Nein – Armut abschaffen! Den Sozialstaat verteidigen?

Gesellschaft

Der Sozialstaat hat bei einigen Menschen (und vielen Linken) einen guten Ruf. Ihn gälte es zu verteidigen und auszubauen, um zu einem guten Leben für alle zu kommen.

Den Sozialstaat verteidigen? Nein – Armut abschaffen!.
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Den Sozialstaat verteidigen? Nein – Armut abschaffen!. Foto: Dario Trimarchi (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

12. November 2015
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Die wenigsten Leute versuchen sich hingegen zu erklären, welchen Zweck der Staat mit seinen sozialen Massnahmen verfolgt.

Um sich den Sozialstaat zu erklären ist zunächst die Frage wichtig: Wieso braucht es ihn überhaupt? Weil es so viel Armut gibt. Doch wieso gibt es so viel Armut? Die Antwort darauf ist weniger leicht zu geben. Denn objektiv betrachtet ist die Welt voller Reichtum: Die Bäckereien sind bis oben gefüllt, es gibt eher ein Überangebot an Mode als Mangel, Saturn und MediaMarkt sind voll mit dem neuesten technischen Schnickschnack, Konzerne kämpfen teilweise mit Absatzschwierigkeiten. Wo liegt also das Problem?

Problem: Recht auf Eigentum

Das Problem ist das Recht auf Privateigentum, das den bürgerlichen Staat kennzeichnet. Recht auf Privateigentum heisst: Ich kann mit dem, was ich mein Eigentum nenne, verfahren, wie ich will. Andere haben da nicht mitzureden. Das heisst: die Anderen sind ausgeschlossen von der Verfügungsgewalt.

Die Verfügungsgewalt über Sachen wird in der Regel genutzt, um andere zu erpressen. Es heisst dann z.B., „Entweder du gibst mir so und so viel Geld, oder ich lasse meine Wohnung weiter leer stehen.“

Dieses Erpressungsverhalten stellt jedoch keine Bösartigkeit von Menschen dar. Wenn ich über eine Wohnung verfüge, fehlt mir doch einiges anderes, um überleben zu können (Nahrung, Kleidung, …). Beim Versuch, an diese Notwendigkeiten zu kommen, werde ich selber erpresst.

Bei all den gegenseitigen Erpressungen werden die Bedürfnisse der Mitmenschen ausgenutzt, um so an Geld zu kommen und darüber wieder Zugriff auf das zu haben, von dem man selber ausgeschlossen ist. Dieses System umfassender Erpressung ist sehr ungemütlich. Statt gemeinsam zu schauen, wie man Bedürfnisbefriedigung am besten bewerkstelligt, erpressen sich alle gegenseitig – klar, da ist an ein angenehmes Miteinander kaum zu denken.

Klar ist auch: Diejenigen, denen man gar kein Geld abpressen kann, bleiben auf der Strecke. Denn wenn der Zweck der Erpressungen der Gelderwerb ist, dann fallen die Bedürfnisse der Menschen, die überhaupt keines haben, automatisch unter den Tisch.

Es kommt noch schlimmer: Lohnarbeit

Zu dieser ungemütlichen Angelegenheit gesellt sich noch weiteres: Die Mehrheit der Menschen verfügt kaum über Eigentum. Sie sind durch das Recht auf Privateigentum vollkommen verarmt, weil ausgeschlossen von allem stofflichen Reichtum (nützliche Sachen). Das einzige Eigentum, das die Mehrheit ihr Eigen nennt: „Ich hab' mich“. Doch wie mithilfe dieses Eigentums an Geld kommen, das man benötigt, um an Brötchen und Obdach zu kommen (man kriegt das alles ja nur, wenn man den jeweiligen Eigentümern Geld rüberschiebt)? – Man kann versuchen, die eigene Arbeitskraft zu verscherbeln.

Während mir nach dem Verkauf einer gewöhnlichen Ware egal ist, was mit ihr danach geschieht, ist das bei der Ware Arbeitskraft ganz anders: Denn die Arbeitskraft gibt es nicht losgelöst vom jeweiligen Menschen. Wenn eine Arbeitskraft geschädigt wird, dann ist das identisch mit einer Schädigung des jeweiligen Menschen.

Aus einem weiteren Grund ist die Arbeitskraft eine einzigartige Ware: Sie ist die Quelle allen stofflichen Reichtums. Das Brötchen kann keine Strasse bauen, aber Menschen können das, indem sie arbeiten. Mithilfe der menschlichen Arbeitskraft werden Brötchen gebacken, Häuser errichtet, Hosen genäht etc.

Und diese Eigenschaft, Quelle an stofflichen Reichtums zu sein, erklärt, warum es Käufer für die Arbeitskraft gibt: Unternehmen kaufen Arbeitskräfte, damit die Arbeiter dann unter ihrem Kommando Waren erzeugen; die erzeugten Waren sollen dann mit Gewinn verscherbelt werden.

Was wie eine Win-win-Situation aussieht, ist in Wahrheit ein knallharter Gegensatz: Die Arbeiter wollen und brauchen so viel Lohn als möglich, damit sie an Essen, Obdach und andere nützliche Dinge rankommen. Die Unternehmen wollen aber so wenig Lohn als möglich zahlen, denn Lohnkosten sind immer ein Abzug vom Gewinn.

Das Ganze wird noch weiter verschärft: Denn ein Unternehmen ist nicht alleine, sondern hat in der Regel Konkurrenz. Diese Unternehmen konkurrieren gegeneinander um die gesellschaftliche Zahlungsfähigkeit – also Geld. Enorm wichtig in der Konkurrenz sind die Lohnstückkosten (= Lohnkosten pro Warenstück). Wer diese senkt, kann sein Produkt billiger verkaufen und somit mehr Zahlungsfähigkeit auf sich ziehen – die Konkurrenz verliert. Doch natürlich versucht die Konkurrenz wieder aufzuholen: wiederum durch Senkung der Lohnstückkosten. Das heisst: Unternehmen senken Lohnstückkosten kontinuierlich, um damit dauerhaft in der Konkurrenz gut dazustehen. Das ist für die ArbeiterInnen ausgesprochen unerfreulich – mehr noch: Es ist existenzbedrohend. Denn mit dem Lohn müssen die ArbeiterInnen ja ihr Leben bestreiten.

Unternehmen wissen auch sonst Kosten zu senken: Sie sparen beim Arbeitsschutz, denn auch diese Ausgaben sind ein Abzug vom Gewinn. Die Pausen sollen so kurz sein als nur möglich usw.

Menschen, die aber nichts ausser ihrer Arbeitskraft ihr Eigen nennen, haben keine andere Wahl, als sich das gefallen zu lassen, da sie nur durch ihren Job an Geld kommen. Jeder weiss, dass Unternehmen nicht aus Menschenliebe Arbeitsplätze schaffen, sondern weil sie sich Gewinn versprechen. So ein Arbeiter oder eine Arbeiterin muss sich für das Unternehmen rentieren. Insofern ist beim Lohnkampf von ArbeiterInnen immer schon eine systemimmanente Schranke eingebaut, denn der Job ist weg – und damit der Lohn als Existenzgrundlage – wenn die Löhne so hoch sind, dass kein Gewinn mehr rausschaut, der den InvestorInnen passt.

Es wäre aber ein Fehlschluss anzunehmen, dass es dann besser sei, wenn man keinen Job kriegt. Denn wie schon festgestellt, ist der Lohn die Existenzgrundlage der Menschen, die nur sich selbst ihr Eigen nennen. Hat man keinen Job, kriegt man nicht mal 'nen niedrigen Lohn – man hat also gar kein Geld. Das heisst auch, dass sämtliche Bedürfnisse, die man hat, unter den Tisch fallen. Das heisst, im Klartext gesprochen, dass Arbeitslose verhungern – wenn sie nicht auf Freunde oder Familie zurückgreifen können.

Sozialstaat – Retter in der Not?

Wie man sich denken kann, kennt dieses System der Ausnutzung der ArbeiterInnen von sich aus keine Grenzen. Wenn es nach den Unternehmen geht, sollen ArbeiterInnen 80 Stunden die Wochen arbeiten und noch mehr. Aus früheren Zeiten ist das nur allzu bekannt: Da wurden auch gerne billige KinderarbeiterInnen benutzt. In sogenannten Entwicklungsländern schätzen (auch westliche) Unternehmen heute noch die Billigkeit von KinderarbeiterInnen.

Doch nicht nur für die ArbeiterInnen ist diese Grenzenlosigkeit ein Problem. Auch der bürgerliche Staat stört sich daran. Denn durch die Verankerung des Privateigentums wird ein Mechanismus in Gang gesetzt, der auf Dauer das System an sich in Frage stellt – aber wieso?

Wenn Menschen immer länger arbeiten müssen, Arbeitsschutz quasi nicht existent ist und der Lohn im Zuge des Wettbewerbs sinkt, kommt der Zeitpunkt, an dem es für die LohnarbeiterInnen nicht mehr länger möglich ist sich zu reproduzieren – sprich die körperliche Verfassung es nicht mehr möglich macht, zu arbeiten. Damit stünde aber die kapitalistische Wirtschaft still – und genau über diese finanziert sich der bürgerliche Staat.

Der Staat hat noch ein weiteres Problem mit einer grossen Masse an verelendeten Lohnabhängigen. Denn wie rekrutiert er dann Menschen für sein Heer? Also wird auch die Wehrkraft eines Staates durch diese Grenzenlosigkeit in Gefahr gebracht.

Und schlussendlich bedrohen soziale Unruhen, Kriminalität und vielleicht auch politische Protestbewegungen gegen verelendende Zustände die Stabilität des Staates.

Aus diesen Gründen hat der bürgerliche Staat ein Interesse daran, den Mechanismus zu begrenzen.

Jetzt aber konkret! – Zwei Beispiele:

Arbeitsschutz

Der bürgerliche Staat verankert einen gesetzlichen Arbeitsschutz, um sicherzustellen, dass die ArbeiterInnen auch in Zukunft noch zum Dienst antreten können – sie sollen nicht schon in jungen Jahren verkrüppelt sein. Dieser Arbeitsschutz ist jedoch nicht der Kritik entzogen: Der bürgerliche Staat stellt seinen Standort in Wettbewerb mit anderen Standorten, um Kapital anzulocken und damit Wachstum zu befördern. Im Standortwettbewerb ist Arbeitsschutz ein Nachteil. Denn Arbeitsschutz heisst für Unternehmen: Kosten für Arbeitsschutzmassnahmen, und das ist ein Abzug vom Gewinn.

Arbeitslosenversicherung

Wie schon oben festgestellt, kriegt man nur einen Job, wenn es sich für das Unternehmen rentiert. Kriegt man keinen, verhungert man – wenn man nicht auf Familie oder Freunde zurückgreifen kann. Arbeitslosigkeit ist des Weiteren etwas, was zum LohnarbeiterInnen-“Schicksal” dazu gehört: Die Unternehmen stellen ein und kündigen je nach ihren Gewinnkalkulationen. Daran stört sich der bürgerliche Staat nicht, im Gegenteil: durch die Verankerung des Privateigentums etabliert er ja eine Wirtschaftsordnung, in der das Standard ist. Doch die Nebenwirkungen passen dem Staat nicht, nämlich dass die Arbeitslosen sofort verrecken, wenn sie mal über kurze Zeit vom Kapital nicht gebraucht werden. Der Staat will, dass diese Lohnabhängigen auch zukünftig zur Verfügung stehen (um sich bei zukünftigen Wachstumsschüben nützlich zu machen), und verankert daher eine Arbeitslosenversicherung, die der Überbrückung kürzerer Zeiten der Arbeitslosigkeit dient. Finanziert wird die Versicherung wie folgt: Es wird den ArbeiterInnenn einfach ein Teil des Lohns enteignet (sog. Sozialabgaben), d.h. die Gewinne der Unternehmen bleiben unangetastet.

Es muss sich rentieren

Bei allen sozialstaatlichen Massnahmen gilt: Der Staat kalkuliert permanent, ob sich die Massnahmen rentieren. Es geht z.B. nicht darum, Arbeitsunfälle ganz zu verhindern, sondern die Devise lautet: So viel wie nötig, so wenig wie möglich! Daher ist der Ruf nach Sozialabbau ein permanenter Begleiter des Sozialstaates. Wie viel Widerstand die Lohnabhängigen gegen Sozialkürzungen leisten geht ebenfalls in diese Rechnung mit ein, ohne sie prinzipiell in Frage zu stellen.

Auf die Finger schauen …

Da die sozialstaatlichen Massnahmen der Ausnutzung der Lohnabhängigen durch die Unternehmen nützlich sein soll, vermutet der Staat stets einen Missbrauch der Sozialleistungen: Lohnabhängige, die arbeitslos sind, krank oder in Rente, stehen permanent unter Verdacht, sich in hinterlistiger Art und Weise ihrer eigentlichen Aufgabe – Lohnarbeiten – zu entziehen. Daher etabliert der Staat ein Überwachungswesen: Wer Invalidenrente beansprucht, hat sich von zig ÄrztInnen untersuchen zu lassen und wird oft trotz massiver Beschwerden jahrelang hingehalten; Arbeitslosen- oder SozialhilfebezieherInnen haben Besuche von „KundenbetreuerInnen“ zu befürchten. Auch im Krankenstand befindliche werden manchmal mit Besuchen beglückt.

Fazit

Es wird schnell klar, für wen sozialstaatliche Mechanismen gemacht sind: Für die qua Privateigentum verarmte Mehrheit der Bevölkerung, die ausser ihrer Arbeitskraft nichts hat und davon abhängig ist, dass sie diese verkaufen kann. Denn wer über ein Vermögen verfügt, ist auf diese ganzen Regelungen gar nicht angewiesen, denn Vermögende kommen ja erst gar nicht in die missliche Situation, ihre Arbeitskraft unter widrigsten Bedingungen verscherbeln zu müssen.

Was auch schnell klar wird: Dem Staat geht es bei sozialstaatlichen Massnahmen (die in aller Regel mit Überwachungs- und Disziplinierungsmassnahmen verknüpft sind) nicht darum, dass er den Leuten „Gutes“ tut, sondern darum, jenen Teil der Bevölkerung, der nichts hat ausser der Arbeitskraft, dauerhaft für Staat und Kapital nützlich zu halten. Ohne sozialstaatliche Massnahmen tendiert das System dazu, seine eigene Grundlage zu zerstören: eine fitte ArbeiterInnenschaft, die bereit ist, fremden Reichtum zu mehren (und damit Wachstum, wovon sich der Staat nährt). Das heisst: Beim Sozialstaat geht es nicht um die Bekämpfung von Armut, sondern um deren systemnützliche Verwaltung. Denn arm, ganz prinzipiell, sind die Lohnabhängigen ja wegen des Rechts auf Privateigentum.

Der Ruf nach einer „Verteidigung des Sozialstaats“ ist daher falsch. Es gälte vielmehr die Abschaffung der Armut zu fordern.

Bassisgruppe Gesellschaftskritik Salzburg
[geskrit]