Über die Tat von Anders Breivik Dieses mörderische Arschloch vergällt mir die Welt

Gesellschaft

Wir waren fünf Tage auf dem Bohusleden (Schweden) gewandert, hatten das Zelt aufgebaut, wo es uns gefiel, und zum Abend die Pfifferlinge gebraten, die wir unterwegs vom Wegrand pflückten.

Die Ferieninsel Utøya, Norwegen.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Die Ferieninsel Utøya, Norwegen. Foto: Paal Sørensen (CC BY-SA 3.0 cropped)

24. Juni 2012
4
0
8 min.
Drucken
Korrektur
Blaubeeren gab es händevoll, und wer nie sein Knäckebrot im Freien ass und nie Spaghetti mit geschnetzeltem Dörrfleisch vom Rind und ein Stück Parmesan-Käse dazu, und wer nie aus einem See trank -, der weiss nicht, was Glück ist. Behaupte ich hier mal.

Teil I. Montag, 25. Juli 2011. Mein schrecklichstes Ferienerlebnis

Und über die Häupter aller Zweifler, Ungläubigen und Zyniker ergiessen sich Sand, Wasser und die Kienäpfel des Waldes, sollten sie es wagen, mir in die Haferflocken des Frühstücks zu spucken! Geht mir, Stadtneurotiker, Verkabelte aller Bundesländer und Bewegungsscheue aus dem Licht der Frühe, das den See zum Spiegel macht und den Fels am Ufer zum Badezimmer-Gefliesten! So hätte es bleiben können auf dieser wunderschönen Erde. So bleibt es nicht in dieser beschissenen Welt.

Am Montag, dem 25. Juli, schlossen meine Wander-Liebste und ich die Woche in Südschweden ab, um uns auf den Weg nach Norwegen zu machen. Acht bis zehn Tage lang wollten wir Jotunheimen, das Heim der Riesen, besuchen.

Auf dem Weg dahin, bogen wir mit dem Auto nach Grebbestad ab. In Tanumshede Strand steht inmitten von Ferienhäusern, die dicht an dicht stehen und (behaupten die Schweden) den reichen Norwegern gehören, ein Sportshopen. Ein Einkaufsschuppen von der Grösse eines deutschen Hornbach-Marktes. Gut besucht, der Parkplatz war rappelvoll, die Spielplätze ringsum von Familien bevölkert. Dass wir aus dem schwedischen Wald nicht nur in die Welt der Strandurlauber, sondern auch in die Welt der Nachrichten, geraten waren, wussten wir nicht gleich.

Es war Sekunden nach zwölf Uhr mittags, als wir den Laden betraten – und uns in einer Stille fanden, der wir uns sofort fügten und - die uns irritierte. Die Kunden ringsum waren Menschen, die die Köpfe gesenkt hielten. Manche hatten die Hände gefaltet. Eine Schweigeminute? Für wen? War jemand aus dem Königshaus gestorben? Der Reissverschluss, der sonst das Schicksal vom Alltag trennt, war ein Stückchen weit aufgegangen –, und es lugte etwas herein in die übliche Geschäftigkeit, von dem wir lieber nichts wissen wollen? Der Tod? Ein Tod?

Als das Standbild wieder zum Leben erwachte, slow motion, als wäre das Einkaufen zu etwas Obszönem geworden, aber da wir als Kunden eingetreten waren, wollten wir auch als Kunden weitermachen -, fragten wir eine Verkäuferin, was geschehen sei.

Ihre Augen waren starr, sie konnte nicht verstehen, dass wir nicht wüssten … Was denn, zum Geier?! Dass in Norwegen ein junger Mann über achtzig Menschen ermordet hatte. Dass die Zukunft Norwegens, so sprach die Verkäuferin, vernichtet sei. Aber … wie … was … Sorry, wir waren die letzten Tage im Wald, wir wüssten von nichts, und das Mädchen gab Kunde, und uns stiegen die Tränen in die Augen. Über achtzig Menschen. Zumeist junge. Hingerichtet. Von einem einzigen Menschen. In Norwegen?

Stunden später fuhren wir durch Oslo nach Norden. An der schwedisch-norwegischen Grenze hatten wir die "Aftenposten" vom Tage gekauft. Auf dem Titelbild ein Meer von Blumen, rote Rosen zumeist, auf zwei roten Tüchern standen die Namen Monica und Ronja. Im oberen Viertel des Fotos ein Menschen-Ufer. Ein Mann fotografiert, sieben Menschen knien bei den Blumen, die meisten schauen, wie wir alle schauen, vermutlich, wenn wir Opfern gedenken und nichts verstehen. Und das Leid nicht die Familie traf und irgendwie doch ins Mark?

Ein verhangener Tag. Ein Tag, auf dem ein Schleier lag. Wir schwiegen während der Fahrt. Als wir, kurz hinter Oslo, umgeleitet wurden. Die Autos wurden langsamer, Polizeiwagen standen am Strassenrand, so viel Polizei ist in Skandinavien ungewöhnlich, und wir sahen einen kleinen Hügel voller Blumen. Ob eines der Opfer oder mehrere von hier waren?

Am Abend nahmen wir uns ein Hotel-Zimmer in Fagernes. Dieser Luxus war für den Urlaub nicht geplant. Aber wir waren – erschöpft. Nicht von der Wanderung der letzten Tage, nicht von der stundenlangen Fahrt. Es war dieser Tag. Wolken verhangen. Ein Schleier. Eine Milchglasscheibe, auf der wir über einen Abgrund gefahren waren? Angespannt. Schweigend. So viele junge Menschen -, und meine Herz-Beifahrerin sagte zwischendurch: "Die waren so jung wie unsere Tochter! Die waren zum Teil jünger als unsere Tochter!"

Das Fernsehgerät lief. Auf der Seite 3 der "Aftenposten" war eine Rede des Staatsministers Jens Stoltenberg abgedruckt. Er sprach von Oslo, er sprach von Utoya. Die Zahl der Toten gab er mit 92 an. Utoya? Das Fernsehgerät lief.

Wir kapierten, dass das Massaker auf der Insel Utoya stattgefunden hatte. Nördlich von Oslo. Wir kapierten, dass wir an dieser Insel vor Stunden vorbeigefahren waren. Und wir kapierten nichts.

Teil II. Utoya. Vor den Ferien 2012

Ende Juli werde ich wieder auf der Strasse nach Norden an der Insel Utoya vorbeifahren. Ich werde an diesen Menschen denken müssen, der entweder im Knast oder in der Klapsmühle landet. Ich werde an die Leute denken, die durch ihn ihr Leben verloren.

Ich werde an diesen Massenmörder denken, für den es keine gerechte Strafe gibt hienieden; ihn hätten die Wölfe, Bären, Elche Skandinaviens zertreten und erfetzen sollen, noch ehe er die Hände hob, sich ergab und Nutzniesser der bürgerlichen Rechtssprechung wurde.

Ich wurde vor ein paar Tagen von einem Freund gefragt, welche Strafe ich für den Schweinepriester angemessen fände. Selbstverständlich die Höchststrafe, antwortete ich. Die sei in seinem Falle, meiner Ansicht nach, die Einweisung in die Psychiatrie, aus der ihn nur der eigene Tod erlösen dürfte. Von mir aus könnte der früh eintreten.

Er sollte, sagte ich nicht, dachte ich nur, da mit anderen zusammen sein und sich jede Minute eines jeden Schusses erinnern, den er abgab. Von mir aus soll er daran Spass haben. Von mir aus soll er "Peng-Peng" murmeln und "Du bist tot, sozialdemokratisches, multikulturelles Arschloch!" stöhnen. Er soll das murmeln und stöhnen, bis er seiner selbst überdrüssig würde, seiner Tat, seiner Schüsse, der Gesichter. Und wenn er dann gegen einen Glasschrank rennt und sich verwundet und ausblutet - shit happens; es gibt Millionen Menschen, die kommen unglücklicher zu Tode …

Natürlich weiss ich, dass ein Jedes seine Gründe hat, Ursachen, Anlässe. Ein jedes Tun kann argumentiert, gerechtfertigt, mindestens erklärt werden. Manchmal, glaube ich manchmal, mitunter, glaube ich mitunter, sind wir im hochgezüchteten Westen (im sich selbst hoch züchtenden Pferdestall, der sich Westen nennt) darauf spezialisiert, jeden Blödsinn, jedes Spektakel, jede Neuigkeit geduldig auszuleuchten, zu interpretieren, durchgehen zu lassen als etwas, das sowieso mal Archiv-Teil wird oder schon ist, da es geschieht. Der Schauer erregt momentan. Er legt sich wieder. Der Schauer ist ein krummer Hund, der aufspringt, bellt, um sich an die Füsse des Herrchens zu schmiegen und leise schnarchend einzuschlummern.

Was hat das mit diesem krummen Hund in Oslo zu tun? Ich kann nicht vergessen, was dieses Arschloch mit mir gemacht hat. Als ich im vorigen Jahr an Utoya vorbeifuhr, spürte, dass irgendwas nicht stimmte und am Abend im Hotel von dem Massenmord erfuhr.

Ich vergesse die zwei folgenden Tage nicht, an denen ich mit meiner Liebsten weiterfuhr und loswanderte in die Berge und es war ein Grausam-Vakuum um mich herum. Alles war wirklich. Der Weg unter meinen Füssen. Der See, an dem wir das Zelt aufschlugen. Die Angel, die ich auswarf. Die Pfifferlinge und die Krähenbeeren am Rand des Weges. Alles war irden, alles war dieser Planet. Abend, Berge, Stille. Nicht war wirklich. Alles war diese ungeheuer schöne Welt; eine schön ungeheure Welt?

Ich war verletzt. Es ist eine Verletzung, die nie und nimmer sich messen kann an der Verwundung der Menschen, die ihre Söhne und Töchter verloren; nie und nimmer war meine Verletzung vergleichbar mit den realen Verletzungen, Tötungen, Schlachtungen auf Utoya und in Oslo. Aber auch meine Seele war … sie blutete.

Warum es Menschen gibt, die auf Zerstörung aus sind, weiss ich nicht. Sie gehören zu uns, das ist sicher. Ob sie Kriegsminister, Terroristen, Idioten sind. Ob sie Sadisten, Folterer, Missionare sind. Der Wunsch, sie sollten ausgesiedelt und auf einer Insel unter sich sein, ist ein frommer und unerfüllbar.

Leider erkennt man sie erst mit ihren Taten; würden sie nach der Geburt mit irgendeinem Zeichen zu erkennen sein, wäre es leichter, sie zu separieren. Und mir wäre es scheissegal, ob irgendwelche Moral-Zeterer "never Gulag, never Gulag!" schreien würden. Wieso kein Gulag für Menschen, die unmenschlich sind?

Und selbstverständlich weiss ich, dass eine solche Frage sofort die Fragen-Lawinen auslöst, wer denn entscheiden kann, dass, und ob jemand entscheiden dürfe, dass, und dass schreckliche Irrtümer geschehen könnten, wenn; ich befinde mich in behaglicher Lage, weil der Hobel der Geschichte an mir vorbeischrammt, bis heuer jedenfalls; sicher bin ich nicht, dass auch ich nicht ein Span nur sein könnte. Immerhin musste ich nicht mit 17, 25, 38 Jahren sterben – wie die Menschen in Norwegen, auf einer Insel auf der Welt, wohin diese Schweinebacke fuhr. Übers Wasser, das ich liebe, unter einer Sonne, die ich liebe, Felsen entgegen, die ich liebe … Dieses mörderische Arschloch vergällt mir die Welt.

Eckhard Mieder