Deckname Sonja - das geheime Leben der Agentin Ruth Werner Wenn die Sonja russisch tanzt

Gesellschaft

Die deutsche Buchautorin und Agentin Ruth Werner übermittelte 1943 das britisch-amerikanische Atomgeheimnis von Klaus Fuchs an die Sowjets.

Das Peace-Hotel in Shanghai, wo das geheime Leben der Ruth Werner begann.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Das Peace-Hotel in Shanghai, wo das geheime Leben der Ruth Werner begann. Foto: TIY (PD)

7. Mai 2014
7
0
18 min.
Drucken
Korrektur
Chapman Pincher ist Geheimdienstexperte und very old british. Auch, weil er 85 Jahre alt ist und sich gerade hält wie ein Gardesoldat der Queen. Der Gentleman lebt in Kintbury, nördlich von London, in einem Haus neben der Kirche und ist seit vierzig Jahren Sündern auf der Spur. Seine Sünder sind Spione, seine grössten Sünder: kommunistische Spione.

Nach Pinchers Ansicht ist "Sonja", alias Ursula Beurton alias Ruth Werner, der allergrösste weibliche Spion des 20. Jahrhunderts. "Sie war eine brillante Spionin. Sie wurde nie entdeckt", sagt er bewundernd, als wäre er beim Pferderennen in Ascot gewesen und hätte auf den Favoriten gesetzt. Und der Aussenseiter gewann. Das macht Pincher nicht ärgerlich, sondern fröhlich. "Aber was ich nicht leiden kann und noch nie leiden konnte - sind Kommunisten."

Dem Satz schickt er sein kollerndes, schön dreckiges Lachen hinterher. Dieser Brite.

Dezember 1999. An die Tür des Reihenhauses in Berlin-Plänterwald sind drei Schildchen geschraubt. Beurton. Ruth Werner. Bitte nach dem Klingeln um etwas Geduld.

Ruth Werner lebt hier seit dem Tod ihres Mannes, Len Beurton, allein. Für Freunde ist das Haus offen, Journalisten sind eher unerwünscht. Len hat vor Jahren mit seinen Krücken ein britisches Kamerateam davongejagt. Nur einmal noch lässt sie sich auf ein Interview ein. Es wird ihr letztes sein. Zehn Tage lang, jeden zweiten Tag für jeweils zwei Stunden gibt die 92-Jährige vor Mikrofon und Kamera des Hessischen Rundfunks Auskunft.

Sie ist tiefmüde und hochbeherrscht, sie wirkt zerbrechlich und ist streng und aufmerksam. Sie ist Oberst der Roten Armee und noch immer ganz Soldat. Über ihr Leben hat sie - ihrer Meinung nach ausreichend - in dem Buch "Sonjas Rapport" Auskunft gegeben. Ein Bestseller, damals, 1977, in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Menschen rissen sich nach dem Buch - zum ersten Mal erfuhren sie vom geheimen Leben einer sozialistischen Spionin.

"Spionin? Spionagearbeit? Ich war keine Spionin. Spione arbeiten für Geld."
"Und wie haben Sie das für sich genannt, damals, als Sie in Moskau ausgebildet wurden?"
"Wie sollte ich das nennen? Illegale Arbeit. Ich hab's ausserdem nicht genannt. Wem gegenüber sollte ich denn nennen, was ich mache?"

Shanghai. Das Haus

Das Haus steht noch - ein Wunder! Im abriss- und aufbauwütigen Schanghai war nicht damit zu rechnen. Es ist die Postbotin, die das alte Foto mustert und nach einigem Palaver mit Herrn Yang und Herrn Kang die Richtung weist: Huahai Zhon Lu. Herr Yang ist sanft und spricht das Deutsch, das sich deutsche Eltern von ihren Kindern wünschen, wenn die nach dem Klavierunterricht nach Hause kommen. Herr Kang ist muskulös, breit in den Schultern und Japan-Spezialist. Sie sind Mitarbeiter des Foreign Affairs Office Schanghai Municipal People's Government und unsere Begleiter.

Die Huahai Zhon Lu hiess in den dreissiger Jahren nach dem französischen Marschall Joffre. Sie ist eine der Hauptstrassen durch das Territorium des einst unter französischer Verwaltung stehenden Stadtteils.

Das Haus, in das Ruth Werner 1930 mit ihrem ersten Ehemann, dem Architekten Rudolf Hamburger, und mit ihrem ersten Sohn Michael zieht, liegt günstig. Es hat einen Eingang zum Park und einen Eingang zur Wukang Lu. Oder Ausgang, je nachdem. Drohte Gefahr, gäb's einen Fluchtweg. Das sollte sich später als nützlich erweisen.

Im Rückblick, knochentrocken und faktenhart: "Ich hab einfach die Wohnung für konspirative Treffs zur Verfügung gestellt." "Wollten Sie nicht wissen, was da besprochen wird?" "Ich wusste, es geht um die Partei."

Einmal sah sie Waffen auf dem Tisch. Es habe ungefähr achtzig Treffen gegeben. Und meistens war der Mann dabei, der das Leben der Ruth Werner entscheidend prägen wird: Richard Sorge.

Der Chinese aus Ruths ehemaligem Zimmer begreift nichts. Er steht in Turnhose und Turnhemd vor uns. Er ist neunzig Jahre alt. Eine Deutsche? Vor beinahe siebzig Jahren? Die chinesische kommunistische Partei und Illegalität? Spione?

Stromkabel baumeln im Haus. In der Küche stehen sechs Herde, jeder starrt vor fettigem Schmutz. Türen gehen auf und zu und hängen kraftlos in mürben Angeln. Ein Vorhang schützt den, der verrichten muss. Der Putz ist ab oder schimmelt.

Der Alte schüttelt den Kopf. Herr Yang erklärt sanft: "Er hält Sie für den Mann, der dieses Haus kaufen will."
Herr Kang erklärt, dass dieses Haus demnächst saniert wird. Jemand hat das Geld. Schanghai soll blühen.
"Ich?" Weil ich Ausländer bin. Weil jeder Ausländer in Schanghai ein Geldhai ist.
Der Alte dreht sich stumm weg und geht in sein Zimmer.

Über die Wukang Lu ist ein rotes Tuch mit leuchtend gelben Schriftzeichen gespannt.

"Welche Losung steht da drauf?"

"Das ist eine Einladung. In ein Restaurant." Herr Yang lächelt fein. "Sie weisen darauf hin, dass ihre Spezialität Mandelblüten- und Jasmintee ist." Richtig. Da steht eine Telefonnummer. Ich habe schon viele politische Losungen gesehen, aber keine mit einer Telefonnummer. Fährt nicht eben erst Richard Sorge mit seinem Motorrad davon? Auf der Strasse in den Kommunismus? Ach nee, es war der Mann, der gerade sein Moped in einem der unzähligen Werkstättchen betanken liess. Trichter und Kanister, ein paar Yuan gezahlt, und weiter geht s auf dem Weg der Marktwirtschaft chinesischer Prägung. Wie der genau aussieht, kann weder Herr Yang noch Herr Kang beschreiben.

Shanghai. Das Hotel

In der Rezeption des Peace-Hotels hängen Uhren an der Wand. Sie zeigen die Zeiten der Weltstädte an. Wie spät es in Berlin ist, muss im Kopf gerechnet werden; Berlin tickt an dieser Wand nicht mit.

Das war in den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts anders. Hier, am rechten Ufer des Huangpu, brodelte das ausländische Leben und das Leben der einheimischen Mafia. Jedes Jahr wurden 30.000 Tote aus der Stadt gekarrt oder im Huangpu entsorgt: Verhungerte, Erschlagene, Geköpfte. Die Toten der Schlachten des Bürgerkriegs, des Krieges mit Japan und des ganz normalen Elends.

"Schon bei der Ankunft mit dem Dampfer", erinnert sich Ruth Werner fast siebzig Jahre später, "sah man die bettelnden Frauen und die Kinder mit Schorf im Haar. Viel schlimmer noch als ich es mir vorgestellt hatte. Deshalb war ich ungeduldig, was dagegen zu tun."

In Schanghai, im Peace-Hotel, beginnt das geheime Leben der Ruth Werner. Sie lernt die Amerikanerin Agnes Smedley kennen und durch sie den deutschen Journalisten Richard Sorge.

Die Stadt ist ein Abenteuerspielplatz. Glückssucher, reiche Müssiggänger, Kosmopoliten und Kommunisten tummeln sich in ihr. Und Geheimdienstler aus aller Welt. Schanghai ist ein Umschlagplatz für Informationen.

Am linken Ufer des Huangpu: die Skyline Pudongs. Bizarre Wolkenkratzer, der Fernsehturm (er sieht dem Fernsehturm auf dem Berliner Alexanderplatz ähnlich) - ein binnen zehn Jahren entstandener Moloch, dessen Opfer Tradition, alte Häuser und Gedächtnis heissen. Demnächst baut Deutschland den Transrapid, der den Flugplatz mit der Stadt verbindet. Jedes Taxi in Schanghai ist ein VW Santana. Schanghai ist eine Stadt, die sich atemberaubend schnell selber auffrisst und errichtet.

Vielleicht ist die Old Jazz Band im Peace-Hotel das Beständigste an Schanghai. Die vier Herren spielen, sagt die Legende, seit der Gründung der Volksrepublik China Abend für Abend auf. Seit 1949. Auf den Tischen liegen Zettel mit ihrem Repertoire. "Happy Birthday", wünscht sich eben eine amerikanische Gruppe, und die Musiker legen scheppernd los. Der Ober weist auf "Lily Marlen" hin und sagt: "Aaa! Ein berühmter deutscher Nationalsong!"

In diesem Club wurde, lange vor 1949, ein Lied der Commedian Harmonists gespielt. Es ging seinerzeit um die Welt: "Wenn die Sonja Russisch tanzt, ist man gleich verliebt, weil es keine schönre Frau als die Sonja gibt. Wenn die Sonja Russisch tanzt, fühlt man ihre Glut. Wolga, Wodka, Kaukasus liegen ihr im Blut."

Später, in Moskau während der Ausbildung zur Agentin, wird Ruth Werner mit Sonja angeredet. Sie ist überrascht. Wieso heisst sie auf einmal Sonja? Sonja wird ihr Deckname. Richard Sorge hat den Namen vorgeschlagen. Er gefällt ihr.

"Sogar der Wladimir, ist ganz verrückt nach ihr, er lässt den Wodka stehn, nur um sie anzusehen."

In ihrem Wohnzimmer hängt seit Jahrzehnten ein einziges Foto. Richard Sorge im Profil. Der Mann schaut grüblerisch, zweifelnd. Es gibt andere Fotos; auf denen ist er spitzbübisch, kantig, ein Mephisto. Es sind retuschierte Fotos. Richard, der Draufgänger, soll auch ein Melancholiker gewesen sein. "Ich hing an ihm", sagt Ruth Werner.

Sie sei bei Lesungen gefragt worden, ob sie mit Richard Sorge geschlafen habe. Nein.

"Ich sagte nein, ich habe ihm nicht mal einen Kuss gegeben. Da haben sie gelacht und mir nicht geglaubt." Nein. Dabei bleibt sie.
"Ich war jung verheiratet, ich hatte das Baby und diese Arbeit. Vielleicht lag es einfach nicht im Bereich des Möglichen."
Im Grunde: Wen geht s was an?

Sorge ist der Mann, der mit ihr Motorrad fährt und sie reden lässt. Beinahe nebenbei erfährt er, was "Sonja" in der guten Gesellschaft aufschnappt. Beinahe nebenbei wächst Ruth Werner in die Rolle der Informantin: "Es war weder Abenteuerlust noch faszinierend. Es war Parteiarbeit." "Wussten Sie denn, für wen Richard Sorge tätig war?"

"Ich wusste es nicht mal, als ich in die Sowjetunion ging. Das habe ich erst langsam verstanden, da meine Ausbildung als Funker in einem Haus stattfand, wo Militär wohnte."

Die deutsche Jungkommunistin wird zwanzig Jahre lang für die militärische Aufklärung der Roten Armee tätig sein. Sie knüpft Kontakte und sammelt Informationen. Ihre Funksprüche gehen aus der Mandschurei, aus Polen, der Schweiz und England in die Zentrale nach Moskau. In China besorgt sie für Partisanen aus Apotheken die Zutaten für Sprengstoff. Sie wird nie enttarnt.

Sie wird in dieser Zeit nach Michael noch zwei Kinder, Janina und Peter, bekommen. Sie sagt, dass sie nie bewusst emanzipatorisch war. "Ich hab nie irgendwas gemacht, weil das nun Frauenrecht war oder irgendwas in dieser Richtung. Ich hab das getan, was mir entsprach, einfach." Richard Sorge sieht sie nach Schanghai nie wieder.

Moskauer Ballsaal und Musikschule

Aus den Fenstern des Ballsaals geht der Blick den Gogol-Boulevard hoch und auf die nach Kropotkin benannte Metro-Station. Der Anarchist Kropotkin (1842-1921) hätte seine Freude an den Frauen und Männern gehabt, die unter den halb nackten Putten des Deckengemäldes in den dreissiger und vierziger Jahren Funksprüche der Kundschafter in aller Welt empfingen und sendeten. In fürstlichem Ambiente - die Dekodierungszentrale der militärischen Aufklärung der Roten Armee.

Unter den tanzenden Pummelchen ging auch der Funkspruch an Richard Sorge in Tokio ab: "Ramsai, machen Sie Urlaub, kehren Sie heim!" Sorge, der Mann mit Charme und Chuzpe, kennt seine Leute. Was ihm in Moskau blüht, weiss oder ahnt er.

Es ist die Zeit der Tschistka, der grossen Säuberung. Sie wird auch Jeschowtschina genannt: nach dem Mann, der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten war. Unter Jeschow wird die Elite Sowjetrusslands blutig ausgewechselt. Zu der zählen auch die Spione in aller Welt. Ruth Werner kennt auch den einen oder anderen Verschwundenen näher. "Die Genossen in leitender Stellung wechselten damals leider sehr oft", schreibt sie lapidar in ihrem "Rapport". "Das war Stalin", sagt sie im Dezember 1999, "der war sehr misstrauisch".

Sorge zieht es vor, in Tokio zu bleiben. Als er enttarnt wird, hat er noch eine Chance. Die Japaner würden Sorge gegen einen japanischen General in sowjetischer Kriegsgefangenschaft austauschen. Die Genossen in Moskau sagen njet.

Der "Jahrhundertspion" wird am 7. November 1944 hingerichtet, der japanische General kommt 1947 in die Heimat frei. Wahrscheinlich hat Sorge nie erfahren, was Stalin über seine Arbeit sagte: Es seien Desinformationen eines "Arschlochs, das in Japan ein paar kleine Fabriken und Puffs betreibt und es sich gut gehen lässt."

Von der Kropotkin-Station zum Arbat: Es ist das Viertel, das seit je von der russischen Armee beherrscht wird. Hier muss zu finden sein, was Ruth Werner stets nur die Zentrale nennt. Gemeint ist der Sitz der Nachrichtendienstlichen Hauptverwaltung des Generalstabs der sowjetischen Streitkräfte (G.R.U.). Sonjas Auftraggeber. Vorher war das Gebäude die Generalstabsakademie, die nach dem sowjetischen Heerführer Frunse (1885-1925) benannt war. Auf dem Rasen vor dem Haus: der bronzene Kopf des Mannes, der 1925 Oberbefehlshaber und Verteidigungskommissar war, auf einem Sockel.

Durch die Flure perlt Klaviermusik. Aus einer Tür tritt ein Mädchen mit artigem Gesicht, mit einer Riesenschleife im Haar und mit einem Geigenkasten in der Rechten. Déjà-vu: als habe man sie in einem Mosfilm der Siebziger Jahre gesehen.

Die militärische Vergangenheit des Hauses ist gegen die musikalische Gegenwart der Gnessin-Schule getauscht: Das ist Konversion auf höchstem Niveau. Und ganz leise und von ganz fern sind die Commedian Harmonists zu hören: "Wenn die Sonja Russisch tanzt, brüllt der ganze Saal: Sonja, Sonja, Sonja, Sonja, Sonja noch einmal."

Als wir auf dieses Haus zu sprechen kommen, gibt Ruth Werner ihre Distanz für einen kurzen, seltenen Moment auf. Nach der Chiffre ihrer Funksprüche gefragt, antwortet sie: "Das ABC in Ziffern. Plus Zahlen aus einem Buch mit Statistiken. Musste ich auswendig lernen." "Können Sie die heute noch?"

"Nein, keine Ahnung. Na ja, das will ich nicht sagen, also. äh. Nein, die weiss ich nicht mehr." Warum sie die Tschistka überlebte? Sie erklärt es sich mit der schützenden Hand ihres jeweiligen Vorgesetzten. Warum sollte sie plötzlich redselig werden?

Zwischenspiel Shenyang

Ab 1934 arbeitet Sonja als Angehörige der Roten Armee. Die Aufträge führen sie um die halbe Welt. Ihr erster Marschbefehl lautet: Mukden. Das heutige Shenyang.

"Mandschurei! Das haben alle abgelehnt. Keiner wollte gern dorthin. Ich fand s, weil ich China schon kannte, interessant."
"Hatten Sie denn manchmal den Wunsch zu sagen: Nee, lieber nicht?"
"Nein kann man da nicht sagen. Ein Soldat kann auch nicht Nein sagen, wenn er heute nach Kosovo muss. Das gibt s in der Armee nicht, und ich hatte eine Ausbildung bekommen und es war klar, dass ich irgendwohin zum Funken fahre."
"Wurden Sie in Moskau nur zum Funken ausgebildet?"
"Wir haben auch gelernt, mit Sprengsätzen umzugehen."
"Hat Sie das nicht beunruhigt?"
"Nein."
"Es hat doch bedeutet, dass man vielleicht auch töten muss?"
"Das wäre in der Mandschurei völlig in Ordnung gewesen. Da haben die Japaner einen Krieg gegen die Chinesen geführt - von einer Grausamkeit, dass man sich nicht geniert hätte, dagegen was zu unternehmen."

Später wird sie in der Schweiz zwei junge Engländer für Einsätze in Deutschland ausbilden. Den einen, Len, wird sie heiraten - "eine Scheinehe, um die englische Staatsbürgerschaft zu bekommen". Die beiden sind Hitler und Eva Braun in München begegnet. "Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, Hitler umzubringen?"

"Nicht gespielt", sagt Ruth Werner trocken: "Wir haben so was besprochen. Der Len war immer sehr nahe daran. Aber die Möglichkeit hat sich nicht ergeben."

Hitler umzubringen, ergab sich nicht. Das ist anderen, die dichter am Diktator dran waren, auch nicht gelungen. Hätten sie Hitler getötet, stünden Ruth Werner und Len Beurton heute in den Geschichtsbüchern.

Das Haus „Die Fichten“

Great Rollright liegt 30 Kilometer von Oxford entfernt im grünsten Grün, das ich je sah. Zwischen sanften Hügeln führen die Feldwege hindurch. Den Häusern, feldsteingemauert, sieht man an, dass jedes Heim auch ein gemütliches Castle ist. Doch, man habe von der deutschen Lady gehört. Aber sie ist schon vor Jahrzehnten zurück nach Deutschland. War sie nicht eine grosse Spionin? Half sie nicht während des Krieges, das Atomgeheimnis nach Moskau zu bringen? Und ihre Eltern liegen auf unserem Friedhof? Gekannt habe ich sie nicht. So die Auskünfte an jeder Tür.

"The Firs" heisst das Haus seit jeher. In ihm verbrachten die Beurtons die letzten fünf Jahre in England, bevor sie 1950 in die Deutsche Demokratische Republik gingen. Weil die Anzeichen sich verdichteten, dass die britische Spionageabwehr MI 5 Sonja auf der Spur war. Diana Davenport bewohnt "Die Fichten". In den Ferien und an den Wochenenden nimmt sie behinderte Kinder auf. Eines ist Johnny, 18 Jahre alt, mit dem Gemüt eines schüchternen Sechsjährigen. Ihn zieht Diana an Sohnes statt auf. Sie hat dabei noch genügend Zeit, ihre Erfahrungen mit behinderten Kindern zu veröffentlichen und - über Percey Shelley's Gedichte nachzudenken. Sie hat eine Broschüre über diesen "ersten Punk unter den englischen Dichtern" geschrieben.

Ja, sie habe Ruth Werner kennen gelernt. In den Neunzigern, als sie zu Besuch war. Sie haben ein paar Worte gewechselt. Und eines Tages stand ein Mann in der Tür und hat geheult wie ein Schlosshund - Ruth Werners jüngster Sohn. Er hat die ersten neun Lebensjahre in "The Firs" verbracht.

"Diese Frau muss aus Eisen gewesen sein", staunt Diana. "Dass sie die Kinder bei sich hatte. An all diesen wirklich extrem gefährlichen Orten." Aber man könne einem Menschen nicht ins Gehirn sehen, die Kinder seien wohl glücklich gewesen. "Sie sind doch okay, oder?"

Sie lädt uns ein, das Haus zu besichtigen und über Nacht zu bleiben. Ein verkramtes, wunderbar unordentliches Haus. Ein Paradies für Kinder. Auf dem Fensterbrett eines Dachzimmers steht eine Rheinmetall-Schreibmaschine. Schliesst sich ein Kreis? Dem Mann, der sie nach Shenyang begleitete (weil "Sonja" noch nicht völlig allein arbeiten sollte), hatte die Zentrale die Legende eines Vertreters für Rheinmetall-Schreibmaschinen verpasst. "O nein", lächelt Mrs. Davenport, "die Maschine kam erst später ins Haus." Spione reisen mit leichterem Gepäck.

Der Gentleman

"Sonya s Report" erscheint 1991 in Grossbritannien. Sehr zum Ärger Chapman Pinchers. Er verficht in der Öffentlichkeit die Auffassung, dass Mrs. Werner verhaftet und verurteilt gehöre, sobald sie die britische Insel betritt. Was wurmt den Gentleman? Die englische Ausgabe ist eine erweiterte Ausgabe. In ihr erzählt Ruth Werner von einem der grössten Coups der Geheimdienst-Geschichte des 20. Jahrhunderts.

1943. Der deutsche Physiker Klaus Fuchs arbeitet am britisch-amerikanischen Atombombenprojekt "Tube Alloys" in Birmingham. Er sucht den Kontakt mit Moskau, weil der einseitige Besitz der Atombombe ein Ungleichgewicht der Kräfte ist. Ausserdem plagt ihn das Gewissen. Fuchs geht zu Jürgen Kuczynski. Der ist Vorsitzender der kommunistischen Parteiorganisation der deutschen Emigranten in London, und er weiss vom geheimen Leben seiner Schwester Ursula alias Ruth Beurton alias Sonja.

Fuchs und Mrs. Beurton treffen sich in den Hügeln von Oxfordshire. Sie gehen spazieren und vermitteln allen den Eindruck eines verliebten Paares. Das Notizbuch von der Grösse einer Akte, das ihr Fuchs übergibt, leitet sie nach Moskau weiter.

"Und worum ging es?" "Na ja, es ging um die Atombombe. Im Grunde."

Die schwerste Wunde aber wurde Pincher von Roger Hollis geschlagen. Jahre um Jahre hat Pincher versucht nachzuweisen, dass der MI5-Chef Hollis ein Spion der Sowjets war und dass er die Beurton geschützt hat.

"Ich habe immer gehofft, ein Foto zu finden, auf dem die beiden zusammen waren. Beide waren zur gleichen Zeit in Schanghai. Beide besuchten den gleichen Klub, und sie waren beide gute Tennisspieler. Aber ich habe nie ein Bild gefunden." Pincher lässt seine raue Lache los. Man kann eine Niederlage sportlich anerkennen, und trotzdem schmerzt sie ein Leben lang.

Ausserdem wisse man von Hollis, dass er gelegentlich einen kommunistischen Zirkel in China besuchte. Und dass er eine Affäre mit einer Frau hatte, die eine grosse Freundin Sonjas war. Und wohin zog Sonja, als sie nach England kam? In die Nähe von Roger Hollis. Nach Woodstock, unweit Blenheim Palace. Nach Blenheim Palace wurde die britische Spionageabwehr aus London wegen der deutschen Luftangriffe evakuiert. Pincher hat Hollis nie überführen können. Vielleicht beruht sein Verdacht auch nur darauf, dass Geheimdienstler und jene, die sich mit Geheimdiensten befassen, anders ticken und überall Verrat wittern.

Auch Ruth Werner kann ihm nicht weiter helfen: "In ihrem ersten Buch hat sie die Atombombe gar nicht erwähnt. In ihrem zweiten Buch, als die G.R.U. es ihr erlaubte, nennt sie Fuchs. Ich glaube, wenn sie ein drittes Buch schriebe, dann würde sie Hollis erwähnen. Hähähä. Hoffen wir drauf! Was für eine bemerkenswerte Lady!"

Ruth Werner stirbt im Juli 2000. Der Saal bei der Trauerfeier in Berlin-Baumschulenweg ist übervoll. Von der alten Schallplatte, die aus ihrem Wohnzimmer stammt, singt Pete Seegers "We shall overcome". Es soll ihr Lieblingslied gewesen sein. Mir fiel ein, wie sie von der Verleihung ihres ersten Rotbanner-Ordens erzählt hatte: "Sie haben mir gesagt, ich soll was Ordentliches anziehen. Ein Lastwagen wird kommen, und ich soll mit aufsteigen. Dann sind wir zum Kreml gefahren, sind reingegangen, und ich hab den Orden bekommen." "Das muss doch was Grossartiges gewesen sein?"

"Ich bin nicht mehr stolz auf Orden. Ich glaube, zu viele Unrichtige haben die auch gekriegt. Aber sicher war ich stolz, als ich ihn bekam. Kalinin hat ihn mir gegeben, den mochte ich sowieso. Na ja, das war's."

Eckhard Mieder

1907 in Berlin als Ursula Kuczynski geboren, folgt die Jungkommunistin Anfang der dreissiger Jahre ihrem ersten Ehemann Rudolf Hamburger nach Schanghai. Sie will revolutionär tätig sein und lernt Richard Sorge kennen. Er nutzt sie als Informantin und empfiehlt sie der militärischen Aufklärung der Roten Armee. Ursula Hamburger wird von 1933 bis 1934 in Moskau ausgebildet.

Ihr erster Auftrag lautet: In Mukden Informationen über die Lage in der japanisch besetzten Mandschurei zu funken. Über weitere Aufenthalte in Moskau, Polen und in der Schweiz gelangt sie 1941 nach Grossbritannien, wo sie ein Informationsnetz für Moskau aufbaut und 1943 ihren grössten Coup landet: Sie übermittelt das britisch-amerikanische Atomgeheimnis von Klaus Fuchs an die Sowjets. Nach zwanzig Jahren unentdeckter Geheimdienstarbeit scheidet sie 1950 als Oberst der Roten Armee aus. Im gleichen Jahr, als Fuchs auffliegt, geht sie in die DDR. Sie wird Schriftstellerin und schreibt unter dem Namen Ruth Werner. Ihre bekanntesten Bücher sind: "Muhme Mele", "Olga Benario" und "Sonjas Rapport".

Im Juli 2000 stirbt Ursula Beurton, wie sie bürgerlich seit ihrer Heirat mit Len Beurton hiess. Der Film "Deckname Sonja - das geheime Leben der Agentin Ruth Werner" von Sabine Mieder wurde am 7. Februar 2001 um 23.30 Uhr in der ARD ausgestrahlt. Unser Autor hat die Dreharbeiten begleitet.