Arbeitsethos, Individualisierung & Vereinzelung Über die Schwierigkeiten der Gegenöffentlichkeit im digitalen Zeitalter

Digital

Eingangs wäre zu bestimmen, was Gegenöffentlichkeit ist, was sie sein könnte, welche Perspektiven sie hätte, was ihr Ort und wo sie zu verorten wäre – wir würden damit in eine Diskussion um eine emanzipatorische Medienpraxis hineinstechen, die in dieser Form derzeit allerdings kaum mehr geführt wird.

Über die Schwierigkeiten der Gegenöffentlichkeit im digitalen Zeitalter.
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Über die Schwierigkeiten der Gegenöffentlichkeit im digitalen Zeitalter. Foto: Amadvr / CC BY-SA 3.0 unported - cropped

25. November 2013
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Kurz gesagt beinhaltet die Gegenöffentlichkeit, wie ich sie nach wie vor für sinnvoll und nötig halte, die Produktion von Diskursen und die Verbreitung von emanzipatorischen Inhalten, die quer zum kapitalistischen Mainstream und seinen Paradigmen liegen. Zu nennen wären Stichworte wie Arbeitsethos, Individualisierung & Vereinzelung, Staatlichkeit als Organisationsprinzip & Nationalismus als Identifikationsangebot, Zurichtung der Menschen auf ihre Verwertbarkeit und Reduzierung auf ihre Kaufkraft, Fixierung der Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten auf parlamentarischdemokratische Rituale etc.

Gegenöffentlichkeit ist integraler Bestandteil einer umfassenderen Gegenkultur, welche aus der Verschmelzung von Kommunikation, Alltagsleben, Spontaneität, Kreativität, von Utopie, Verweigerung und sozial-politischem Engagement etc. besteht. Um die Thematik nicht allzu sehr ausufern zu lassen, möchte ich im folgenden die Buch- und Verlagsbranche in den Vordergrund stellen. „Objektiv“ will dieser Text nicht sein – es werden auch einige der Umstände genannt, die zur Beendigung des von mir mit initiierten Anares Buchvertriebes führten, der „Blick zurück im Zorn“ ist sicher spürbar. Wir begeben uns in diesem Text auch in die Niederungen des Kapitalismus und sehen, dass das Alltags- und Konsumverhalten stets ein Politisches ist, und werden dabei auch eine Kritik der digitalen Medien zur Diskussion stellen.

Das Buch der Zukunft?

„Das Schöne am E-Book ist ja, dass man da jetzt die ganzen alten Bücher kostenlos bekommt, die man schon immer mal lesen wollte“, äusserte Antje Schrupp im März 2012 in ihrem ansonsten von mir sehr geschätzten Blog1. Doch ist das Bekenntnis zum E-Book eher ein Glaubensbekenntnis als dass es einer näheren Überprüfung standhielte.

Denn 1. wird weiterhin nicht jedes in den vergangenen Jahrzehnten erschienene Buch als E-Book lieferbar sein, 2. ist das E-Book keineswegs generell kostenlos oder auch nur günstig, 3. erleichtern die digitalen Medien noch die Hegemonie über die ganze Verwertungskette (z. B. über die Abhängigkeit von Lesegeräten und die vermeintliche Entbehrlichkeit von Verlagen) und vergrössern so die Dominanz von weltweit bestenfalls einer Handvoll grosser Konzerne wie Amazon – und schliesslich hat, 4., das Medium weitreichende Folgen für die Produktion von Öffentlichkeit (wir erinnern uns an McLuhans Ausspruch „Das Medium ist die Botschaft“).

Dabei soll es jetzt nicht um kulturpessimistisches Herumjammern gehen – trotz Filmtechnik gibt es noch Theater, trotz Fotografie noch Malerei, trotz Downloads noch Schallplatten etc. So wird es auch künftig Bücher geben – womöglich sogar schönere, da das Medium Buch mittels herausragender Gestaltung seinen ästhetisch-haptischen Pluspunkt wunderbar herausstellen kann. Nur wird das jeweilige„oldstyle“-Medium zum einen vom Habitus her, zum anderen aus Kaufkraftgründen (Handwerk ist teurer, kleinere Auflage auch etc.) zunehmend elitärer. Doch der Reihe nach:

1. Im bisherigen (Print-)Buchmarkt ist ja keineswegs „alles“ publiziert worden. Auch diese Branche war immer auch kapitalistischen Prinzipien unterworfen, doch wurden diese Bedingungen lange Zeit abgefedert durch das kulturelle Ansehen der Bücher, eine relativ stabile Leser*innenschaft, die Preisbindung etc. So wurden etliche Nischen ermöglicht – ich will das hier nicht idyllisieren, einfach war es trotz allem nie –, es gab immer wieder ambitionierte Verlage mit anspruchsvollen Programmen und handwerklich gut gemachten wie gut lektorierten Büchern. Wenn nun „jede*r sein*ihr eigene*r Autor*in“ wird, wird der Buchmarkt vorübergehend sehr unübersichtlich und mehr denn je von schlechten Büchern geflutet. Eine gewisse Qualitätskontrolle ist ja nicht grundsätzlich verkehrt. Selbst wenn „Self-Publishing“ dem einen oder anderen inhaltlichen oder stilistischen Experiment mal eine Chance gibt, ist immer noch die Frage, wie die Information über das Experiment die potentiell Interessierten erreicht. Doch ist dies nur eine mediale Zwischenetappe – im anbrechenden E-Book-Zeitalter ist absehbar, dass die verfügbaren Inhalte mehr denn je auf die Verkäuflichkeit zugerichtet werden.

2. Keine Frage, Kultur sollte bezahlbar bleiben, und ein zu striktes Copyright-System ist nicht mehr zeitgemäss. Doch es ist geradezu obszön, nur noch für Technik bezahlen zu wollen, nicht mehr für die Inhalte. Und, wenig beachtet: Der Umstand, dass E-Books bekanntlich nicht gekauft werden können (es wird eine Lizenz für die Nutzung enthoben) macht die E-Books teils sogar teurer als gedruckte Bücher – wenn sie z. B. mehrmals heruntergeladen werden, ebenso wie für institutionelle NutzerInnen (z. B. Bibliotheken), die von vornherein höhere Grundgebühren zahlen müssen. Gebühren, die dann die wiederum zulasten des Etats für Printmedien gehen (Etatkürzungen, die sich auch für Anares – wir haben aufgrund unseres sehr spezialisierten Angebotes viel mit wissenschaftlichen Bibliotheken aus aller Welt zu tun – bemerkbar machen). Kostenlos geht anders, bezahlt wird sehr wohl, fragt sich nur wie viel, von wem, und für was.

3. Wenn die Marktmacht erst einmal vollends durchgesetzt ist, werden die Lesegeräte teurer. Und nie war es so einfach, aussagekräftige Daten über das Leseverhalten zu erheben – Daten, die verkauft werden können, die aber auch ohne diese Zweitverwertung schon problematisch sind, da dann in Zukunft noch mehr nur (digital) produziert werden wird, was eben auch gewollt, sprich absetzbar ist.

Mehr denn je wird die prognostizierte Reichweite bestimmen, was wir zu lesen bekommen. Um den Preis, dass die Leser*innen gläsern werden. Wer das durch die eigene Mediennutzung noch mitträgt, muss sich jedenfalls nicht mehr um das Agieren von US-Geheimdiensten o. Ä. echauffieren.

4. Der klassische Sortimentsbuchladen wird ebenso tendenziell vom Aussterben bedroht sein wie sein gesellschaftskritischer Ableger in Form linker Buchläden – beide waren ja immer auch ein Stück Kommunikationsort, ermöglichten also unmittelbaren Austausch, Inspirationen, Diskussionen. Das angebliche „social selling“, wie es selbsternannte „Trendsetter“ wie Sascha Lobo gerne propagieren, beschleunigt das Buchhandels- und Antiquariatssterben, es forciert somit auch eine bedenkliche soziale Eruption. Die entstehende Lücke - zumal E-Books vielfach über soziale Netzwerke beworben und verkauft werden, also an den Läden vorbei – werden „E-Book-Stores“ nie füllen. Und vormals halbwegs öffentliche Diskurse werden dann vollends fragmentarisiert.

Sicher, einige Buchläden werden überleben, und sei es in Reservaten wie den „Bücherdörfern“. Doch die Arbeit im Buchhandel, die Stimmung in den Läden wird eine andere: „Wir beantworten nicht mehr Fragen zum Inhalt von Büchern, sondern zur Funktion von E-Readern“2.

Als Bildschirm-Medium wird dem E-Book auch dort, wo es Opulenz zu vermitteln sucht, bestenfalls eine Infotainment-Architektur gelingen, die mehr ablenkt als illustriert oder veranschaulicht. Auch wenn einige Features bei besser gemachten E-Books durchaus mal ihren Reiz haben mögen: Die Tendenz zur Zerstreuung ist dem E-Book immanent, bringen es die neuen visuellen Medien doch mit sich, auch den letzten Anschein von Inhaltlichkeit zu liquidieren. Der Polemik von Hans Magnus Enzensberger gegen das „Nullmedium“ Fernsehen ist hier zuzustimmen, wobei diese Kritik heute zu erweitern wäre.

Glücklicher bloggen?

Soweit zu den E-Books. Natürlich, es muss eben auch nicht „alles“ publiziert werden. Und so manche*r „bloggt“ denn ja auch gerne – es muss nicht alles druckreif ausformuliert werden, es kann schnell auf aktuelle Ereignisse reagiert werden (siehe z. B. „Arabellion“, wo via Blog schnell Tausende zu Kundgebungen mobilisiert werden konnten). Doch auch hier zeigt ein zweiter Blick, dass diese Entwicklung nicht das ist, was wir, denen uns an Gegenöffentlichkeit liegt, wollen können:

· der Druck zur Geschwindigkeit (erste*r sein) zwingt zu vorschnellen Veröffentlichungen, es dominiert dabei oft eine Zuspitzung statt differenzierter Argumentationen

· Falschinformationen werden rasant verbreitet, die Öffentlichkeit so häufig eher desinformiert und hysterisiert als mit kritischen (Gegen-) Informationen versorgt

· eine hohe Schlagwortdichte ist beabsichtigt, um im Suchmaschinenranking möglichst weit oben aufzutauchen, was sich nicht immer schön liest – und die Form bestimmt bzw. dominiert allzu häufig den Inhalt

· ALLES wird geschrieben – doch wer soll es lesen? Und vor allem: wann? Gerade im allgegenwärtigen Geplapper gehen die wichtigen, grundlegenden Inhalte unter.

· Das Konzept Gegenöffentlichkeit wird so tatsächlich obsolet. Und die „leisen“ Printmedien haben in der Aufmerksamkeitsökonomie dabei den schwersten Stand. Zumal viele dem Irrglauben anhängen, sie könnten die gesuchten Informationen ebenso gut im Netz finden. Natürlich, der Blog kann eine sehr sinnvolle Ergänzung sein zum Buch, zur Zeitschrift, zum Radio (wie eingangs schon „gestanden“, lese ich einige wenige Blogs selbst hin & wieder) – aber eben auch nicht mehr.

Wenig beachtet ist die Tatsache, dass auch dieses Medium, wie das gesamte Internet, nicht so demokratisch ist, wie es zu sein vorgibt – global betrachtet artikulieren sich hier die ökonomischen wie Bildungseliten, existierende Machtverhältnisse (die auch zur Meinungsmacht führen) werden daher letztlich tendenziell sogar eher verstärkt3. Dass die vielzitierten „bildungsfernen Schichten“ sich eher dem E-Book als dem Papierbuch zuwenden, ist einer der zahlreichen IT-Mythen.

Es braucht insofern keine hellseherischen Fähigkeiten: Wenn die Printmedien in ihrer Verbreitung abnehmen, können sich populistische Stimmungen und Meinungsmanipulationen besser durchsetzen – die Ware Information wird immer mehr zur unmittelbaren Werbung, wenn niemand mehr für Lektorate, Journalist*innen etc. bezahlen will. Klar, „kostenlose Inhalte“, wie es Google & Co. suggerieren und z. T. auch durchgesetzt haben, das klingt erst einmal attraktiv.

Vergessen wird allerdings, dass es nicht zuletzt Sinn der grossen IT-Firmen ist, Daten zu sammeln (sie sind deren Kapital, nur so können sie diese Dienste anbieten) – und sie dabei vielfach mit Geheimdiensten wie dem NSA zusammenarbeiten. Und am Ende dieser Entwicklung werden Amazon (Gründer Jeff Bezos hat aus seinem Privatvermögen schon mal die Washington Post gekauft), Facebook, Google etc. die neuen Nachrichtenportale sein – und die einzigen. Nicht schwer auszudenken, was sie gedruckt haben wollen. Auch wenn Meinungsfreiheit schon immer ein Mythos war: Besser wird's nicht.

Subversives Rascheln

Das Buch ist „gewissermassen der Anarchist unter den heutigen Massenmedien“, sagten die Kolleg*innen von der – inzwischen leider auch eingestellten – „Basis Buchhandlung“ in München angesichts dieser Entwicklung einmal. Wild und unberechenbar. Lesen, verstanden im Kontext von Gegenöffentlichkeit, ist insofern nicht zuletzt Widerstand, ein Akt des Verweigerns – wir lesen nicht für etwas, sondern gegen, sind „Ausreisser, die im Begriff sind, geboren zu werden“4.

Lesen ist, wo es als Leidenschaft begriffen wird, immer auch ein Akt von Befreiung, von Freiheit. Das Lesen von Büchern lässt noch Raum für eigene – nicht so umstandslos wie bei den digitalen Medien kontrollierbare – Gedankengänge und Verknüpfungen. Das Buch will in dem Tempo erkundet werden, dass die Leser*innen ihrer Lektüre geben – nicht im Rhythmus der Maschinen und ihrer flimmernden, stetig wechselnden Bilder, dem Rauschen ihrer pausenlos abgesonderten Töne.

Das Buch ist bei alledem ein*e sanfte*r Anarchist*in, vergleichsweise unaufgeregt gegenüber dem Zwang der neueren Medien zu Aktualität, aufsehenerregenden Hypes, Suchmaschinen-Rankings etc. Das Internet hat diesen „anarchistischen Charakter“5 schon lange nicht mehr. Und das gilt aus der Konsument*innen-Perspektive ebenso wie aus jener der Herstellenden: Wer hilft Autor*innen und Verlagen künftig über 2, 3 wirtschaftlich „schlechte“ Bücher hinweg? Bevor auch im Verlagssektor der Renditedruck alles überrollte, war die sogenannte Mischfinanzierung (besser laufende Titel ziehen mal ein im Verkauf floppendes Werk mit sich) selbstverständlich.

Digitale Verstörung - Error

Der Medienphilosoph Vilém Flusser hat einmal betont, dass wir es seit der Digitalisierung zugleich mit einer neuen Denkart zu tun haben, die „keine prozessuelle, aufklärerische, kritische mehr ist“, so dass „die Welt, der Mensch, die Gesellschaft nicht mehr als zu verändernde Gegebenheiten erscheinen“6 – was natürlich auch eine sehr fatalistisch klingende Betrachtung ist. Doch auffallend ist der Bankrott jeglichen kritischen Denkens schon: Wozu braucht jemand 100 Paar Schuhe?

Bücher jedoch werden als „Ballast“ empfunden – so wurde es uns oft gesagt, wenn man uns gebrauchte Bücher zum Kauf anbot (hat sich aber, man lebt im „Land der Dichter und Denker“, gescheut, sie „einfach wegzuwerfen“, denn „das bringe ich nicht über das Herz“). Als Anstrengung wird das Lesen eines Buches häufig begriffen – nicht das stundenlange „surfen“ im Netz. Ein Buch lesen?

Innehalten, reflektieren, resümieren? Keine Zeit! So wird es wohl kaum etwas mit dem „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, als die Immanuel Kant den Prozess der Aufklärung einmal bezeichnete. Und so ist die Beratung im Buchhandel vielerorts nicht mehr gewollt – sie wird, ebenso wie die von den Buchhändler*innen getroffene Vorauswahl („Zensur“!) der angebotenen Bücher, eher als „bevormundend“ denn als inspirierend und hilfreich empfunden.

So hatten wir auch im Buchladen viele Kunden, die „das eine“ Buch wollten, sich auf keine Hinweise links und rechts des Regals einlassen wollten. Dabei finden wir im Netz nur, was wir suchen (die „Kunden, die dieses Produkt gekauft haben...“-Funktion hilft nicht wirklich weiter) – im Buchladen können sich dagegen ganz neue Türen öffnen. Jedenfalls für die, die bereit sind, ausgelatschte Pfade zu verlassen. Doch das sind nur wenige, zu wenige. Die innere Konditionierung hin auf die mystisch verklärten neuen Medien ist eben schon weit vorangeschritten.

Friedliche Koexistenz?

Dieser Text ist mit dem Feuer der Wut und einem kopfschüttelnden Unverständnis denen gegenüber geschrieben, die mit einer gehörigen Portion Dummheit und Naivität die neuen Medien verklären. Doch soll hier nicht der Eindruck entstehen, ich würde diese Entwicklung verteufeln und die darin steckenden Möglichkeiten ignorieren. Um ein Beispiel zu nennen: Das Neuartige des am 1. Januar 1994 begonnenen zapatistischen Aufstandes im südmexikanischen Chiapas als im Grunde „erster Revolution des 21. Jahrhunderts“ liegt nicht zuletzt darin, dass hier erstmals die Bedeutung des Internet für die internationale Kommunikation sehr klar erkannt und aufgegriffen wurde.

Und natürlich bietet die Tatsache, dass die vorliegende Zeitung auch in digitaler Form erscheint, die Chance, Menschen zu erreichen, die sie ansonsten nicht gelesen hätten. Aber die Zapatist*innen wissen sehr wohl um die Bedeutung der direkten Kommunikation (und laden daher z. B. immer wieder zu „intergalaktischen“ Treffen ein), und diese Zeitung erscheint eben AUCH digital, während vielerorts heute der Eindruck erweckt wird, der unmittelbare Austausch und die traditionellen Medien seien überholt und überflüssig.

Insofern habe ich hier versucht, eine meines Erachtens zu wenig beachtete Problematik aufzuzeigen, die darin liegt, dass wir einer Illusionsmaschine erliegen (die die neuen Medien darstellen, wenn wir zu unreflektiert mit ihnen umgehen), mittels derer wir unserer Bewusstsein in Teilbereiche zerlegen – analog etwa der Zerlegung der Arbeit in häufig nicht mehr miteinander vermittelte Einzelschritte im Zuge der Industrialisierung. Das „Natürliche“ im Umgang des sozialen Wesens Mensch und die Sinnlichkeit drohen dabei verloren zu gehen, wir machen uns zu Techno-Androiden, die sich in der gegenwärtigen Informationsgesellschaft permanent selbst überfordern.

Wir entfernen uns damit von den Möglichkeiten, die die Technik bietet – vielleicht mangelt es uns einfach an der Medienkompetenz? –, rücken von den eigentlichen Anliegen ab (jedenfalls, wenn es uns mit der emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung ernst ist) und begeben uns in eine gefährliche Abhängigkeit von Informationsriesen, die unser Denken und unsere Arbeitswelt auf den Kopf stellen. Damit feilen wir selbst an unserer eigenen Entmündigung. Diese Entmündigung ist keineswegs auf den Medienbereich beschränkt, lässt sich aber anhand der Entwicklung von Journalismus und Buchbranche besonders deutlich nachvollziehen.

Insekten & Grosskatzen

Der US-Multi ist eine Hegemonialmacht, die in allen Bereichen des Buchmarktes dominante Positionen zu erobern versucht (die aggressive militärische Begrifflichkeit ist hier angebracht). Ist diese Position erreicht, werden die Preise – siehe derzeit die Amazon-Buchpreise in den USA – dann kräftig nach oben gedrückt. Davon, wie der Konzern Steuern umgeht, will ich hier gar nicht reden – schliesslich haben Staaten diese Möglichkeiten mit ihrer Steuerpolitik selbst geschaffen, ebenso wie die Grundlagen für die umfassende Leih- und Zeitarbeit.

Dass der Konzern jedes Jahr wieder Tausende von Arbeitslosen „probeweise“ unbezahlt im Weihnachtsgeschäft malochen lässt - geschenkt. Problematisch und doch vielen Kund*innen unbekannt ist:

1. dass viele Anbieter*innen schlicht ökonomisch abhängig sind von den Umsätzen, die auf den Amazon-Plattformen (hierzu zählen u. a. auch Abebooks und ZVAB) sind;

2. dass Amazon aufgrund seiner Vorgaben (Bestellungen sind innerhalb 24 Stunden zu bearbeiten) den Anbieter*innen dann eine 7-Tage- Woche aufnötigt; 3. dass Amazon sämtliche rechtliche Risiken den Anbieter*innen aufdrückt und diese so u. a. teuren Abmahnungen aussetzt;

4. dass Amazon sehr hohe Gebühren hat, die einerseits die Preise eher steigen liessen – andererseits aber durch einen hohen Konkurrenzdruck und die (jüngst gefallene) sog. Preisparität den Anbieter*innen ein ruinöses Preislevel aufnötigt, mit dem schlicht keine akzeptablen Löhne mehr gezahlt werden können;

5. dass Amazon auch den Verlagen wesentlich höhere Rabatte als diese den Buchläden einräumen können, regelrecht aufdiktiert (es ist schwierig bis unmöglich für die meisten Verlage, auf diesen Verkaufskanal zu verzichten);

6. dass Amazon die profitablen und unkomplizierten Umsätze macht – und BuchhändlerInnen vor Ort nur noch die aufwendigen Kleinbestellungen ausführen können, z. B. wenn ein Titel nicht bei Amazon lieferbar ist.

Wie heisst das afrikanische Sprichwort: „Der Floh macht Löwen mehr zu schaffen als Löwen dem Floh“. Ergo: Mehr Flöhe braucht es. Und mehr Stiche.

Buch und Handlung

Der Anspruch von linken Buchläden war stets, Bücher anzubieten, die es anderswo – zumindest in diesem Umfang – nicht gibt. Die meisten dieser Läden wollten über den Buchverkauf hinaus auch Funktionen eines kleinen sozialen Zentrums wahrnehmen: Buskarten zu Demos verkaufen, Plakate und Flyer zum Mitnehmen auslegen, eben Treffpunkt sein, Kommunikation und Diskussion anregen. Damit sind diese Läden (deren Hoch-Zeit ohnehin schon rund 30 Jahre zurück liegt, als ein gemeinsamer „Verband linker Buchläden“ einmal über 100 Mitglieder hatte)7 neben der hier ansatzweise skizzierten ohnehin schwierigen Entwicklung auch noch von ihrem ideellen Umfeld abhängig.

Wo es schon als Erfolg gilt, wenn die Zahl der Buchhandlungen halbwegs konstant bleibt, ist die Situation für Buchläden aus dem linken Milieu erheblich schwieriger, weil das Umfeld a) seit Jahren – vorsichtig gesagt – zahlenmässig stagniert,

b) besonders medienaffin ist und insofern sich auch viel über das Internet informiert,

c) auch entsprechend viel über das Internet kauft (politisches Kaufbewusstsein wie vor ein paar Jahrzehnten, wo man auch einen Umweg zu „seiner“ Buchhandlung in Kauf nahm, existiert nicht mehr) und

d) vielfach auch ökonomisch besonders prekär und von den sozialpolitischen „Reformen“ der letzten Jahre überproportional betroffen ist.

In dieser Situation gibt es, von den USA ausgehend, eine zunehmende „localism“-Bewegung (hierzulande „buy local“), mit der den Kund*innen die Vorteile des unmittelbaren Kaufens in Fachgeschäften vor Ort nahegebracht werden soll. In manchen Appellen, etwa wenn „wir verantwortlich für unsere Stadt“ sein sollen, schwingt zwar auch ziemlicher Unsinn mit, doch ansonsten ist es schliesslich eine feine Sache, wenn Menschen wieder miteinander in eine direkte Beziehung treten – und beinhaltet in jedem Fall Möglichkeiten.

„Think global, act local“ war gar mal eine bekannte linke Parole (und Aufforderung!). In Ländern wo die Preisbindung existiert, ist nicht einmal der Preis ein Argument, die grossen Ketten (deren Wettrennen um immer mehr und immer grössere Buchkaufhäuser in den Städten allerdings auch erstmal beendet scheint) immer weiter zu bereichern. Die – glauben wir den Medienberichten – verbreitete „diffuse Wut“ gegen „den Kapitalismus“ etc. führt bisher nämlich kaum zu praktischen Konsequenzen.

„Tauchen auch noch so viele eso-faschistische oder rechtsradikale Publikationen im Programm von Vertrieben wie Amazon auf, bestellt der linke Historiker oder die junge Antifafrau dort doch ungebrochen, hält aber die Erhebung eines Eintrittspreises für Veranstaltungen in einer linken Buchhandlung für kapitalistisches Teufelswerk“, monierte desillusioniert eine linke Buchhändlerin8. „Buy local“ ist insofern eine Erinnerung: Manchmal muss mensch sich eben nur mal wieder ein bisschen physisch bewegen. Mal vom Bildschirm weg gehen und vor die Tür treten. Ab und zu ist das schon eine ganze Menge: Als wir unseren Buchladen hatten, haben viele Kund*innen via Internet bei uns bestellt, die 1 oder 2 Strassen weiter wohnten. Sie hatten gar nicht realisiert, bei wem sie kauften. Wenn die ganze Welt nur wenige Klicks entfernt ist, wird das Agieren manchmal reichlich kopflos.

Einige Gründe, warum die Zukunft ohne Anares stattfindet Angesichts des Geschriebenen wird es nicht erstaunen, dass die Luft bei Anares heraus ist (wenn hier von Anares die Rede ist, ist nicht die ehemalige Föderation gemeint, sondern Anares in Bremen). Weder finanziell noch motivatorisch macht es für uns derzeit Sinn, das Projekt weiterzubetreiben. Kann sein, dass Jüngere dies anders sehen, sie mehr Elan und ein paar frische Ideen haben und auch mal wieder einen neuen libertären Medienvertrieb starten. Sie sollten sich aber in keinem Fall Illusionen über die schwierigen Rahmenbedingungen machen. Einige gehen aus diesem Text schon hervor (z. B. der Druck, mit Firmen wie Amazon zusammenarbeiten zu müssen, auch das geänderte Mediennutzungsverhalten), andere möchte ich hier nochmal kurz stichpunktartig zusammenfassen:

Der Preisverfall schreitet stetig voran. Das mag vordergründig für die KäuferInnen angenehm sein. Welchen Ankaufspreis sollen wir aber jemandem zahlen, wenn zu befürchten ist, dass das Buch womöglich 3, 4 oder auch 5 Jahre am Lager liegt und dann andere Anbieter*innen es für ein Fünftel des ursprünglich angesetzten Preises anbieten (was kein Einzelfall ist)? „Sie haben kein Bücherangebot, sondern ein Entsorgungsproblem“, heisst es dann oft unter Kolleg*innen. Doch wie sollen wir uns selbst angesichts dieser Entwicklung noch halbwegs akzeptable Löhne zahlen? So ist es kurzsichtig, sich über den Preisverfall zu freuen – sichtbar ist, dass als erstes gerade die engagierten Buchläden und Antiquariate schliessen. Die Orte, an denen sich Menschen über widerständige Inhalte und Praxen informieren und verständigen können, schwinden damit dahin.

Die Preisgestaltung ist völlig entkoppelt von einer inhaltlichen Wertigkeit: Das gute aufklärerische Werk oder die schön gemachte Erstausgabe eines*einer Exilautor*in bringt kaum mehr Geld rein, so manches fürchterliche esoterische Buch könnte (und müsste eigentlich auch, ökonomisch betrachtet) man dagegen für viel Geld anbieten – solange es nicht doch jemand einen Cent billiger (automatische Preisanpassungstools sind zunehmend verbreitet) anbietet. Forciert wird die Preisentwicklung von Privatanbieter*innen („wir entrümpeln Omas Dachboden“) aber auch von „sozialen Betrieben“, die mit 1-Euro-Jobs etc. arbeiten – finanziell nur überleben zu können, wenn man letzteres auch mitmacht, kann es nicht sein.

Die Tendenz geht somit zu entweder a) automatisiertes Einscannen der Bücher (Massenware & Fliessbandarbeit) z. B. von Gefangenen im Knast (machen Kolleg*innen!) o. Ä. im Billigbereich oder b) nur noch seltene, d. h. höherwertige und teure Ware anbieten. Ersteres ist indiskutabel, und an die teuren Sachen kommt man eben auch nicht mal eben so heran – zudem wäre eine Entwicklung Richtung Edel- Antiquariat nicht das, wofür Anares stand, wollten wir doch immer primär Literatur vermitteln, die „ein Werkzeug zu Aufklärung und Veränderung“ sein sollte, wie wir es 2004 mal formulierten.

Man arbeitet bald rund um die Uhr, um das Projekt aufrechterhalten zu können - „Das ist nur auszuhalten, wenn es einem Spass macht“, zitierte die gewiss nicht müssiggängerische Frankfurter Allgemeine mal einen Kollegen9. Dabei haben wir mal das „Recht auf Faulheit“ gedruckt und wollten gegen die Arbeit kämpfen... Und: was heisst schon Spass? „Wir sind alle Sklaven des Internet“, äussert im selben Artikel ein Kollege – was auch bedeutet: Die Kund*innen werden immer fordernder, erpressen einen mit „sonst gehe ich zu Amazon“, Ungeduld und Unhöflichkeit sind alltäglich und wenig erquicklich.

Bewusst haben wir im Jahr 2000 einen Buchladen gegründet, der jedoch nicht wie gewünscht (und ökonomisch nötig) angenommen wurde – aber es gab natürlich hier und da persönlichen Austausch, wir organisierten Veranstaltungen etc., Dinge, die heute fast völlig fehlen: Uum einen, weil wir es nie geschafft haben, das stabile Netzwerk zu bilden, das Anares eben auch regelmässig nutzt und entwickelt, Veranstaltungen mit konzipiert und durchführt etc., und so viele uns an sich wichtige Pläne nie realisiert wurden, was auch schon mal unbefriedigend ist. Zum anderen findet die Arbeit beinahe ausschliesslich am Computer statt – schon von der Arbeitsform her eine starke Entfremdung, ein täglicher Widerspruch zu den eigenen Hoffnungen und Bedürfnissen, der zunehmend weniger auszuhalten war.

Anares sollte und wollte immer mehr sein als eine Buchverkaufsstelle. Wir wollten „Sand im Getriebe der herrschenden Macht und ihrer Anmassungen“ sein, wie wir es 2004 auf die damalige Homepage schrieben. Anares verstand sich als Scharnier libertärer Infrastruktur, der Vertrieb sollte nicht primär ein ökonomisch, sondern vor allem ein politisches/ kulturelles Projekt sein, dass in gesellschaftliche Entwicklungen intervenieren sollte, und sei es durch Bereitstellung von Informationsmaterial, die Erstellung von Literaturlisten zu wichtigen Themen, die Durchführung von Büchertischen etc.

Dies gelang eigentlich nie im erhofften Umfang – seit sich Anfang der 2000er Jahre auf breiter Ebene durchsetzte verschärfte sich diese Kluft zum Anspruch. Denn seither wurden wir wie oben beschrieben zu Sklav*innen, denen es in der aufgenötigten Rastlosigkeit nicht mehr gelang eigene Akzente zu setzen. So gab es keine Möglichkeiten mehr, inhaltliche Positionen und unseren Widerspruch vehementer und öffentlich wahrnehmbarer deutlich zu machen.

Abschliessend sei nochmal aus dem Jahr 2004 zitiert, wobei es bitter ist, die letzten Jahre trotz aller Kämpfe von dieser Vision nur immer weiter entrückt zu sein: „Denn das Spektakel ist das Gefängnis unserer wahren Bedürfnisse & Wünsche. Das gesellschaftliche Leben befindet sich im Geiselgriff der Warengesellschaft, die das Leben enteignet und eine leere, seelenlose Hülle zurücklässt... Werfen wir die Fernseher aus dem Fenster raus & schlagen wir die Bücher wieder auf!“

Wenn Frust über die Lust dominiert, und das über Jahre, heisst es einen Schlussstrich zu ziehen. Und letztlich waren es einfach zu viele Kröten, die wir schlucken mussten. Widerspruchsfrei ist das „richtige Leben im Falschen“ nie, vermutlich auch nicht richtig. Höchstens richtiger. Und mit den Jahren wurden die Widersprüche mehr statt weniger.

Doch mit den dargestellten Problemen stehen wir nicht alleine da. Umso bedauerlicher ist es, dass offensichtlich auch in linken/ libertären Kreisen das Denken schon so weit individualisiert ist, dass kollektive Organisationsmodelle gegen die um sich greifenden Zumutungen gar nicht mehr gedacht – geschweige denn umgesetzt – werden. Ob es dann anders gekommen wäre? Wer weiss. So hatten wir das Gefühl, immer isolierter gegen die Windmühlen der Barbarei, der Missachtung, des Desinteresses und der Ignoranz anzukämpfen. Doch auch Don Quijote wird einmal müde.

Was bleibt

Wichtiger werden sowohl für die Autor*innen (um sich wahrnehmbarer zu machen und so – mangels Buchläden – die Verkäufe anzuheben) wie für die Buchläden (der Bindung von Kund*innen wegen, und weil es eben auch Spass macht & Sinn gibt) Veranstaltungen rund ums Buch. Literatur live, das ermöglicht wieder Unmittelbarkeit, kollektive Prozesse, die Interaktion mit den Lesenden. Kurzum: Das, was wir mit unserem Bremer Buchladen seinerzeit (2000-2006) auch anstossen wollten – hier & da vielleicht auch getan haben. So hat das Download-Zeitalter wie in der Musik (es gibt in etlichen Gegenden seit ein paar Jahren eine sehr agile Live-Szene) auch im literarischen Feld seine positiven Nebeneffekte.

Wenigstens solange es die Orte dafür gibt – ein Grund mehr, sich für gute Buchläden ebenso einzusetzen wie für selbstbestimmte Kulturzentren etc. Was hier und da - z. B. wenn etwa ein Buchladen durch stark steigende Mieten bedroht ist und es Demos für seinen Erhalt gibt – tatsächlich auch schon geschieht. Tropfen auf den heissen Stein bisher, sicher. Aber mehr als nichts. Und wenn das Wasser lange genug den Stein höhlt, kommt er zum Vorschein, der Strand, der unter dem Pflaster liegt. Zum Schluss bleibt noch der – wenn auch schwache - Trost: die Retro- Bewegung z. B. bei Tonträgern – zurück zum Vinyl – „zeigt, dass nicht jede Medienrevolution unumkehrbar ist“10.

Gerald Grüneklee / Gǎi Dào

Fussnoten:

1. http://antjeschrupp.com/2012/03/05/louise-ottos-roman-%E2%80%9Eschloss-undfabrik/

2. so die Buchhändlerin Milena Pantelouris im Magazin „jetzt“, No. 03/12, S.6

3. http://www.hagalil.com/archiv/2011/06/10/internet-10/

4. vgl. Daniel Pennac: Wie ein Roman – Von der Lust zu lesen, München 1998, S. 90f.

5. der damalige Geschäftsführer der Piratenpartei, Christopher Lauer 2010 in der taz

6. zitiert nach einem Flyer der projektgruppe neue musik bremen, September 2000

7. Uwe Sonnenberg: Geburt aus dem Geist der Mensa-Verkaufstische, taz, 1.6.2013

8. Antje Westermann, in: Contraste, Oktober ´09, Heidelberg 2009, S. 5

9. FAZ, Ausgabe Rhein-Main, 23.8.2013

10. Michael Roseler-Graichen: Digitales Publizieren – Stand und Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr.41-42/2012