Stoffkundebroschüre Antidepressiva und Psychopharmaka

Gesellschaft

Wenn im Rahmen einer Stoffkunde von Neuroleptica, Schlaf- und Beruhigungsmitteln u.ä.m. - verallgemeinernd Psychopharmaka - die Rede ist, dann nicht ohne Hinweis auf deren originäres Einsatzfeld.

Fluoxetine HCl 20mg Capsules (Prozac).
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Fluoxetine HCl 20mg Capsules (Prozac). Foto: Tom Varco (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

11. September 2001
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Spätestens mit Michel Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" (1961) ist das Wissen um die spezifische Gesellschaftlichkeit und symbolische Besetzung dessen, was man Wahnsinn nennt und genannt hat, popularisiert. Man mag zum Autor stehen wie man will, deutlich geworden ist immerhin, dass der Umgang mit dem Wahn und den vorgeblich in ihm Sinnenden gesellschaftliche Brutalismen offenbart, deren Gewalt emsige PsychiaterInnen ihren im medizinischen Blick gefangenen Objekten unablässig als "Persönlichkeitsstörung" o.ä. anhängen.

Die öffentlichen Narren und Wilden der Renaissance landeten mit der Zeit und im vorrevolutionären Frankreich schliesslich flächendeckend in Spitälern. Jede Stadt bekam ein hôpital général verpasst und hielt darin neben Dieben, Bonvivants und Demokraten eben auch ihre Wahnsinnigen gefangen und zur Arbeit an. Die Revolution bescherte letzteren das Privileg der gesonderten Verwahrung. Als Menschen war ihnen Vernunft, die sich schon damals vulgär durch effiziente Selbstbewirtschaftung auszuweisen hatte, als Potenz zugesprochen. Und diese musste aktualisiert werden, was vornehmlich durch kaltes Duschen, Dampfbäder und Herumschleudern ins Werk gesetzt werden sollte.

Das Stigma der Delinquenz und Hinfälligkeit, das den als wahnsinnig Kartierten noch aus der Zeit ihrer Verkerkerung mit dem gemeinen Pack anhaftet, ist im Prozess ihrer Medizinalisierung aufgehoben: Die "Heilung" der "Kranken" muss sich an den verbrecherischen Normalitätsansprüchen einer Gesellschaft bewähren, deren prototypische "Gesunde" noch die kürzesten Ketten tragen. Schon deshalb ist die "Krankheit" nie besiegt, sondern baumelt, in der Pflicht zur Gesundheit zum Damoklesschwert verallgemeinert, über den Seelen der betriebsamen BürgerInnen. Die Sorge um die "Volksgesundheit" und die "gesellschaftlichen Kosten als Folge der Arbeitsunfähigkeit, des Produktionsverlustes und der Zuschüsse für die öffentliche Fürsorge" (1) bezeichnet das Mass der zu erwartenden Gnade.

Sieht man von den Bemühungen der "Arbeitstherapie" ab, ist der psychiatrische Zugriff heute kaum mehr über die (Zwangs-)Arbeit vergangener Tage vermittelt, funktioniert gleichwohl als repressives System mit offenkundigen und sozial akzeptierten Gewaltmitteln: Zwangsunterbringung und -medikalisierung (die es in keinem anderen medizinischen Bereich gibt), Isolationsräume, Fixierungen. Darin wiederholt sich an "Verrückten" genau jene Erfahrung der Ohnmacht, mit der ihr Leiden seinen Lauf nahm. Wo jede Handlungsmöglichkeit weggeschlossen ist und Ohnmacht mit Repression beantwortet wird, fordert jeder Anlass dazu auf, erfahrene Gewalt gegen sich selbst zu richten. Der Freitod hinter Gittern bleibt als letzte Emanzipation.

Wird Dissoziation verstanden als ein Versuch, das Erleben von Gewalt und Ohnmacht abzuspalten, müsste einleuchten, warum das - dissoziierte - Wiedererleben dieser Gewalt in der Psychose der angemessene Weg der Verarbeitung ist und eine Perspektive auch auf die doch anscheinend gewünschte "Reintegration" eröffnet. Diesen Weg verbaut sich die Psychiatrie eben schon ihrem Begriff nach: aus einem medizinischen Krankheitsmodell lässt sich kaum anderes als eine medikalisierte Behandlung folgern.

Neuroleptica und andere Psychopharmaka werden etwa 95% aller InsassInnen verabreicht, oft zwangsweise. Dabei werden diese meist gar nicht oder nur unzureichend über Behandlungsrisiken aufgeklärt. Grundsätzlich sind auch bei niedrig dosierten Neuroleptika lebensbedrohende Reaktionen wie bspw. das Zungenschlundsyndrom nicht ausgeschlossen. Selbst Psychiater weisen immer wieder darauf hin, dass selbst die Symptombehandlung durch Neuroleptika nur bei etwa einem Drittel der Behandelten hilfreich ist. Bei etwa zwei Dritteln der Behandelten wird i.d.R. keine medikamentös induzierte Verbesserung beobachtet.

MYTHENPRÄVENTION

Die genannten Stoffe sind wohl die mit dem schlechtesten Namen in der Subscene; um' s mit Walter Moers zu sagen: "Wie kann etwas cool sein, das einem der Hausarzt verschreibt?" Dass dem nicht immer so war, belegt die Überlieferung des Hippiespiels "Californisches Roulette", bei dem die elterlichen Hausapotheken ausgeräumt, alles zusammengeschmissen und dann wechselseitig Pillen gezogen und eingeworfen wurden. Dies sei weniger zur Nachahmung empfohlen denn als Anstoss zur Reflexion darauf, ob nicht bloss der übliche Zweck der Pilleneinnahme - fröhlich und angepasst durch den kapitalen Alltag laufen zu können - diese aus dem hedonistischen Drogenexperimentierkasten ausschliesst.

Schwer umstritten ist unter LiebhaberInnen eines emphatischen Begriffs von "Drogen", die mit diesen wildes Leben, neue Erfahrung oder ähnliches verbinden, schon die Rubrizierung der verschiedenen Psychopharmaka als eben solche. Mögen Leute sie auch bewusst einsetzen, ihr Bewusstsein chemisch zu verändern, so käme doch angeblich nichts heraus, was unter diesen emphatischen Begriff der Droge zu fassen wäre, da Psychopharmaka gerade pharmakologisch so wirkten, dass nichts Unerwartetes, Herausforderndes geschehen könne. Dies mag sein oder nicht, wir übernehmen eine derart emphatische und exklusive Zuordnung nicht, sondern fassen die Substanzen, die aufs Zentrale Nervensystem - ob dämpfend oder sonst wie - wirken, unter den immer noch genügend strengen Drogenbegriff und ersparen es uns so, jedes mal zu diskriminieren, ob wer seine Droge dem Begriff gemäss gebraucht oder einfach nur so: Denn ob jene, die koksen, um öffentliche Auftritte gut über die Bühne zu bringen, jene, die kiffen, weil sie sich so Auflockerung nach einem stressigen Tage versprechen, wirklich gerade wild dabei sind, ihr Bewusstsein zu erweitern, wagen wir zu bezweifeln; eine Droge gebrauchen sie allemal.

Gerade vermittels des Terminus "Hedonismus", Zauberwort nicht nur dieser Broschüre, sondern überhaupt des linken Hip-Diskurses in den 90ern (zur Abgrenzung von linken und anderen uncoolen Spiessern), liesse sich eine solche Unterscheidung nicht rechtfertigen: Hedonismus heisst, das Streben nach möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zum höchsten moralischen Prinzip zu erheben. Dagegen verstossen mehr die vielen LSD-Psychonauten, die auf Trip noch ganz andere kosmische Gesetze, Erkenntnisse über ihr Selbst etc. erringen, als jene, die bewusst sich auch bloss von den Sorgen des Alltags stundenweise befreien wollen. Noch jene Bekannte der Autoren dieses Textes, die sich Neuroleptica reinknallte, um achtzehnstündige Reisebusfahrten ohne viel Bewusstsein dabei gut hinter sich zu bringen, ist Hedonistin.

Viel schwieriger zu begründen wäre, warum jene Legion von RezeptblöckchenuserInnen keine sein sollten. Zwar mag es bei einer Scene, die zum Grossteil noch unreflektierter als beim Alkohol, dem man ja immerhin noch zugesteht, dass er breit mache, die Etikettierung als KonsumentInnen einer Droge, einer berauschenden gar, zurückweisen wird, in der Tat nominalistisch erscheinen, von einer Drogenscene zu sprechen. Sie wollen doch bloss normal sein. Nur ist auch gegen ihren Willen notfalls darauf zu beharren, dass objektiv sie mittels psychoaktiver Substanzen diesen Willen verwirklichen, dass diese Verwirklichung - wie auch immer vermittelt - eine individuelle, besondere Aneignung der Wirklichkeit und Verarbeitung der allgemeinen Zustände ist und dass dieser Wille bereits ein dem eigentlichen Sinne nach hedonistischer ist: nach Verminderung jener Unlust, wie sie in der Reibung mit der Welt entsteht. Von den KonsumentInnen illegalisierter Drogen, denen zumindest das vage Bewusstsein, etwas besonderes mit ihrem Stoffwechsel anzustellen, von der Prohibition aufgezwungen wird, unterscheiden sie sich so nur graduell, nicht ums Ganze. (2)

Dieses Zugeständnis zu machen, schliesst nicht aus, dass nicht einige oder auch viele, wüssten sie besser was sie tun, welche Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen bei einem Dauerkonsum sie riskieren, sich für keine oder eine andere Droge entscheiden würden, die ihnen besser behagte. Pillenfreaks als DrogenkonsumentInnen anzusprechen bietet vielmehr jenen Ansatzpunkt, sie auch in den Stand aufgeklärter WarengebraucherInnen zu setzen und für die praktischen Bedingungen dieser Aufklärung zu streiten: Die freie Verfügbarkeit aller psychoaktiven Substanzen.

PRODUKTE, GEBRAUCH UND WIRKUNGEN

Als Justus von Liebig 1832 mit Chloralhydrat (Markenname: Veronal) das erste Mittel entdeckte, das ausschliesslich dem Zweck der Schlafeinleitung diente, war zum einen die Klasse der Barbiturate gegründet, zum anderen wurden Alkohol, Haschisch, Opium und auch für den menschlichen Konsum geeignete Nachtschattengewächse als unspezifische Schlafmittel abgelöst. 1863 wurde Veronal in die medizinische Behandlung eingeführt. Barbiturate erschienen als Fortschritt, und anfangs wurde die Unruhe sogenannter psychisch Kranker in überwachten Einrichtungen mit ihnen behoben. Ab den Anfängen des 20. Jahrhunderts wurden sie von weniger auffälligen Menschen zur Verwaltung ihrer Schlafstörungen geschluckt. Barbiturate tun in erster Linie nur eines, sie dämpfen das Zentralnervensystem, oder genauer: sie unterstützen die hemmende Wirkung bestimmter Neurotransmitter, der Gamma- Aminobuttersäure (GABA). Früh wurde festgestellt, dass sich so nicht nur Schlafstörungen und Unruhe kontrollieren, sondern auch epileptische Anfälle vermeiden lassen. Sie wurden zur Behandlung von Alkohol- und Morphinentzugserscheinungen eingesetzt, und mehr Menschen entdeckten auch ihre euphorisierende Wirkung an und für sich.

Barbiturate sind toleranzbildend, es sind also immer höhere Dosen nötig, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Die Wirkstoffmenge, bei der der Tod eintritt, liegt nur wenig über der zur gewünschten Wirkung notwendigen und steigt nicht mit der Gewöhnung. So war es keine Seltenheit, dass Barbituratanwender bis zum Einschlafen so viele Tabletten schlucken mussten, dass er oder sie das Atmen beendete. Ihre in der Regel starke körperliche Abhängigkeit und viele Todesfälle erweckten das Bedürfnis nach Neuem in diesem Bereich.

Problematisch an den frühen Barbituraten war neben der Toleranz auch ihr langsamer Abbau, der der mitunter tödlichen Kumulationsgefahr im Körper zuarbeitete; deshalb wurden kurzwirksame wie Hexobarbital entwickelt, die aber keineswegs frei von unerwünschten Wirkungen blieben. Sie wirken in geringer Dosis beruhigend, in etwas höherer schlafeinleitend und in noch höherer narkotisierend und schliesslich atemlähmend. Der eingeleitete Schlaf gleicht mitunter subjektiv dem gewöhnlichen, doch wird die Sensibilität für Blutstromunterbrechungen durch ungünstiges Liegen herabgesenkt. Folge sind Fallhände und gelähmte Zehen, die sich meist nach einigen Tagen bis Monaten regenerieren. Dauerhafter Gebrauch geht mit Verwirrungszuständen sowie Leberschäden und Blutbildanomalien einher. Auch heute ist die übermässige Zufuhr von Barbituraten eine häufig gewählte Art des Freitodes (bekannter User der jüngeren Geschichte: Uwe Barschel).

Bei chronischem Gebrauch stellen sich weiter oft Bewegungsdiskoordination, Zittern, starkes Schwitzen und Sprachstörungen ein. In seltenen Fällen und bei hoher Dosierung kommt es zum delirium tremens, dem bei starkem Alkoholgebrauch vergleichbar. Wechselseitig verstärkend wirken Barbiturate mit Alkohol, Opiaten und Opioiden. Eine Weiterentwicklung waren Benzodiazepine, sogenannte Beruhigungsmittel, ein Zufallsfund beim Versuch der Synthese nebenwirkungsärmerer Anxiolytika ("angstlösende Medikamente"). Valium wurde ihr berühmtester Vertreter. Diese bei Patienten wie Ärzten wohl beliebteste Gruppe von Psychopharmaka ist gleichzeitig auch eine der verrufensten - bei aller gesellschaftlichen Akzeptanz von Medikamenten und trotz der relativ kontrollierten Vertriebskanäle dieser Substanzen bleibt Valium für viele etwas Böses. 1955 wurde erstmals R05-0690 synthetisiert und unter dem Namen Librium 1960 in den USA zugelassen. 1963 folgte das effektivere Valium. Bis heute werden ständig neue Abkömmlinge des ersten Benzodiazepins synthetisiert, über 30 sind im Gebrauch. Auch sie wurden euphorisch begrüsst, erschienen sie doch als sichere Nachfolger von Barbituraten. 1975 wurden in den USA 100 Mio. Rezepte für Valium und verwandte Pharmaka vorgelegt, 15% der US-AmerikanerInnen nahmen Benzodiazepine.

In pharmakologischer Hinsicht wirken Benzos vor allem im Grosshirn, im Limbischen System und in der formatio reticularis. Durch die von Benzos verursachte verminderte elektrische Aktivität in der Nervenleitung bei der Übertragung von Sinneseindrücken werden die Wahrnehmungen innerer und äusserer Reize geringer, die psychische Verarbeitung erschwert und die damit verbundenen unerwünschten Belastungen unterdrückt. Tranquilizer wirken, indem sie einen bestimmten synaptischen Hemmprozess, den der vorher schon erwähnten Gamma-Aminobuttersäure (GABA), im Rückenmark unterstützen. Sie koppeln sich dabei an die postsynaptischen GABA-Rezeptoren und Verstärken so den "natürlichen" Bremseffekt auf das ZNS.

Nach zwei Jahrzehnten Erfahrung kamen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass sich bei dauerhaftem Gebrauch von Benzodiazepinen eine beträchtliche körperliche Abhängigkeit einstellte und in Verbindung mit Alkohol in individuell schwankenden, jedoch recht geringen Dosen auch hier hin und wieder Tod durch Atemstillstand eintrat. Judy Garland hätte ein Lied davon singen können, wäre sie nicht selbst so verblieben. Munter verschrieben gegen Beschwerden aller Art werden sie weiter, und mehr noch als bei anderen akzeptierten Drogen ist mit ihrer Hilfe eine äusserst unauffällige Form der Abhängigkeit möglich. Gerade in hoher Dosis und nach längerer Einnahme ist oft eine sogenannte paradoxalisierende Wirkung erkennbar. Diese gilt auch als Erkennungszeichen für eine pharmakologische Abhängigkeit: mensch klagt hier über Schlafstörungen und Panikattacken, also gerade jene "Symptome", die er oder sie durch das Einsetzen der Benzos eigentlich zum Verschwinden bringen wollte. Aber auch bei einmaliger oder sogenannter "therapeutischer" Dosierung wurden bei Tranquilizern viele unerwünschte psychische und geistig-zentralnervöse Wirkungen beobachtet: Häufig sind hier Lethargie bis hin zur Apathie und grosse Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zum gemeinhin so genannten "Stumpfsinn".

Ein Drittel aller UserInnen klagt über schwere Niedergeschlagenheit, die für eine beachtliche Häufung von versuchten und vollendeten Selbstmorden in Konfliktsituationen - die ja auch wesentlich den Konsum anstossen - mitverantwortlich ist. Einige beschreiben das Gefühl, nicht mehr "sie selbst" zu sein, sondern eine fremde Person. Verwirrtheit, die genannten Panikattacken und Wutanfälle, Halluzinationen und toxische "Psychosen" tauchen auf. Im geistig-zentral-nervösen Bereich kann es zu deutlichen EEG-Veränderungen, Kopfschmerzen, Alpträumen, Abnahme der Konzentrationsfähigkeit bis hin zur sogenannten "Geistesschwäche", "Filmrissen" und komatösen Zuständen kommen. Wegen verminderter Reaktionsfähigkeit unter der Wirkung dieser Stoffe sollte ausserdem nicht am Strassenverkehr teilgenommen werden. Genug Nachfrage nach Tranquilizern gibt es jedoch trotz ihres ambivalenten Status.

Benzodiazepine weisen ein recht einheitliches Wirkungsspektrum auf, das im wesentlichen beschrieben wird als "angstlösend" (3) und spannungsdämpfend ("rosa Brille für die Seele" - Libriumwerbung), als sedierend und schlaffördernd und als muskelentspannend und krampflösend -letzteres also unmittelbar körperlich ablesbar. Versuche, die einzelnen Wirkungen pharmazeutisch voneinander zu trennen, um dem stressgeplagten Büroangestellten eine zwar entspannende, aber nicht konzentrationsstörende oder einschläfernde Substanz zu bieten, der schlafgestörten Hausfrau hingegen die Droge, die nicht zugleich dämpft (dabei in Massen auch freudig stimmt und zur Wiedereinnahme animiert), sind weitgehend fehlgeschlagen. Wahrscheinlich ist aber auch die Forschungsfrage schon unsinnig - was sollte den, der langweilige Büroarbeit zu verrichten hat, davon abhalten, einzuschlafen, wenn nicht die Angst vor Massregelung und Arbeitsplatzverlust?

Diese Blindheit für die Ursachen der zu behandelnden Leiden prägt nicht bloss die Entwicklung, sondern auch die Verteilung der Substanzen und das Bewusstsein der meisten ihrer UserInnen, die sich als alles andere denn als Mitglied einer drogenvermittelten Subscene auffassen dürften. Als normatives Ideal ist dem Tranquilizerkonsum sein psychiatrischer Ursprung noch eingeschrieben, der sich gerade in der Emanzipation vom Einsatz in der Institution erweist: in der Anerkennung einer Sicht der Welt, die zu recht die Individuen als potentielle Störfaktoren setzte und von ihnen die Anpassung ans Gegebene per psychophysischer Gesundung verlangt (ohne dass freilich damit schon erklärt wäre, warum jeder sich, doch niemand die Welt, wie sie eingerichtet ist, als Störfaktor begreift). Konsummotivation speist sich so zumeist aus einem Wunsch nach Normalität, der erlebte Gefühlszustände wie Unruhe, Nervosität, Reizbarkeit, Angstattacken bis hin zu den eher dingfest zu machenden Problemen wie Schlafstörungen und Verspannungen entgegenzustehen scheinen.

Von Ärzten und Beipackzetteln zu zwar schwammig definierten, aber eben medizinischen Indikationen für medikamentöse Behandlung objektiviert, fühlen sich die KonsumentInnen von dem Problem, ihre Reibung mit der Realität als individuelles Versagen zu begreifen, autoritativ entlastet, indem es zur honorig anerkannten und behandelbaren Krankheit mutiert. So dürfte sich auch das gute Funktionieren von Placebopillen, das heisst solcher ohne pharmazeutische Wirkung, im Blindversuch erklären. Gerade für Frauen in ungebrochen patriarchalen Verhältnissen ist diese Konstellation doppelt attraktiv: reduziert auf die Rolle als Heimchen am Herd (oder den pseudoemanzipierten Abklatsch davon), wird von ihr das Gefühlige sowohl erwartet als auch als einzige Lebensäusserung zugelassen.

So darf sie eher als der tatkräftige Mann über die kleinen Wehwehchen klagen und sich über ihre emotionale Lage Sorgen machen. Ihr in dieser Form vorgetragenes Leiden wird von der männlichen Autorität des Arztes überhaupt als Klage anerkannt und von diesem dann die Antwort geboten, so dass sich ein prekäres Gleichgewicht, das freilich stets neu stabilisiert sein will, einstellt: Die brutale Reduktion aufs Frausein, auf Emotionalität und andere als weiblich definierte Eigenschaften, legitimiert zugleich die Form, dem Leiden darin vermittels Angst, Depressivität etc. Ausdruck zu verleihen und es per stimmungsaufhellender Mittelchen bearbeiten zu lassen - doch um den Preis, bloss wieder strahlende Mutter und treusorgende Ehefrau sein zu können.

Die authentische Drogenwirkung den Klauen aus Set und Setting wieder zu entwinden, fällt bei der Einheitlichkeit, mit der Set und Setting, wie oben beschrieben, gestaltet sind, schwer, gerade zumal die Wirkung um keinen Preis als solche einer Droge erlebt werden darf, um die entlastende Funktion nicht zu gefährden. Wird der Valiumrausch als Rausch erlebt, das heisst als Setzung einer chemischen Substanz unter den Zweck, der dem Belieben des Individuums entspringt, bleibt vom medizinischen Sachzwang wenig übrig, und stets droht dann, ins Bewusstsein zu geraten, was dort nicht hin soll: das Verhältnis von Individuum und seiner Zwecksetzung in der Objektwelt. Gerade der Aufwand, den es inzwischen Arzt und Patientin kosten müsste, trotz aller Kampagnen von Alternativmedizinern und der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren e. V. die in Rede stehenden Substanzen nicht als Drogen wahrzunehmen, lässt darauf schliessen, wie befähigt die KonsumentInnen sein können, sich auch um den bewussten Genuss der psychoaktiven Wirkung zu bringen.

Dass es da etwas gibt, was den UserInnen Freude bereitet, lässt sich am Erfindungsreichtum messen, mit dem manchem Arzt schon das Rezept abgeschwatzt wurde; nur ist zu vermuten, dass die KonsumentInnen dabei nicht bloss den Arzt, sondern auch sich selbst bescheissen müssen. Zu wissen, dass das Gefühl, wie die Muskeln weicher und die Welt wärmer werden, Lust bereitet, wird auf jeden Fall von den KonsumentInnen nicht verlangt und so auch kaum irgendwo beschrieben. So trifft man das Vergnügen, ohne psychischen Anlass oder Schlafbedürfnis eine ordentliche Dosis Valium zu sich zu nehmen, um anschliessend sich an den relaxten Körperwahrnehmungen oder den dämmrigen Träumen in rosarot zu erfreuen, kaum in grösseren Subscenes, sondern, wenn's hochkommt, höchstens bei spleenigen Einzelpersonen an.

Allgemein werden Schlaf- und Beruhigungsmittel auf der Heroinscene häufig verwandt. "Benzos", "Babbis", "Rivos", "Roschs" sind hierzulande gängige Szenebezeichnungen für Mittel, die auf diese Praxis verweisen. Insbesondere die Benzodiazepinderivate Valium und Rohypnol (Rosch), die einem vor dem Hamburger Hauptbahnhof beispielsweise offensiv (4) angeboten werden , scheinen sich auf der offenen Scene grosser Beliebtheit zu erfreuen. Sie werden verwandt, um Entzugssymptome zu mildern, besonders jene diffusen, die unter "innerer Unruhe" sich zusammenfassen liessen - entweder bis der nächste Schuss beschafft worden ist, oder der Ausstieg in Eigenregie gelungen. Von ihnen selbst körperlich abhängig geworden, was nicht zwangsläufig, aber leicht passiert, gestaltet sich ein Entzug eher langwieriger und problematischer als der von Heroin. Aberwitzigerweise stimulieren Schlaf- und Beruhigungsmittel den Leberstoffwechsel und somit auch den Abbau von Heroin. In Kombination mit Heroin eingenommen, lässt sich noch aus der miserabelsten Shore eher ein Kick erzielen, da die in Rede stehenden Psychopharmaka die körperliche

Toleranz für Opiate herabsetzen; ein riskantes Spiel, weit verbreitet ausschliesslich unter den mörderischen Bedingungen der Prohibition. Seltener dürfte die Einnahme von Psychopharmaka zur Wirkungssubstitution von Heroin sein, da die möglichen Effekte der einzelnen Substanzen sich nur in Teilen überschneiden: so ist der euphorische Kick bei Benzodiazepinen, selbst wenn sie in injizierbarer Form vorliegen, deutlich geringer als bei den Opiaten. Gleichermassen attraktiv dürften sie hingegen für die sein, die in erster Linie aus beruhigenden Gründen, als Pause vom ständigen Auf-Zack-sein-müssen auf der illegalen Scene, ihre Droge konsumieren. Diese Motivation ist vor allem unter jenen verbreitet, die, von der öffentlichen Meinung und im Anschluss auch im eigenen Selbstbild bereits abgeschrieben, ein anderes Leben als jenes unter beschissenen Bedingungen sich nicht mehr vorstellen mögen - und die sich insofern von der jener braven, reibungslos funktionierenden Hausfrau, der diese Vorstellung ebenfalls abgeht, gar nicht so sehr unterscheidet.

Als besonders starke Tranquilizer wurden Neuroleptica, zum Beispiel Chlorpromazin und Haloperidol (Haldol) entwickelt. Zahlreiche Untergruppen der trizyklischen Neuroleptica sind schon seit langem bekannt, so zum Beispiel das in winzigen Mengen natürlich im menschlichen Blut vorkommende Methylenblau (Methylthiominiumchlorid, Gruppe der Phenothiazine). Zunächst nur als Mittel gegen Maden und Spulwürmer bei Menschen eingesetzt, fand es später auch Verwendung in der Psychiatrie. Dort konnten Phenothiazine jedoch erst während des Zweiten Weltkrieges etabliert werden. 1945, das Jahr der militärischen Niederschlagung des deutschen Faschismus, hat für die Entwicklung der Psychopharmaka ebenfalls eine wichtige, wenn auch anders gerichtete Bedeutung: Auf der Suche nach nebenwirkungsärmeren Antihistaminen (Substanzgruppe zur Verhütung allergischer Reaktionen) bemerkten einige Forscher im Tierversuch die "verwirrende" Wirkung einiger Phenothiazine (aus der Gruppe der Antihistamine). Als besonders wirkungsstark erwies sich das Phenothiazin Chlorpromazin, das 1951 zu Versuchszwecken im psychiatrischen Bereich zugelassen wurde.

Pharmakologisch wirken Neuroleptica als Dopaminrezeptorblocker. Durch das Blockieren der Rezeptoren soll die erhöhte Dopamin- Ausschüttung, die für so manchen "bad trip" verantwortlich gemacht wird, unterbunden werden. Folge der Rezeptorblockung durch Neuroleptica ist jedoch teilweise das Entstehen neuer Rezeptoren, das nicht immer reversibel ist, so dass es nach dem Absetzen des Neurolepticums zu einer medikamenteninduzierten Übersensibilität wegen der nun vermehrten Dopaminrezeptoren kommen kann. Mediziner bezeichnen dieses Phänomen als "Supersensitivitätspsychose", also einen so induzierten "bad trip". Nichtpsychiatrische UserInnen beschreiben eine Indifferenz gegenüber inneren und äusseren Reizen und ein Gefühl des Eingekapseltseins. Die Umwelt erscheint weit entrückt und kaum interaktiv zugänglich, was jedoch nicht notwendig die Wahrnehmung dieser und die Fähigkeit, sie reflektierend zu erfassen, unterbinden muss. Man hat ihr halt bloss nichts zu sagen, und sie einem auch nichts Relevantes.

Insofern mag es schwierig sein, bei Zwangsmedikalisierten, die sich anschliessend gefügig zeigen, in jedem Fall zu entscheiden, ob mittels der Neurolepticaeinnahme tatsächlich die persönliche Willkür ausgeschaltet wurde und das medikalisierte Individuum bloss noch den Wunsch hegt, gefolgsames Gemüse zu sein, oder ob die Betroffenen durchaus noch die Differenz zwischen ihrem Willen und dem der Institution kennen - und mit einem Neuroleptica-gestützten Achselzucken sich ins real Unvermeidliche ergeben. Dieser Unterschied wäre keiner, der auch einen im Grad der psychiatrischen Brutalität machen würde, wohl aber für die Frage entscheidend, inwieweit wir es hier mit dem Traum aller Techniker der Macht, der Substanz, die chemisch ein ganzes Bewusstsein umgestalten kann, zu tun haben, und wie das Verhältnis von Pharmazie, Set und Setting bei den Neuroleptica gestaltet ist.

Als unerwünschte psychische Wirkung der Neuroleptica wird am häufigsten Apathie genannt. Bis zu zwei Drittel aller Neuroleptica-BenutzerInnen und Zwangsmedikamentierten klagen über schwere Niedergeschlagenheit und anhaltende Sinnlosigkeitsgefühle, die in Konfliktsituationen nicht selten - wie vermittelt über die persönliche Willkür auch immer - die Entscheidung der/des Betreffenden zum Freitod fördert. Häufig werden von UserInnen auch Denk- und Konzentrationsschwierigkeiten genannt, und nach einigen Beschreibungen wird das Lesen schwieriger Lektüre zunehmend unmöglich. Der/die Betreffende döst nach der Einnahme eigentlich eher so vor sich hin.

Drei Viertel aller BenutzerInnen klagen über Sehschwierigkeiten, die vor allem das Farbsehen betreffen, viele ausserdem über Hör- und Geschmacksstörungen. Besonders häufig wird von Alpträumen unter Neuroleptica-Einwirkung berichtet, Schlafstörungen und Kopfschmerzen kommen vor, die epileptische Krampfschwelle wird stark herabgesetzt. Auf der körperlichen Ebene bewirken Neuroleptica vor allem ein durch die Einnahme hervorgerufenes Parkinsonsyndrom, weshalb die zeitgleiche Verabreichung eines Anti-Parkinsonoids nicht selten ist. Weit verbreitet ist auch die sogenannte Sitzunruhe, die sich in dem für die Betroffenen unangenehmen Zwang äussert, umherzulaufen. Ausserdem klagen BenutzerInnen über unkontrollierbare Krämpfe und Zuckungen, vor allem im Gesichtsbereich.

LITERATUR

Wegen des institutionalisiert repressiven Einsatzes der Psychopharmaka ist ihre Abhandlung hier deutlich anders - eben antipsychiatrisch - akzentuiert, als die der anderen aufgeführten legalen und illegalen Substanzen. Als kritische Standardwerke über die Wirkung von Psychopharmaka (unter besonderer Berücksichtigung ihres Einsatzes in der Psychiatrie) seien die Bücher von Peter Lehmann empfohlen: "Schöne neue Psychiatrie" (Band I und II, 1996) und "Der chemische Knebel" (1993), alle erschienen im Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin. "From Chocolate to Morphine" von A. Weil und W. Rosen (Houghton Mifflin Co., Boston/New York 1993) bespricht Psychopharmaka unter besonderer Berücksichtigung der interessanten amerikanischen Situation amerikanisch-pragmatisch und gut. Der Pillenratgeber der DROB INN; Hamburg (Kurt-Schuhmacher-Allee 42, 20097 Hamburg, Tel : 040 / 24 46 07 / 8) ist der profunde Ratgeber für die Scene. Das nur noch in Bibliotheken und Antiquariaten erwerbliche "Handbuch der Rauschdrogen" von Schmidbauer/von Scheidt hilft hier auch weiter, ebenso wie Scheerer/Vogt, "Drogen und Drogenpolitik" (op. cit.).

Junge Linke

Fussnoten:

[1] Snyder, S., Die Chemie der Psyche, Spektrum, Heidelberg/New York 1994.

[2] Schliesslich sind auch die normativen Ideale des Menschseins, denen sich KifferInnen oder Extacy-schluckende RaverInnen per Drogenkonsum und dazugehörigen Aktivitäten anzunähern trachten, so verschieden von den Identitätsangeboten der hegemonialen alle-locker-und-gut-drauf-Kulturindustrie nicht. Die durch und durch vergesellschafteten Bedürfnisse lassen sich, wenn überhaupt, nur allgemein kritisieren, und nicht spezifisch an einer Substanz; womit auch die Frage, ob in einer befreiten Gesellschaft überhaupt noch wer Bock auf Valium und Freunde hätte, auf selbige verschoben ist - also nur praktisch zu beantworten ist.

[3] Doch gerade die angstlösende Wirkung wird von vielen UserInnen und klinischen Untersuchungen zunehmend angezweifelt.

[4] Interessant wäre eine Untersuchung, inwieweit die Grauhändler von Psychopharmaka nur den Bedarf der Scene decken oder auch über diese hinaus attraktiv sind und, wenn ja, was das hiesse für das Selbstbild von ValiumkonsumentInnen, die sich auf dem Junkiemarkt eindecken, das heisst eine Droge erwerben, anstatt ein Medikament vom Arzt verschrieben zu bekommen. Sicher ist, dass die Ballung von Benzodealern auf der offenen Scene auch ein Versuch ist, ein immer noch lukratives, aber weniger strafbewehrtes Geschäft zu betreiben, als es der Heroinhandel darstellt. Ob es dadurch zu Überangebotskrisen kommt, ist ebenfalls unserem Erkenntnisstand nach noch nicht erforscht.