Unzureichende Selbstverteidigung – jetzt aus der Zukunft ausbrechen! Disconnect – keep the future unwritten!

Digital

Seit Jahren brechen Wellen eines technologischen Angriffs über uns herein – wir verkennen diesen Angriff als vermeintlich neutrale „technologische Entwicklung“ und spielen bereitwillig mit.

Alles und alle zwangsweise freiwillig vernetzt - und das ist erst der Anfang.
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Alles und alle zwangsweise freiwillig vernetzt - und das ist erst der Anfang. Foto: cp

9. Juli 2015
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Es ist Zeit für eine fundiertere Analyse, es ist Zeit für eine Verschwörung gegen die dramatisch wachsende Fremdbestimmung. Diese Broschüre ist unsere erste Sammlung an Diskussionen und Ideen dazu. Unser Ziel ist die Zurückweisung des smarten Griffs nach unserer Sozialität, Kreativität, Autonomie – unserem Leben. Wir suchen nach Wegen der Selbstbehauptung.

Jetzt aus der Zukunft ausbrechen!

Wir haben mit dem Band I der Reihe „Hefte zur Förderung des Widerstands gegen den digitalen Zugriff“ eine Art Anleitung zur digitalen Selbstverteidigung herausgebracht. Die dort enthaltenen Empfehlungen sind alles andere als „bequem“. Manche halten sie allein deshalb sogar für „nicht alltagstauglich“ – wir halten sie hingegen für absolut notwendig!

Was die Bequemlichkeit angeht, wollen wir den quasi zum Selbstzweck gewordenen Maximen „Komfort“ und „Geschwindigkeit“ eh nicht weiter nacheifern. Sie sind Teil der Sogwirkung jenes Anziehungspunktes vollständiger und „freiwilliger“ Datenpreisgabe, auf den unsere timelines gemäss der Vorstellungen der machtbewussten Technokrat*innen von Google, Apple, Facebook, Amazon, Twitter und Co zusteuern sollen. Deren Zielsetzung einer vollständigen Aufzeichnung und Analyse aller Lebensregungen zum Zwecke ihrer Vorhersagbarkeit und Lenkung deckt sich mit den Interessen ihrer behördlichen „Partner“-Organisationen.

Unzureichende Selbstverteidigung

Die technischen Methoden aus Band I„Tails – The amnesic incognito live system“ halten uns bei elementaren politischen Tätigkeiten, nämlich bei der Kommunikation, der Recherche, dem Verfassen und der Veröffentlichung von sensiblen Dokumenten „eine Weile über Wasser“. Immerhin hat Edward Snowden mit den Werkzeugen exakt dieses Live-Betriebssystems nach seinem Abtauchen kommunizieren können, ohne seine Aufenthaltsorte zu offenbaren. Erfreulicher Weise arbeiten mittlerweile auch Journalist*innen zum Schutz ihrer Informant*innen mit Tails.

Unsere Verweigerung, am digitalen Dauersenden teilzunehmen und unsere Selbstverteidigung gegen den digitalen Zugriff sind jedoch unzureichend bei dem Versuch, uns langfristig der vollständigen Überwachung und der weitreichenden Fremdbestimmtheit zu entziehen. Ein Gegenangriff auf die Praxis und die Ideologie der totalen Erfassung erscheint uns zwingend notwendig.

Leider bedarf es dafür, soll er eine Chance haben, einer Vorhersehung zukünftiger Entwicklungen unsererseits. Denn wir müssen jetzt aus der Zukunft ausbrechen! Wir müssen jetzt ihre Lenkungs-Logik einer BigData-animierten Selbstoptimierung durchkreuzen. Wir müssen jetzt aus ihrer Form von funktionalisierender „Vernetztheit“ ausbrechen und jetzt ihr smartes Instrumentarium unserer Erfassung und unserer zukünftigen Steuerung entlarven und angreifen.

Wir verschwören uns

Warten wir, bis sämtliche Erscheinungsformen und Konsequenzen ihres Angriffs auf unsere Sozialität (all-)gegenwärtig werden, haben wir verloren. Es bliebe uns dann lediglich eine Analyse der vermeintlichen „Entwicklung“ in Retrospektive. Mit Macht vorangetriebene technologische Schübe sind schwer und selten umkehrbar, sobald sie einmal gesellschaftlich durchgesetzt sind und der darüber geprägte „Zeitgeist“ ab da selbstverstärkend für die notwendige Stabilisierung sorgt:

„Der technologische Wandel wird so schnell sein, dass das menschliche Leben unwiderrufbar verwandelt wird.“ (Ray Kurzweil, Chefingenieur von Google)

Dies vorweg an all diejenigen, die unsere nun folgenden Ausführungen für Projektionen in die Zukunft oder gar für „verschwörerisch“ halten – sie sind notwendiger Weise beides: Vorwegnahme ihrer Zukunft und unsere Verschwörung gegen eben diese.

Weisse Flecken

Wir sind uns durchaus bewusst, dass sich die vorgestellten Analysen hauptsächlich auf die Territorien in der Welt beziehen, die einen hohen Grad an “technologischer Entwicklung” aufweisen, meistens sind sie in den sogenannten Metropolen angesiedelt. Doch das Projekt der Gegenseite ist ein globales.

Welche Bedeutung haben die sogenannten Trikontländer, für die Datenverarbeitungs-Arbeiten und in Hinblick auf die Vernutzung von billigen IT-Mitarbeiter*innen in Call-Centern? Was bedeutet die eigene Entwicklung von Software Programmen und deren Nutzung für diese Länder? Ob die formulierten Kritiken einem universalen Anspruch genügen, können wir nicht beantworten. Eine globale Diskussion über die Themen wäre sehr wünschenswert und die Implementierung in bzw. die Auseinandersetzung mit anderen Lebensrealitäten auf anderen Kontinenten ebenso. Wir wollen keinen weissen Blick auf die Verhältnisse forcieren, wir sind uns unseres westeuropäischen Blickes bewusst und wir möchten andere Lebensrealitäten mit in die Diskussion einbeziehen. Uns fehlt vieles Wissen.

Ein weiterer unbearbeiteter Fleck ist der Genderblick bzw. die Frage nach den Auswirkungen der Technologie auf die Geschlechterverhältnisse – welche Auflösungen, welche Zementierungen finden statt, welche geschlechtlichen Konstruktionen und Gewaltverhältnisse werden etabliert oder stabilisiert? Im August 2014 überschrieb die SZ einen Artikel mit “Tal der weissen Männer” – die Rede ist vom Silicon Valley, einem Ort der Macht der IT-Wirtschaft und einem rückständiger Ort: der typische Chef und Mitarbeiter ist männlich, weiss und jung. Bei Twitter arbeiten 70% Männer und 30% Frauen, in der IT-Branche sind 9 von 10 Mitarbeiter*innen männlich.

In der Regel sind auch bei Facebook und Google 2/3 männlich. Wir wollen hier keine biologistische Betrachtung der Geschlechter vortragen, aber die Zahlen sprechen eine eigene Sprache. Weisse sichern im oberen Management ihre Hegemonie ab, der Altersdurchschnitt liegt überwiegend unter 35 Jahren bei Technologie-Unternehmen. Die Kultur einer Industrie ist wie wir wissen, nicht von den Produkten zu trennen, die sie hervorbringt. Wir wagen mit dem Text „Some Unsexy Truths About Silicon Valley” lediglich eine erste skizzenhafte Betrachtung.

Ein weiterer weisser Fleck betrifft die Hardware, um all diese Programme durchführen zu können. Die IT-kritische Diskussion muss die Ausbeutung der Ressourcen in den Blick nehmen, wie z.B. die lebensbedrohliche Kinderarbeit im Ostkongo, um das notwendige Coltan zu gewinnen und die militärisch garantierten Handelswege sowie die Herstellungsbedingungen der Smartphones, Tablets, Laptops etc. mit einbeziehen. Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen sind menschenverachtend, der Lohn reicht kaum zum Überleben, Menschen werden schutzlos Giften ausgesetzt, eine Organisierung verhindert usw. . Foxconn ist eines der grössten Industrieunternehmen weltweit, produziert im Auftrag der grossen IT-Konzerne und lässt die i-Slaves malochen. Das hübsche Smartphone gehört mit diesen Lebensumständen kontrastiert.

Capulcus

Die komplette Broschüre findet sichhier online oder als pdf-download.