Suchterzeugung als tragende Säule herrschender Ökonomie Der glückliche Mensch als ökonomische Katastrophe

Gesellschaft

Wer heute als Konsument nicht süchtig ist, schadet der Wirtschaft. Wer im harten globalen Konkurrenzkampf sein Unternehmen erfolgreich führen will, muss alle Register der Suchtproduktion ziehen. Das moderne Marketing stellt dazu die Mittel zur Verfügung.

Keleti Ostbahnhof in Budapest, Ungarn.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Keleti Ostbahnhof in Budapest, Ungarn. Foto: Németh Tibor (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

27. Oktober 2014
1
0
5 min.
Drucken
Korrektur
In der Antike spielte die Eudämonie, das Glück, das seelische Wohlbefinden, eine zentrale Rolle. Eudämonismus hiess die philosophische Lehre, die Glück als zentrales Motiv und Ziel allen Strebens benannte. Sokrates und Epikur waren ihre prominenten Vertreter. Doch wie steht es heute um die Eudämonie, das Glück, das seelische Wohlbefinden? Der Werbeslogan einer grossen deutschen Drogeriemarktkette lautet: «Müller macht glücklich». Doch soll Müller oder irgendein anderer Produktanbieter überhaupt glücklich machen? Selbstverständlich nicht. Es bedarf nicht sehr viel Phantasie, um sich auszumalen, welche wirtschaftliche Katastrophe sich heute einstellen würde, wenn die Menschen durch den Konsum von Produkten wirklich glücklich werden würden. Der glückliche Mensch ist nämlich auch zufrieden mit sich selbst und mit dem, was er besitzt. Er müsste nicht arbeiten, weil er alles hat, was er braucht, und weil dem so ist, müsste er auch nichts kaufen – einige Verbrauchsgüter wie Nahrung ausgenommen.

Der wahrhaft glückliche Mensch wäre heute eine Katastrophe. In aktueller Terminologie ausgedrückt würde er sowohl als Produktionsfaktor, als auch als Konsumfaktor ausfallen. Unsere heutige Wirtschaft wäre am Ende. Insofern ist die Verhinderung glücklicher Menschen eine der zentralen Aufgaben unserer heutigen Gesellschaft. Unglücksproduktion als wirtschaftliche Überlebensstrategie ist die aktuelle gesellschaftliche Basis. Millionen von Menschen sind mit nichts anderem beschäftigt als Unglück zu schaffen und zu erhalten, und genau weil sie darin erfolgreich sind, werden sie gut bezahlt. Wer wahrhaftes Glück schafft, fliegt raus.

Zur Verständlichkeit will ich ein paar Beispiele bringen. Es gibt eine Dialektik von Glück und Glücksversprechen. Treffend ist das Bild vom Eselskarren, der deswegen zum Laufen gebracht wird, weil sein Besitzer, auf dem Karren sitzend, dem Esel an einem langen Stab eine Möhre vor das Gesicht hält. Der Esel versucht diese zu erreichen, was freilich misslingt, aber der ständige Versuch, nach der Möhre zu schnappen, setzt eben das Gespann in Bewegung. So stellt sich das vom Besitzer erwünschte Ergebnis ein. Und genau nach diesem Bild funktioniert das Verhältnis von Konsum und Glück. Nur wer im Unglück lebt, ist empfänglich für alle möglichen Arten von Glücksversprechen. Und weil man den Konsumenten nicht verlieren will, kann es gar nicht darum gehen, ihn glücklich und zufrieden zu machen, sondern dauerhaft gierig nach den jeweiligen Produkten. Diese dienen somit der Schaffung und Erhaltung des Unglücks und haben lediglich die Qualität von Glücksversprechen. Die Produkte versprechen Glück, lösen es aber nicht ein.

Suchterzeugung als tragende Säule herrschender Ökonomie

Dieses Phänomen wird traditionell mit dem Begriff Sucht bezeichnet. Und genau darum geht es. Jeder kennt den Gemeinplatz, der Kunde sei König, man müsse ihn zufrieden stellen, sonst laufe er einem davon. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Ein unzufriedener Kunde läuft in der Tat davon. Ist die Zufriedenheit gar zu gross, bleibt er jedoch ebenso fern. Diese berechnende Art der Zufriedenstellung ähnelt allerdings der, die den Süchtigen mit seinem Dealer verbindet. Unverdeckt ehrlich spricht der Marketingfachmann auch vom „Anfixen“ potentieller Kunden und gesteht damit offen ein, dass er gar nicht vorhat, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Zuverlässig Süchtige sollen hervorgebracht werden, das heisst Menschen, die eine Tendenz haben, ständig die Drogendosis steigern zu müssen. Unsere heutige Wirtschaft fusst auf der Sucht nach glückversprechenden Gütern. Wie jede Sucht erzeugt auch diese beständig ihre Voraussetzungen selbst, in diesem Fall die Abwesenheit von Glück.

In vielen Produktbereichen, zum Beispiel bei Uhren, Spielzeug, Porzellan, Autos, mittlerweile auch bei Verbrauchsgütern wie Mitteln zur Körperpflege oder Nahrungsmitteln, erhält man sich Kunden zum Beispiel durch Limited Editions. Man packt sie erstens bei der Sammlerseele, denn diese strebt nach Vollständigkeit, und zweitens wird dem Konsumenten suggeriert, das gekaufte Gut könnte in Zukunft eine Wertsteigerung erfahren. Oder betrachten wir die Seifenopern oder die Mode: Sind sie nicht seit langer Zeit auf Suchtkonsum angelegt? Auch durch gezielte Gutschein-, Rabatt- und Geschenkvergabe bringt man Menschen dazu, Dinge zu kaufen, die sie unter anderen Bedingungen liegen lassen würden. Man nennt dies heute euphemistisch: «Strategien der Kundenbindung». Übrigens gilt hier, dass dies am besten bei Menschen gelingt, die ich-schwach sind, also vor allem bei Kindern. Deswegen sind sie aktuell eine der zentralen Zielgruppen der modernen Marketingstrategen. Ob jemand im späteren Leben einen BMW oder einen Mercedes fährt, Nike oder Adidas trägt, entscheidet sich im Kindesalter.

Kuschelindustrie als Trostpflaster

Ein weiteres Phänomen ist eng mit der Suchtproblematik gekoppelt: Da immer mehr Menschen gezwungen sind, in prekären Lebensverhältnissen ihr Dasein zu fristen, boomt verständlicherweise das Geschäft mit der Angst, genauer formuliert, das Geschäft mit dem Versprechen von Sicherheit und Geborgenheit. Eine riesige Industrie an Versicherungen aller Art, Alarmanlagen, Überwachungskameras usw. ist entstanden. Ebenso hat die Quantität der Deko- und Kuschelware zugenommen. Waren Kuscheltiere früher vor allem Übergangsobjekte für Kinder, findet man heute kaum mehr eine Damenhandtasche oder einen Herrenrucksack, an dem nicht irgendein Plüschtier hängt. Egal, ob gerade Valentinstag, Ostern, Halloween oder Weihnachten ist, die jeweilige Dekolawine rollt. Zwar ist es ein Gemeinplatz, dass der Zweck ökonomischen Handelns die Verwertung des Werts ist, die heutige Dominanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert der Ware kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es andererseits einen Tauschwert ohne Gebrauchswert eben auch nicht geben kann.

Der Gebrauchswert, den die Produkte der Kuschel- und Dekoindustrie transportieren, ist die Emotion der Geborgenheit. Da nun freilich ein Plüschbär, eine Holzente oder ein mystischer Indianer-Federschmuck einem die Angst vor Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und Einsamkeit nicht wirklich nehmen können, gilt auch hier höchste Suchtgefahr. Es scheint so zu sein, dass lediglich im Kaufakt selbst der Konsument, ganz kurz, die Emotion der Geborgenheit erfährt. Er spürt, dass er noch Teil der sozialen Welt ist. Nach dem Verlassen des Ladens ist die Emotion bereits wieder verpufft, und der Zwang zur Wiederholung stellt sich ein. Ein glücklicher und zufriedener Mensch hat in dieser Konstellation nichts verloren. Er ist nicht nur unzeitgemäss, sondern auch verdächtig und unerwünscht, und daher möglicherweise bald gefährdet.

Thomas Friedrich

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.