Blockaden auf dem Gebiet der Parasitenforschung Parasitenforschung

Gesellschaft

Anders als im Bereich der Biologie stösst die moderne Parasitenforschung im Bereich des gesellschaftlichen Lebens auf erbitterten Widerstand.

Alnes fyr, Giske in Norwegen.
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Alnes fyr, Giske in Norwegen. Foto: Henny Stokseth (CC BY-SA 3.0 cropped)

18. Juli 2011
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Freie wissenschaftliche Forschung wird hier mit Tabus belegt, Theorien, die über die systematische Ausnutzung von Leistungen anderer Auskunft geben könnten, werden von den Lehrplänen der Universitäten gestrichen, die entsprechenden wissenschaftlichen Werke sind längst aus den Regalen der meisten Bibliotheken verschwunden.

Während die Biologen über den Parasitismus und seine vielfältigen Formen in der Natur, beispielsweise über den "Kleptoparasitismus", unbefangen debattieren dürfen, kommt es den Sozialwissenschaftlern nicht einmal in den Sinn, eine vergleichbare Fragestellung auch nur aufzuwerfen. Lediglich in wenigen Nischen, gewissermassen als eine Art Untergrundwissenschaft, ist der Parasitismus des gesellschaftlichen Lebens meist unter der Bezeichnung "Ausbeutung" ein Gegenstand der Forschung geblieben. Dass die Parasiten in der Natur mehr Aufmerksamkeit erhalten als diejenigen des heutigen gesellschaftlichen Lebens hat nahe liegende Gründe, über die man sich allerdings nur selten wirklich Klarheit verschafft. Wo liegen die Blockaden auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Parasitenforschung?

Wenn sich der Biologe aufmacht, die Wechselwirkungen von Organismen unterschiedlicher Art zu untersuchen, dann sind die Parasiten, die er möglicherweise gefunden hat, lediglich ein Gegenstand seiner Forschung, ohne dass diese Nutzniesser eigene Interessen ins Spiel bringen. Als jenseits der menschlichen Gesellschaft stehend, können sie weder Gegengutachter bestellen, noch Journalisten oder Wissenschaftler bezahlen. Sie verfügen über keine Zeitungen, Fernsehsender oder Regierungen, die Forschungsgelder sperren. Die Parasiten der Natur besitzen keinerlei Lobby und müssen alle Entdeckungen über ihre teilweise kunstvollen Ausbeutungstechniken über sich ergehen lassen. Vor dem wissenschaftlichen Auge stehen sie völlig schutzlos dar. Niemand nimmt Anstoss, wenn die gesetzmässigen Beziehungen zwischen Wirts- und Parasitenpopulationen schliesslich entdeckt sind.

Geht es hingegen um gesellschaftliche Beziehungen, erhält der Forschungsprozess einen völlig anderen Charakter. Nun kommt die Interessiertheit ins Spiel. Jene, die auf Kosten anderer unmittelbar oder mittelbar leben, wollen ihre parasitäre Lebensweise vor allem gegenüber den Geschädigten verbergen. Und ihr Bedürfnis nach Verschleierung muss mit der Unzufriedenheit der Geschädigten, mit deren Zahl und mit dem Ausmass der Schädigung notwendig wachsen. Zugleich wachsen mit dem Ausmass der Schädigung die finanziellen Mittel, welche die Nutzniesser von ihrer Beute abzweigen können, um ihr zunehmendes Bedürfnis nach Verschleierung grosszügig zu bedienen. Wer das Geld besitzt, hat das Sagen, nicht nur im Forschungsprozess selbst sondern auch dort, wo sich öffentliche Meinung bildet.

Anders als in der Biologie, wo selbst die mächtigsten Parasiten keinen Einfluss auf die Forschungsresultate nehmen können, treten in der gesellschaftlichen Parasitenforschung die Nutzniesser als ein den Forschungsprozess bestimmender Faktor hervor. Sie bezahlen den Forscher, der dann für ihre Zwecke forscht. Zuvor haben ihre Massenmedien die für sie wichtigen Fragen definiert und etliche Anstrengungen unternommen, um mögliche peinliche Fragestellungen in der Öffentlichkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Das Selektionsproblem ist dem Forscher ebenso abgenommen wie das Ergebnis: Er hat eine einigermassen klare Vorstellung darüber, welche Forschungsresultate nützlich und deshalb Erfolg versprechend und welche schädlich und deshalb gefährlich für ihn sind. Der stumme Zwang der Verhältnisse, denen sich der Forscher schon aus Gründen seiner eigenen Existenzsicherung unterwirft, ist wirkungsvoller als manche Zensur. Sollten dennoch mutige Menschen der Wissenschaft ausnahmsweise Erkenntnisse über den gesellschaftlichen Ausbeutungszusammenhang liefern, werden ihre Resultate totgeschwiegen; lediglich das Aufdecken von Missständen erzeugt Schlagzeilen, nicht aber die Enthüllung der parasitären Zustände.

Die herrschenden Interessen lassen also das wissenschaftliche Auge erblinden; an die Stelle unbefangener wissenschaftlicher Untersuchung des Biologen tritt in der gesellschaftlichen Parasitenforschung die verlogene Absicht der Apologetik, alle Ausbeutungsverhältnisse zu vertuschen bzw. zu verleugnen, welche systematisch in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verankert sind. Die Blockaden in der gesellschaftlichen Parasitenforschung sind besonders auffällig in den Wirtschaftswissenschaften, die sich mit der Produktion und Verteilung des Reichtums beschäftigen, also genau den Zusammenhang thematisieren, worin parasitäre Beziehungen eine grosse Rolle spielen. Inmitten eines solchen Minenfeld stehend, musste die ökonomische Lehre degenerieren und zwar umso mehr, je stärker das Bedürfnis nach Verschleierung in der Geschichte hervortrat.

Dementsprechend vermitteln die heutigen ökonomischen Lehren ungleich weniger Erkenntnisse über die Produktion und Verteilung des Reichtums als etwa die Klassik mit ihren bekanntesten Repräsentanten Adam Smith und David Ricardo. Beide hatten sich nahe an das Problem der Ausbeutung herangetastet. Die parasitäre Adelsherrschaft vor Augen, bestand damals seitens des dritten Stands das Bedürfnis, die wahren Zusammenhänge der Reichtumsproduktion aufzudecken. Der Adel besass schon nicht mehr die Macht, die Erkenntnis zu unterdrücken, wonach der dritte Stand mit seiner Hände Arbeit den Reichtum schuf, den dann Adel und Klerus grosszügig verpulverten. Die Arbeitwerttheorie lieferte dafür den wissenschaftlichen Beweis.

Die eingeschränkte Macht des Adels eröffnete die Möglichkeit, dass glorreiche Turniere auf dem Terrain der ökonomischen Theorie stattfinden konnten, denen Marx unter anderem in seinen Theorien über den Mehrwert ein unvergessliches Denkmal setzen sollte.

Diese Blütezeit musste zu Ende gehen, als sich im Schosse der entstandenen bürgerlichen Welt der neue Gegensatz entwickelte, der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts und zitieren einen Zeitzeugen, der den Paradigmenwechsel mit dankenswerter Klarheit wie folgt zusammenfasste:

"Nehmen wir England. Seine klassische politische Ökonomie fällt in die Periode des unentwickelten Klassenkampfs. (…) Die Literatur der politischen Ökonomie in England erinnert während dieser Periode an die ökonomische Sturm- und Drangperiode in Frankreich nach Dr. Quesnays Tod, aber nur wie ein Altweibersommer an den Frühling erinnert. Mit dem Jahr 1830 trat die ein für allemal entscheidende Krise ein. Die Bourgeoisie hatte in Frankreich und England politische Macht erobert. Von da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theoretisch, mehr und mehr ausgesprochene und drohende Formen. Er läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie. Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies oder jenes Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangener wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik." (Karl Marx, Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals)

Vor allem die Arbeitswerttheorie erwies sich als ein Bumerang, der nicht nur den parasitären feudalen Adel sondern zugleich den neu aufkommenden bürgerlichen Geldadel empfindlich treffen konnte. Wenn alles Einkommen auf Arbeit zurückzuführen ist, wie kann dann der grosse Batzen solcher Einkommen gerechtfertigt werden, den sich solche Klassen aneignen, die entweder selbst gar nicht arbeiten oder deren Arbeit nur dazu dient, sich auf Kosten anderer zu bereichern?

Plötzlich sassen die Geldkapitalisten, die sich den Zins ohne einen Finger zu rühren in die Tasche steckten, ebenso auf der Anklagebank wie der adelige Grundbesitzer, der sich auf vergleichbar bequeme Art die Grundrente aneignete. Und auch die Unternehmer fühlten sich von der Arbeitswerttheorie blossgestellt. Ihr Profit war als eine Form der Beute nachgewiesen, die in abgepresster Lohnarbeit bestand. Das herrschende Klasseninteresse geriet ganz in Widerspruch zu der sich entwickelnden ökonomischen Wahrheit und verlangte nach einer neuen Grundlagentheorie, ohne aber das, was angenehm war, zu verwerfen.

Das Seziermesser, mit dem die beauftragten "Forscher" die politische Ökonomie nun bearbeiteten, war allein der Standpunkt der Nützlichkeit. Alle Wahrheiten mussten zumindest soweit vernichtet werden, wie sie Einblicke in die gesetzmässigen Ausbeutungsbeziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital vermittelten. Prominentestes Opfer war aus nahe liegenden Gründen die Arbeitswerttheorie, die Wissenschaft vom Wert, der Wertschöpfung und dem Mehrwert. Sie musste vernichtet werden. Dies geschah nicht, wie die moderne Theoriegeschichte glaubhaft zu machen sucht, wegen der Fehler, die sie angeblich aufwies, sondern umgekehrt wegen der Wahrheiten, die sie über die parasitären Klassenbeziehungen auszusprechen wagte.

Übrigens hatte Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie die Fehler längst beseitigt, und die Konsequenzen aus der berichtigten klassischen Werttheorie rücksichtslos gezogen. Dadurch jedoch nahm für die parasitären Klassen die Arbeitswertlehre eine umso bedrohlichere Gestalt an. Wir überspringen hier alle schliesslich gescheiterten Versuche der beauftragten "Forscher", in Gestalt einer subjektiven Wertlehre ein Gegengewicht zur wissenschaftlichen Arbeitswertlehre zu schaffen und wollen lediglich einige allgemeine Resultate hervorheben:

Erstens werden mit der Arbeitswerttheorie zugleich die Theorie der Wertschöpfung und damit die Grundlage für die Preistheorie liquidiert. Die von den Nutzniessern verhasste Mehrwerttheorie ist jetzt nicht mehr wissenschaftlich formulierbar. Ausbeutung erhält den Rang eines Hetzbegriffs, mit dem sich vielleicht noch die Staatsanwaltschaft, nicht aber die Wissenschaft beschäftigen darf. Zweitens wird mit der Arbeitswerttheorie die Theorie der ökonomischen Klassen weitgehend beseitigt. Alle Erwerbstätigen, die Einkommen erzielen, gelten als produktiv und sie sollen dies umso mehr sein, je höher ihr Verdienst ist.

Eine systematische Ausbeutung zwischen verschiedenen Klassen von Erwerbstätigen mit den dazugehörenden Konflikten kann es jetzt gar nicht mehr geben. Die Beseitigung der Arbeitswerttheorie samt der darin enthaltenen Klassentheorie beinhaltete drittens eine Verschiebung der Betrachtungsebene: Nicht mehr die Produktion mit ihrer Wertschöpfung und dem Ausbeutungsverhältnis steht jetzt im Vordergrund, sondern die Zirkulationsebene, der durch Zufuhr und Nachfrage getriebenen Preismechanismus und die dadurch ausgelöste Allokation von Waren.

Dass gerade der Markt zum Eldorado aller heutigen Theorien geworden ist, liegt vor allem daran, dass dort der Ausbeutungsprozess mit dem entsprechenden Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital keine Rolle spielt. Hier herrschen Freiheit und Gleichheit, hier erkennen sich die Warenbesitzer wechselseitig als Privateigentümer an. Käufer und Verkäufer schliessen Verträge als freie, rechtlich ebenbürtige Personen, die Lohnarbeiter ebenso wie die Unternehmer, die Geldkapitalisten oder die Grund- und Hausbesitzer. Die spezifischen ökonomischen Unterschiede der Klassen spielen hier keine Rolle, ebenso wenig der ökonomische Zwang zur Lohnarbeit.

Diese kurze Verfallsgeschichte der ökonomischen Theorie zeigt ebenso wie die vorangegangene Untersuchung, dass die heutigen Theorien keinen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Parasitenforschung liefern können. Denn sie selbst bilden ideologischen Bestandteil eines tief gestaffelten Blockadesystems, das auf den Interessen der parasitären Klassen beruht. Solche Theorien sind widerlegbar, nicht aber – solange die gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen - ausräumbar.

Eine unbefangene wissenschaftliche Untersuchung gesellschaftlicher Beziehungen muss zur Blüte ökonomischer Theoriebildung zurückkehren. In jedem Fall muss die gesellschaftliche Parasitenforschung, will sie wissenschaftliche Bedeutung beanspruchen, rücksichtslos vorgehen, rücksichtslos sowohl in der Hinsicht, dass sich die Kritik nicht vor ihren Resultaten fürchtet und auch nicht vor den Konflikten mit den vorhandenen parasitären Mächten.

Guenther Sandleben