosexualität und eines Verfalls der klaren Geschlechtergrenzen erkannt. Die faszinierte Angstlust, die hinter solchen Sorgen lauert, und die implizite Aussage über die Trostlosigkeit des ehelichen heterosexuellen Geschlechtslebens soll uns nicht interessieren. Dennoch geht fehl, wer hier nur psychische Mechanismen und nicht auch Ideologie am Werke sieht. Die Damen und Herren sind nicht „homophob“, sie leiden nicht unter einer Angstzwangs„störung“, auch wenn ihnen ihr eigener Hass unwillkürlich und ihr Abscheu – na klar – „natürlich“ vorkommt. Ihr Verhalten ist gelernt und verdankt sich ihren politischen und sittlichen Überzeugungen.

25. Kein Zufall ist es, dass die Attacken auf homosexuelle Emanzipation zumeist im Namen der „Familienwerte“ geführt werden. Hier sind Homosexuelle nicht nur Sinnbilder der Erosion der „Keimzelle des Staates“, sondern darin und damit auch eine Bedrohung für einen Solidarverband, der, weil auf „Blut“ und „Abstammung“ beruhend, unhinterfragbar sein soll, dessen Mitglieder bedingungslos „ja“ zueinander sagen, sich nicht als kalkulierende Konkurrenzsubjekte zueinander verhalten, sondern vielmehr kräftig Opfer füreinander bringen, wenn sie gemeinsam durch dick und dünn gehen. Die zumeist repressive und häufig kleinlich-gehässige, oftmals auch neidisch-konkurrenzerfüllte Realität, die die staatliche Indienstnahme des privaten Lebens für Staat und Kapital zeitigt, tut der Attraktivität dieses Ideals wenig Abbruch. Dass nun ausgerechnet Homosexualität als Angriff auf diese „Blutsbandenbildung“ angesehen wird, hat mit den realen Homosexuellen nicht allzuviel zu tun. Diese stehen – egal wie gut sie sich mit ihren Eltern und Geschwistern verstehen oder selbst eine Familie gründen wollen – symbolhaft für Leute, die keine Opfer bringen und sich keine traditionellen Verpflichtungen aufhalsen lassen, nur ihren Spass haben (wollen), sie stehen für Individualisierung und Marktnonkonformität, für Entscheidungen und Kalkulationen über Formen des Zusammenlebens. Es wäre untersuchenswert, ob der Furor gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans- und Intersexuelle dort stärker ist, wo die Familie das wesentliche soziale Sicherungssystem darstellt.

26. Weltweit ist zum Optimismus in Sachen Emanzipation kaum Anlass vorhanden. In vielen, nicht nur islamischen, Staaten wird homosexuelle Emanzipation als Zersetzung und Zerstörung der Nation gesehen – und entsprechend Homosexuelle als Gefahr behandelt, verfolgt und bestraft. Diese Regimes haben materiell ihren Bürger_innen wenig bis nichts zu bieten, oft nicht einmal die schäbige Möglichkeit, sich für fremden Reichtum krummzuschuften. Entsprechend scharf sind diese Nationen auf die nationalistische Selbstunterwerfung ihrer Staatsbürger_innen und bekämpfen den westlichen „Individualismus“; das heisst, das freche Märchen, im Kapitalismus gehe es dauernd nur um das Streben nach individuellem Glück, wird als Bedrohung der Aufopferung für Staat und Glauben gegeisselt. Die Schwulen – weniger die Lesben – werden heute als Repräsentanten dieses Modells verfolgt: Zerstörer der traditionellen Werte, Familien-, Ehe- und Nachwuchsverweigerer, Schwächer der männlichen Kampfkraft für Nation und/oder Umma.

27. In vielen Ex-Kolonien wird Homosexualität als Produkt des Kolonialismus dargestellt. Homosexuelles Verhalten lässt sich in diesen Gesellschaften zwar fast immer auch schon vor der europäischen Kolonialisierung nachweisen, z.T. besungen und gepriesen, z.T. auch einfach als selbstverständliche Durchgangsphase vor allem männlicher Sexualität verschwiegen. Die dortigen Schwulen und Lesben haben aber das Pech, als Symbole für koloniales Erbe, westliche Dekadenz und vor allem fehlende reproduktive Pflichterfüllung herhalten zu müssen. Parallelen zu der ekligen Scheisse, die die europäischen Nationen bereits im 19. Jahrhundert auf, mit, durch und gegen ihre(r) Bevölkerung aufgehäuft haben, sind kein Zufall. Und im Gegensatz zur Kapitalakkumulation, die nicht gelingt und in der Masse auch gar nicht gelingen kann, brauchen sie bei der moralischen Volksertüchtigung nicht zu befürchten, in der Konkurrenz zu unterliegen – höchstens, dass die imperialistischen Länder hin und wieder ihren Unwillen über mangelnde Botmässigkeit in Form von Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen kleiden. Und dabei haben auch Länder, die vor 30 Jahren selber noch Schwule in den Knast gesteckt haben, die Homofrage als imperialistischen Einmischungstitel entdeckt.

28. Aber warum in die Ferne schweifen, wo die Scheisse liegt so nah. Auch innenpolitisch werden Fragen der „Integration“ von Migrant_innen nun des Öfteren mit der Homofrage verbunden. Ein_e Rassist_in, der/die sonst an nichts weniger interessiert sein könnte als an Homophobie und hier und da auch mal selbst einen Spruch gegen Schwule und Lesben macht, fühlt sich nun bemüssigt, Homophobie auf einmal an allen möglichen Ecken und Enden auszumachen – aber ausschliesslich in der migrantischen Community. Andere wiederum machen sich grosse Sorgen, dass die ja so repressiven, dafür aber fruchtbareren Migrant_innen am Ende die tolerante, aber durch Homosexualität und Gender-Mainstreaming geschwächte westliche Gesellschaft übernehmen, und plädieren – selbstverständlich im Namen der Freiheit – für ein ordentliches konservatives Moralprogramm. Dass die Pfaffen und die Popen in Süd- und Osteuropa versuchen, auf dem Rücken von Homo-, Trans- und Intersexuellen ihren Einfluss festzuschreiben – am liebsten gekleidet in pseudokapitalismuskritisches Gewäsch – kommt noch hinzu. Glaube also keine_r, es gebe eine unaufhaltbare, unumkehrbare und stabile Entwicklung in Richtung von auch nur Toleranz oder Akzeptanz, geschweige denn Vernunft.

Gruppen gegen Kapital und Nation